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# taz.de -- Sexueller Missbrauch in der Türkei: Verschleppungstaktik der Regie…
> Die Rechtslage zu Sex mit Minderjährigen ist unklar. Die Regierung
> begründet die fehlende Neuregelung mit Arbeitsüberlastung.
Bild: Straffreier Sex mit Kindern? Von wegen! Hürriyet informiert am Wiener Fl…
Istanbul taz | Seit Wochen schwelt in der Türkei eine Debatte über
sexuellen Missbrauch von Minderjährigen. Diese hat in den vergangenen Tagen
eine neue Dimension bekommen. In Istanbul wurde ein 73-jähriger Mann
verurteilt, weil er sich an einer 12-Jährigen vergangen hatte. Der Fall war
klar, die Schuld unstrittig. Der Mann wurde zu 16 Jahren Haft verurteilt.
So weit so normal. Doch in der Türkei ist im Moment wenig normal. Am Ende
der Verhandlung ging der Mann trotz der Verurteilung nicht ins Gefängnis,
sondern nach Hause.
Das Gericht machte dafür eine ungeklärte Rechtssituation verantwortlich.
Denn Gerichte überall in der Türkei stellen sich zur Zeit die Frage: Ist
Sex mit Minderjährigen überhaupt noch strafbar?
Der Grund dafür ist ein Urteil des Verfassungsgerichts vom Juni dieses
Jahres. Auf Antrag eines Bezirksgerichts aus Bafra, einer konservativen
Stadt an der Schwarzmeerküste, entschied das Verfassungsgericht, dass das
geltende Recht, nachdem jede sexuelle Handlung mit Minderjährigen unter 15
Jahren mit mindestens acht Jahren Haft bestraft werden muss, so nicht mehr
gelten soll.
Damit folgte das Verfassungsgericht mit knapper Mehrheit der Argumentation
der unteren Instanz. Diese ist der Meinung, es müsse ein Unterschied
gemacht werden bei Kindern zwischen 12 und 15 Jahren und noch jüngeren
Kindern. Kinder zwischen 12 und 15 Jahren könnten den Sinn sexueller
Handlungen erfassen und dem möglicherweise zustimmen.
## Vielleicht zu Unrecht im Gefängnis
Das Verfassungsgericht beauftragte die Regierung, innerhalb von sechs
Monaten das Gesetz zu überarbeiten. Offiziell ist das alte Recht noch in
Kraft, aber das Istanbuler Gericht stellte sich nun auf den Standpunkt, der
verurteilte 73-jährige Mann würde vielleicht zu Unrecht im Gefängnis
sitzen. Und zwar dann, falls im Januar, wenn nach Ablauf der Frist ein
neues Gesetz kommt, sexuelle Handlungen mit Kindern zwischen 12 und 15
Jahren straffrei gestellt würden. Deshalb konnte der Täter erst einmal nach
Hause gehen.
Diese Entscheidung löste heftige Proteste aus. Die Tageszeitung
Hürriyetmachte daraus ihre Schlagzeile, Frauenverbände und
Menschenrechtsorganisationen protestierten. Nach zwei Tagen Debatte musste
der ältere Herr dann doch erst einmal in den Knast.
Denn auch der türkischen Regierung war die Entscheidung peinlich. Hatte sie
doch noch im vergangenen August Anschuldigungen aus Österreich und Schweden
entrüstet zurückgewiesen, die genau die mögliche Straffreiheit für Sex mit
Kindern kritisiert hatten.
Mitte August hatte die schwedische Außenministerin in Bezug auf das
Verfassungsgerichtsurteil öffentlich erklärt: „Die türkische Entscheidung,
Sex mit Kindern unter 15 Jahren zu erlauben, muss rückgängig gemacht
werden.“ Voller Empörung bestellte die Türkei den schwedischen Botschafter
ein, der sich für diese Diffamierung entschuldigen sollte. Es gäbe keine
Straffreiheit für Sex mit Minderjährigen. Das sei „dummes Gerede“
behauptete Vizeregierungschef Mehmet Simsek. Jetzt also doch?
## Mit anderen Dingen beschäftigt
Bislang hat das Justizministerium im Anschluss an die
Verfassungsgerichtsentscheidung noch keinen neuen Gesetzentwurf vorgelegt.
Man sei wegen der Ereignisse nach dem Putschversuch vom 15. Juli mit
anderen Sachen beschäftigt gewesen, sagte der Justizminister.
Doch es ist wohl nicht nur Arbeitsüberlastung, die eine gesetzliche
Neuregelung in Sachen Sex mit Minderjährigen verhindert. Die islamische
AKP-Regierung hat ein grundsätzliches Problem und das sind die zunehmenden
Zahlen von Kinderehen gerade unter ihrer Klientel. Gesetzlich ist das
Mindestalter für Heirat bei Mädchen 16 Jahre, doch es gibt immer häufiger
Ausnahmen.
Gerade auf dem Land sind in den religiösen Familien vom Imam geschlossene
Kinderehen keine Seltenheit mehr, sondern angesichts der
Islamisierungstendenzen sogar auf dem Vormarsch. Offenbar würde die
AKP-Regierung diese Fälle tatsächlich gerne straffrei stellen – es soll nur
niemand merken.
9 Oct 2016
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
Schwerpunkt Türkei
Schwerpunkt AKP
Hürriyet
sexueller Missbrauch
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