| # taz.de -- Wagenknecht will Gysis Erbin werden: Weil sie es kann | |
| > Sie konnte Faust I und Faust II aus dem Gedächtnis zitieren. Nun will | |
| > Sahra Wagenknecht Spitzenkandidatin bei der Bundestagswahl werden. | |
| Bild: Zitiert bei Reden keinen Satz, ohne das Original gelesen zu haben: Sahra … | |
| Privates gibt Sahra Wagenknecht nur dosiert preis, bekannt ist diese | |
| Anekdote: Die Abiturientin Sarah – das h im Vornamen damals noch an letzter | |
| Stelle – konnte einst Faust I und II auswendig. „Ich habe jeden Tag eine | |
| Seite gelernt, das hat mich ein Jahr gekostet.“ Deklamiert hat sie die über | |
| 17.000 Verse nie. „Ich wollte mir beweisen, dass ich es kann.“ | |
| Wagenknecht erzählt dies unprätentiös in ihrem Büro im Bundestag. Regale | |
| stehen hier, voll mit Sachbüchern, nichts Persönliches. Bis 2009 saß hier | |
| ihr Ehemann Oskar Lafontaine. Im Zimmer links daneben: Gregor Gysi. Beide | |
| waren nach der Gründung der Linkspartei 2005 gleichberechtigte | |
| Fraktionsvorsitzende, bis Lafontaine sich wegen seiner Krebserkrankung | |
| zurückzog. Gysi nutzte den Raum dann, um wichtige Gäste zu empfangen. Das | |
| „Präsentationszimmer“, sagte man in der Fraktion. Seit einem Jahr ist es | |
| Wagenknechts Zimmer. | |
| Im Oktober 2015 übernahm sie die Führung der 64-köpfigen Fraktion zusammen | |
| mit Dietmar Bartsch, der nun an Gysis Schreibtisch sitzt. Dessen Erbe | |
| teilen sich die beiden – doch Wagenknecht ist bekannter, sie hat Gysis | |
| Rolle als Zugpferd der Partei übernommen. Auf dem Parteitag im Mai war sie | |
| es, die die Basis von den Stühlen riss. | |
| Wo Gysi leutselig war, ist Wagenknecht zurückhaltend, wo er mit | |
| Schlagfertigkeit punktete, setzt Wagenknecht auf Fakten. „Sahra Wagenknecht | |
| wird bewundert, aber Gysi haben die Leute geliebt“, meint eine Abgeordnete, | |
| die sich nicht namentlich zitieren lassen möchte. Nun will Wagenknecht | |
| zusammen mit Dietmar Bartsch die Partei in der Bundestagswahl 2017 als | |
| Spitzenkandidatin repräsentieren. Was sagt das aus über die Linkspartei? | |
| ## Wagenknecht vereinigt viele Widersprüche | |
| Zunächst, dass Disziplin belohnt wird. Arbeitsam und gründlich sei | |
| Wagenknecht. Äußerlich seit 26 Jahren kaum verändert, ist sie einen langen | |
| Weg gegangen. Stets tadellos frisiert und gekleidet, mit filigran | |
| gemeißelten Zügen, die an diesem Abend kaum Spuren von Müdigkeit aufweisen. | |
| Sie sitzt im Sessel ihres Büros, lehnt sich nicht an. Vor ihr steht eine | |
| Tasse Tee, koffeinfrei wie üblich. | |
| Links außen gestartet, als stramme Kommunistin, die Stalins | |
| Gesellschaftsmodell 1992 in den Weißenseer Blättern als „einzig mögliche | |
| Form eines realisierten Sozialismus“ verteidigt und die für die Parteichefs | |
| Gysi und Bisky als untragbar gilt, bis zur Politikerin, die ihren Genossen | |
| heute zuruft: „Natürlich wollen wir regieren.“ | |
| Sahra Wagenknecht vereinigt derart viele Widersprüche in ihrer Person, dass | |
| es schwerfällt sich ein Bild von ihr zu machen, trotz der zwei Dutzend | |
| Porträts, die über sie erschienen, seit sie 2010 als Vize-Parteivorsitzende | |
| in die Mitte der Partei rückte. | |
| Sie singt auf dem Parteitag die Internationale, ist aber der Ansicht, dass | |
| das Menschenrecht zuerst im nationalen Rahmen erstritten werden sollte. Sie | |
| gilt als außergewöhnlich klug, war aber jahrelang mit einem Mann | |
| verheiratet, der unter Genossen bis heute der „Verrückte“ heißt und währ… | |
| der Ehe mit ihr drei außereheliche Kinder zeugte. Sie streitet für einen | |
| radikal neuen Gesellschaftsentwurf, während ihr eigener Lebensentwurf für | |
| Bürgerlichkeit und Stetigkeit steht. | |
| ## „Natürlich habe ich mich verändert“ | |
| Während der Sitzungswochen im Bundestag dient ihr nach wie vor die | |
| Karlshorster Wohnung als Rückzugsort, tief im Osten Berlins, in einer | |
| Straße, deren Kopfsteinpflaster aus der Kaiserzeit stammt. Sie hatte die | |
| Wohnung während ihrer Studentenzeit angemietet, an der Wand hängen seit | |
| damals Porträts von Hegel, Goethe und Napoleon, berichtet sie. Besucher | |
| empfängt sie hier nicht. | |
| Wer hat sich stärker verändert: sie oder die Partei, die noch SED hieß, als | |
| sie eintrat? | |
| „Natürlich habe ich mich verändert. Wenn ich noch eins zu eins vertreten | |
| würde, was ich Anfang der 90er vertreten habe, wäre ich nicht | |
| Fraktionsvorsitzende geworden“, sagt sie. | |
| Diether Dehm überlegt. „Verändert? Sie ist vielleicht innerhalb der | |
| marxistischen Weltbewegung stärker ins Zentrum gerückt. Aber was sie ist, | |
| hat sie erreicht, ohne sich an Mainstreams anzupassen.“ Dehm gehört zu | |
| einem kleinen Kreis enger Vertrauter um Wagenknecht. „Ich glaube, sie ist | |
| die bedeutendste Frau des Deutschen Bundestags.“ Pause. „Neben Angela | |
| Merkel vielleicht.“ Und sie sei den meisten Männern im Politikbetrieb | |
| überlegen. | |
| Während einer Dienstreise mit Dietmar Bartsch nach Israel steht Wagenknecht | |
| vor der Knesset. Die Sonne ist untergegangen, und Wagenknecht muss nur kurz | |
| und demonstrativ die Schultern fröstelnd hochziehen, schon eilt der | |
| Pressesprecher herbei und legt ihr seine Lederjacke um die Schultern. | |
| Wagenknecht hat etwas an sich, das männliche Kavaliere auf den Plan ruft – | |
| im Privaten und im Beruflichen. | |
| ## Die Fraktion war gespalten | |
| Am Anfang waren da noch die Ostlandesverbände und die Parteichefs Gysi und | |
| Bisky, die sie auf keinen Fall in einem Spitzenamt sehen wollten. Also | |
| startet die 100-prozentige DDR-Bürgerin ihre politische Karriere von | |
| Nordrhein-Westfalen aus. 2003 stellte sie sich einer Kampfabstimmung über | |
| einen Listenplatz für die EU-Wahl, maßgeblich überzeugt von Dehm. Es gibt | |
| da immer auch die Scheu vor der Niederlage. | |
| Sie gewann die Kandidatur und zog 2004 ins EU-Parlament ein. Als 2015 der | |
| von Gysi lange mit vorbereitete Wechsel an der Fraktionsspitze anstand, zog | |
| sie ihre Kandidatur überraschend zurück. „Ich war mir unsicher, ob mir das | |
| wirklich liegt. Soviel Erfahrung in administrativer Leitung hatte ich ja | |
| nicht“, sagt sie. Sie habe immer inhaltlich gearbeitet, aber nie eine | |
| Fraktion geführt. „Ich hatte wirklich das Gefühl, dass das schwierig wird, | |
| zumal damals auch noch inhaltliche Konflikte hinzukamen.“ Die Fraktion war | |
| tief gespalten und Wagenknecht musste eine harte Opposition fürchten. | |
| Es war nicht Oskar Lafontaine, der sie erneut in Stellung brachte. „Mit | |
| Sicherheit nicht“, sagt Wagenknecht. Es war Bartsch, der auf sie einredete, | |
| die Doppelspitze nicht scheitern zu lassen. „Auf dem Weg dahin hatte Sahra | |
| dem Druck kurzzeitig nicht standgehalten“, erzählt er, entspannt in seinem | |
| Bürosessel fläzend. | |
| Ausgerechnet Bartsch, vor dem Wagenknecht noch 2012 eindringlich warnte: | |
| Man sollte solchen Leuten nicht die Linke überlassen. „Wenn man mir vor | |
| fünf Jahren gesagt hätte, du führst die Fraktion mit Sahra Wagenknecht, | |
| hätte ich gesagt, das würde ich mal weitgehend ausschließen.“ Bartsch, der | |
| schlaksige Sportler, der selbstironische Funktionär, der sich wie ein | |
| Arbeitsbienchen in der PDS und der Linken hocharbeitete vom Schatzmeister | |
| zum Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfleiter, zum stellvertretenden | |
| Fraktionsvorsitzenden und schließlich zum Fraktionschef. Er steht für die | |
| Ostlandesverbände, für die Pragmatiker in der Linkspartei, die lieber heute | |
| als morgen mitregieren wollen. | |
| Die Annäherung an Wagenknecht begann, als beide 2013 gemeinsam | |
| stellvertretende Fraktionsvorsitzende wurden. Auch damals war es das | |
| Ergebnis einer kühl ausgeklügelten Machtarithmetik, die das Gleichgewicht | |
| sichern sollte, zwischen dem Reformerflügel und den in Gysis Augen zum | |
| Sektierertum neigenden Westlinken, deren Ikone Wagenknecht ist. In diesen | |
| zwei Jahren sei gegenseitiges Vertrauen gewachsen, sagt Bartsch. „Das war | |
| zwar kein dickes Eis, auf das man sich stellen konnte, aber es hielt.“ | |
| ## Symbiose Bartsch und Wagenknecht | |
| Das Vertrauen wuchs und vermutlich auch die Erkenntnis, dass sie es im Team | |
| viel weiterbringen können als gegeneinander. Wagenknecht, mit ihrem | |
| profunden ökonomischen Fachwissen, die keinen Satz zitiert, ohne das | |
| Original samt Sekundärliteratur gelesen zu haben, und Bartsch, der erprobte | |
| Taktierer und Parteistratege. | |
| Nun hat sich Wagenknecht als Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl ins | |
| Spiel gebracht – gemeinsam mit Dietmar Bartsch. Und vorbei an den | |
| Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger, die eigentlich den | |
| ersten Aufschlag hätten. | |
| Die Liaison Bartsch und Wagenknecht ist keine Zweckgemeinschaft mehr, | |
| sondern eine Symbiose zur maximalen Machtakkumulation. Beide können sich | |
| aufeinander verlassen. | |
| Dabei liegen sie inhaltlich in manchen Fragen immer noch weit auseinander. | |
| Das zeigt sich beispielsweise im September auf einer Konferenz zur Zukunft | |
| der Europäischen Union. Bartsch findet sich auf einem Podium umgeben von | |
| harten EU-Gegnern. Wagenknecht spricht vorab davon, dass man die EU | |
| entmachten und die Souveränität der Nationalstaaten stärken müsse; sie | |
| macht sich für eine Hintertür aus dem Euro stark. Sie sagt Dinge, die | |
| Bartsch nie äußern würde. Bartsch hält kaum dagegen. Stattdessen mildert er | |
| ihre Aussagen später ab: „Sie hat keine Gewissheiten verkündet.“ Im Übri… | |
| habe man in vielen Fragen übereinstimmende Positionen. „Und da, wo wir sie | |
| nicht haben, kann man das auch so stehen lassen.“ | |
| ## Es knallen keine Türen mehr | |
| Auch das ist die neue Linkspartei. Sie stellt sich nach außen in | |
| Geschlossenheit dar, um den Preis, dass die inhaltliche Auseinandersetzung | |
| nach innen kaum stattfindet, man in den eigenen Positionen erstarrt. So | |
| weiß man in der Linkspartei zwar ziemlich genau, gegen welche EU man ist, | |
| aber nicht, für welches Europa man kämpft. | |
| Gegenwärtig sind solche Leerstellen unwichtiger als der errungene | |
| Fraktionsfrieden. Ein Jahr nach Gysis Rückzug knallen auf den Fluren der | |
| Linken im Bundestag keine Türen mehr, weil Leute wutschnaubend aus | |
| Sitzungen stürmen. Übereinstimmend heißt es, das Klima sei freundlicher | |
| geworden. Vertreter des linken und des rechten Flügels haben sich nun, in | |
| seltener Eintracht und die Mitte in die Zange nehmend, für Wagenknecht und | |
| Bartsch als Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl ausgesprochen. | |
| Sahra Wagenknecht wird dann täglich wildfremden Menschen die Hände | |
| schütteln müssen. Sie wird spätabends in Kneipen auf | |
| Wahlkampfveranstaltungen rumhängen und auch über ziemlich banale Dinge | |
| reden müssen. In eine solche Umgebung passt sie so gut wie in eine | |
| Dorfdisco. Aber vielleicht wird sie sich wieder beweisen, dass sie es kann. | |
| 10 Oct 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Lehmann | |
| ## TAGS | |
| Lesestück Meinung und Analyse | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Die Linke | |
| Sahra Wagenknecht | |
| Dietmar Bartsch | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
| Saarland | |
| Die Linke | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Schwerpunkt AfD | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Linke im Bundestagswahlkampf: Wagenknecht an der Spitze in NRW | |
| Die Landtagswahl kommt zwar zuerst, doch Piraten und Linke beschäftigten | |
| sich schon mit der Bundestagswahl. In NRW haben sie ihr Spitzenpersonal | |
| gekürt. | |
| Strategie der Linken im Wahlkampf: Wagenknecht jagt AfD-Wähler | |
| AfD-Wähler seien angeblich die Abgehängten, die Frustrierten, heißt es. | |
| Denen will die Linken-Spitzenkandidatin Wagenknecht eine Alternative | |
| bieten. | |
| Bundestagswahl 2017: Linke sucht Spitzenteam | |
| Am Wochenende soll entschieden werden, wer die Linkspartei in den Wahlkampf | |
| führt. Harmonisch geht es dabei nicht zu. | |
| Die Linkspartei im Saarland: Oskar Lafontaine bleibt oben | |
| Lafontaine hatte mit der Bekanntgabe seiner Kandidatur lange gezögert. Nun | |
| wird er die Linkspartei im Saarland doch wieder in die Landtagswahl führen. | |
| Linkspartei streitet um Spitzenkandidatur: Wagenbartsch statt Wagenknatsch | |
| Der linke und der rechte Flügel der Linken wollen Wagenknecht und Bartsch | |
| als Spitzenkandidaten. Das ist ein Affront für die Parteichefs. | |
| Das AfD-Problem der Linkspartei: Von lechts nach rinks | |
| Die AfD kommt bei einigen Wählern der Linkspartei gut an. Wie gewinnt man | |
| diese zurück? Nicht alle teilen den Nähe-Kurs von Sahra Wagenknecht. | |
| Kommentar zu Lafontaines Facebook-Post: Oskars Rage | |
| Es ist traurig. Oskar Lafontaine hat politisch oft Haltung bewiesen. Jetzt | |
| hat er auf Facebook ausgeteilt, weil ihm ein Bericht in der taz nicht | |
| passte. |