| # taz.de -- Menschen nerven Menschen: Die Gemeinschaft der Stachelschweine | |
| > Minderjährige in den Frachtraum? Wer Kinder bei Flugzeug- oder Bahnreisen | |
| > separieren möchte, sollte lieber ganz zu Hause bleiben. | |
| Bild: Ein schreiendes Baby foltert einen Privilegierten – und umgekehrt | |
| Pilotinnen sind zum Fliegen da, das liegt auf der Hand. Sie bringen uns | |
| heil hoch, hin und wieder runter. Die wahre Aufgabe von Flugbegleitern | |
| allerdings geht weit über das Hinweisen auf Notausgänge und das Ausschenken | |
| von Tomatensaft hinaus. Die ruhige und routinierte Präsenz dezent | |
| uniformierter Stewardessen und Stewards dient einzig dazu, die Passagiere | |
| über den bizarren Umstand hinwegzutäuschen, dass sie gerade in einer dünnen | |
| Blechröhre mit 800 Stundenkilometern in einer Höhe von zehn Kilometern | |
| dahinrasen. | |
| Statistisch gesehen das Schlimmste, was einem Vielflieger passieren kann, | |
| ist nicht das Luftloch, nicht die russische Boden-Luft-Rakete, nicht ein | |
| suizidaler Pilot – es ist ein Baby an Bord. Wir sind es gewohnt und haben | |
| dafür bezahlt, dass unsere Raserei möglichst reibungslos abläuft, bei einem | |
| guten Wein und Bordkino, vielleicht bei einem anregenden Gespräch mit dem | |
| Sitznachbarn. Ein mal brüllendes, mal quengelndes oder auch vor Freude | |
| fiependes Kleinkind nervt schon in der U-Bahn. Auf einem Flug von | |
| vielleicht drei oder fünf Stunden ist es das „worst case scenario“. Folter. | |
| Hohe Zeit also, dass endlich eine Airline reagiert. Die indische | |
| Billigfluggesellschaft IndiGo hat nun reagiert und „kinderfreie Zonen“ | |
| eingerichtet. Gut so. Gut auch, dass diese Zonen sich im „Premium“-Bereich | |
| befinden. Ruhe ist eine Ware und wie alle Waren für einen gewissen Preis zu | |
| haben. Ein Trend kündigt sich an. So hat der US-Anbieter Jetblue schon im | |
| Juni allen Passagieren eines Flugs von New York nach Kalifornien das Geld | |
| für die Tickets zurückbezahlt. Im Rahmen einer PR-Aktion sollten einmalig | |
| für jedes brüllende Baby 25 Prozent erstattet werden – es brüllten fünf. | |
| Ein guter Schritt, aber nur ein Anfang. Gegen Aufpreis sollte man sich von | |
| Menschen mit aufdringlichem Körpergeruch oder auch Parfüm separieren | |
| dürfen. Gleiches gilt für Leute, die allzu arabisch aus der orientalischen | |
| Wäsche gucken – sollen sie doch auf einem fliegenden Teppich ihr Ziel | |
| erreichen. Und wenn wir von Kindern reden, sollten wir über Behinderte | |
| nicht schweigen. Bisweilen sabbern und brabbeln und strampeln die auch, was | |
| gerade Vielflieger um den verdienten Schlaf bringen könnte. Erst im August | |
| berichteten die Eltern einer geistig behinderten Achtjährigen, wie sie an | |
| Bord von einer anderen Passagierin angebrüllt wurden: „Shut that child up!“ | |
| ## Die Einheitsfront der Angepissten | |
| Längst also tobt der Kulturkampf um die Separation, also das Wegschließen | |
| der kleinen Schreihälse. Anerkannte Intellektuelle machen aus ihrer Freude | |
| über diesen zivilisatorischen Fortschritt keinen Hehl. So forderte der | |
| ehemalige „Top Gear“-Moderator und erklärte Macho Jeremy Clarkson, Kinder | |
| müssten – wie andere Tiere auch – in den Frachtraum verbannt werden. Im | |
| Guardian brachte es die (laut Selbstbeschreibung) „schlecht gelaunte, | |
| mittelalte Lesbe“ und Kolumnistin Julie Bindel auf den Punkt: „Bekommt | |
| Kinder, habt Freude an ihnen – aber haltet sie davon ab, mich zu nerven.“ | |
| Hier formiert sich eine interessante Einheits-, wenn nicht sogar Querfront | |
| der Angepissten. Interessant, weil diese Front ungeachtet aller | |
| identitätspolitischen Differenzchen einen gemeinsame Gegner kennt – den | |
| Anderen. Wir gehen uns auf die Nerven, weil die Nerven blank liegen. Und | |
| das tun sie nirgendwo so sehr wie im Flugzeug oder im Bahnabteil, also | |
| einer komfortablen Extremsituation. Handelt es sich aber bei unserer | |
| Gesellschaft nicht auch um eine komfortable Extremsituation? Und geht es | |
| auf beiden Ebenen nicht am Ende um die soziale Frage? Um die | |
| Klassenzugehörigkeit? | |
| Mit steigendem Flugverkehr ist „Air Rage“, also das Austicken über den | |
| Wolken, ein immer größer werdendes Problem. Laut einer Umfrage der Harvard | |
| Business School entzünden sich 84 Prozent der Konflikte auf den billigen | |
| Plätzen der Economy Class – also dort, wo die Leute ohnehin | |
| zusammengepfercht hocken. Nur logisch, dass vom Angebot der indischen | |
| Fluggesellschaft nur Business-Class-Passagiere profitieren werden, mithin | |
| Angehörige der gehobenen Kaste. Die Privilegierten haben also nicht nur | |
| mehr Beinfreiheit, sie haben auch eine erweiterte Privatsphäre. | |
| In der Stadtplanung sind derlei Kräfte bereits zu besichtigen. Auf der | |
| einen Seite dürfen Einwohner sich in „sozialen Brennpunkten“ gegenseitig | |
| die Schädel einschlagen, während die „Business Class“ des Lebens in „Ga… | |
| Communities“ haust. Es durchdringt die Separierung nicht nur transitorische | |
| Räume und Verkehrsmittel, sondern längst auch den öffentlichen Raum. | |
| ## Umstellt von den angeblichen Privilegien der Anderen | |
| Hinzu gesellt sich eine neue Freude am Denunzieren, im fröhlichen | |
| neusoziologischen Jargon auch „Passenger Shaming“ genannt. In sozialen | |
| Netzwerken kann ich alle Verfehlungen des Anderen teilen – mit wiederum | |
| „Anderen“, die ich tendenziell meiner Klasse zuordne. Auf diese Weise kann | |
| selbst ein so profaner Ort wie das Abteil in der U-Bahn unversehens zum | |
| Schlachtfeld ideologischer Auseinandersetzungen werden. Man denke nur an | |
| das breitbeinige Sitzen von Männern, das vor einer Weile als „Manspreading“ | |
| kurzfristig Furore machte – weil es als Ausdruck hegemonialen Verhaltens | |
| „gelesen“ wurde. | |
| Vielleicht besteht das Problem am Ende genau darin, dass wir uns | |
| gegenseitig nicht mehr „lesen“ können oder wollen. Jedes fremde Bedürfnis | |
| schränkt mein eigenes Bedürfnis nach Entfaltung ein. Wir fühlen uns, | |
| privilegiert wie wir sind, umstellt von den angeblichen Privilegien der | |
| Anderen. Wieso kann ich mir Ruhe nicht kaufen, wo ich mir doch sonst alles | |
| kaufen kann (Clarkson)? Warum dürfen Eltern an der Schlange am Schalter | |
| vorbeigehen, nur weil sie ihrer heteronormativen Reproduktionspflicht | |
| nachgekommen sind (Bindel)? | |
| In einer legendären Parabel beschreibt Arthur Schopenhauer die Menschen als | |
| eine Herde von Stachelschweinen an einem kalten Tag. Sie frieren, wenn sie | |
| einen zu großen Abstand voneinander halten. Und sie pieksen sich | |
| gegenseitig, wenn sie wärmende Nähe suchen. Je kälter es wird, desto mehr | |
| stachelt es. Wer das nicht aushält, sollte sich der Gemeinschaft komplett | |
| entziehen. Die Notausgänge sind bekanntlich mit dem Wort „Exit“ | |
| gekennzeichnet. | |
| 17 Oct 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Arno Frank | |
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