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# taz.de -- Digitale Fährtenleserin Ingrid Burrington: Das Internet sehen
> Die Künstlerin Ingrid Burrington untersucht Spuren der technischen
> Infrastruktur – auch in ihrer Ausstellung „Reconnaissance“ in Berlin.
Bild: Eine Art modernisiertes Landschaftsgemälde: erst ein leeres Feld, dann d…
Wer mit Ingrid Burrington durch die Stadt geht, lernt schnell, diese mit
anderen Augen zu sehen. Da schlendert man mit der amerikanischen Künstlerin
und Autorin an einem sonnigen Herbstvormittag eine Seitenstraße in
Berlin-Friedrichshain entlang, vorbei an Graffiti-verschmierten Altbauten
und kantigen Neubauten für Besserverdienende mit bodentiefen Fenstern, und
meint sich umgeben von Kinderwagen-schiebenden Eltern und
ganzkörpertätowierten Biertrinkern.
Doch Burrington sieht etwas ganz anderes: Die Stange mit den Metallflügeln,
die aus einem Dach herausragt – das ist eine Funkzelle für den mobilen
Datenverkehr. Der mit Postern zugeklebte Kasten am Rand des Bürgersteigs
enthält wahrscheinlich Telefonrelais. Und die bunten Hieroglyphen auf dem
Boden sind Markierungen, die Bauarbeiter davon abhalten sollen, die unter
dem Pflaster liegende Stromleitungen oder Telefonkabel zu durchtrennen.
Burrington ist eine Art Trapperin, die die Spuren, die unser elektronisches
Kommunikationsbedürfnis im Weichbild der Stadt hinterlässt, zu lesen
versteht. So wie Fährtenleser in der freien Natur die Spuren von Wildtieren
auffinden, so durchforstet sie den Großstadtdschungel ihrer Heimatstadt New
York nach der Infrastruktur, ohne die wir keine Email und keine
WhatsApp-Nachricht senden oder erhalten könnten.
„Das Internet ist überall hier, aber meistens sehen wir es nicht“, sagt
Burrington. „Wir sehen nur, was auf unseren Bildschirmen erscheint. Was
mich interessiert, sind die technischen Voraussetzungen dafür, dass das
passieren kann. Das Internet ist keine immaterielle Gegenwelt irgendwo in
der Cloud, sondern hat eine sehr materielle Grundlage.“
Auf die Idee kam sie beim Bier mit einem Freund in einer Bar in Manhattan.
Die beiden begannen, die elektronischen Gerätschaften zu zählen, die man
durch das Kneipenfenster auf Ampeln, Lichtmasten und auf Häuserdächern
sehen konnte. Burrington: „Normalerweise nimmt das niemand zur Kenntnis.
Dabei sind das alles Teile einer Kommunikationsinfrastruktur, die darüber
entscheidet, wer online zu was Zugang hat.“ In Anbetracht der Wichtigkeit,
die das Internet inzwischen für unsere Gesellschaft hat, sollte man sich
vielleicht öfter die Frage stellen, wo sich dessen technische Grundlagen
eigentlich verbergen, wer sie dort installiert hat und wer sie
kontrolliert.
## Netzqualität bedeutet Macht
Aus dem Kneipengespräch entstand das Buch „Networks of New York: An
Illustrated Field Guide to Urban Internet Infrastructure“, das Burrington
zunächst im Selbstverlag veröffentlichte und das im August von dem Verlag
Melville House neu herausgebracht wurde. Das Buch ist eine Art Führer zur
elektronischen Flora und Fauna der Stadt: In liebevollen
Bleistiftzeichnungen zeigt Burrington Miniüberwachungskameras an
Laternenmasten ebenso wie das ehemalige Western-Union-Gebäude in Lower
Manhattan, ein „carrier hotel“ in einem Art-Deco-Palast, der einen ganzen
Block einnimmt und in dem über 20.000 Kilometer Kabel miteinander verbunden
sind.
„Viele sehen mich komisch an, wenn ich von meiner Arbeit erzähle und
verlieren schnell das Interesse“, gibt Burrington zu. Dabei hat die
amerikanische Soziologin Saskia Sassen schon in den 90er Jahren in einer
Reihe von Büchern und Aufsätzen auf die imminente sozio-politische
Bedeutung hingewiesen, die der Zugang zur Kommunikationsnetzwerken haben
kann. Ihre These: Die Qualität des Netzzugangs reproduziert politische
Machtverhältnisse und ökonomische Vorsprünge.
Die hervorragende Anbindung einer Stadt wie New York ans Netz ist nicht nur
für die Börsentransaktionen an der Wall Street wichtig, wo
Sekundenbruchteile bei der Datenübermittlung über Gewinn oder Verlust beim
Aktienzocken entscheiden können. Große Teil der USA (oder auch der
Bundesrepublik) seien dagegen vom schnellen Internet und damit auch von der
wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt.
Unternehmen wie Facebook oder Google installieren rund um den Globus eigene
Internet-Serverzentren, die ihnen durch Beschleunigung der eigenen Daten
Vorteile gegenüber der Konkurrenz sichern sollen. „Niemand denkt darüber
nach, wenn er etwas bei Facebook postet – aber damit man das sofort überall
auf der Welt lesen kann, wird ein riesiger technischer Aufwand getrieben“,
sagt Burrington, die 2015 für die Website des Magazins Atlantic auf der
Suche nach den gesichtslosen technischen Anlagen voller Netzhardware
irgendwo in der Mitte von Nirgendwo durch die USA reiste. Eine Station des
Trips war das International Utility Locate Rodeo, ein Wettbewerb, bei dem
Mannschaften nach unterirdisch verborgenen Kabeln, Wasserrohren und
Gasleitungen suchen.
## Reportagen, Dokus, Sachbücher
Burrington ist nicht die erste, die mit detektivischem Spürsinn der
Infrastruktur des Internets hinterher recherchiert: 1996 schrieb der
US-Science-Fiction-Autor Neal Stephenson für die Zeitschrift Wired eine
legendäre, heftfüllende Reportage über die Verlegung eines Unterseekabels
von Europa nach Asien. Als „Hackertourist“ bewies er, dass dieses
technische Großvorhaben – das der Öffentlichkeit, die täglich von ihm
profitierte, kaum bekannt war – Stoff für ein spannendes Heldenepos sein
konnte.
In dem Dokumentarfilm „The Land of the Wandering Souls“ (2000) zeigte der
kambodschanische Regisseurs Rithy Panh die Installation des ersten
Hochgeschwindigkeitskabels in seinem bettelarmen Heimatland als Konflikt
zwischen Tradition und der mit dem Netzzugang einziehenden Moderne. Und
2012 hat der Journalist Andrew Blum ein packendes Sachbuch über die
technische Infrastruktur des Internets vorgelegt, das unter dem Titel
„Kabelsalat“ auch auf Deutsch erschienen ist.
Dabei „legen die Unternehmen keinen besonderen Wert darauf, dass man von
ihren Leitungen und Datencentern erfährt“, sagt Burrington. Google soll
früher sogar Hinweise auf seine eigenen Anlagen bei Google Maps gelöscht
haben.
## Digitale Fährtenleserin
Von der Macht der Internetfirmen, unseren Blick auf die Wirklichkeit zu
prägen, handelt auch Burringtons Ausstellung „Reconnaissance“, die derzeit
in der Berliner Galerie Nome zu sehen ist. Dort zeigt sie Satellitenbilder
derselben Landstriche von verschiedenen Anbietern als Lentikulardrucke –
das sind die Wackelbilder, die man von Postkarten kennt und bei denen je
nach Blickwinkel eins von zwei verschiedenen Motiven zu sehen ist.
Bei einer der Arbeiten sieht man zum Beispiel aus der einen Richtung ein
weitgehend leeres Stück Land, aus der anderen das Google-Datencenter, das
dort selbst innerhalb kürzester Zeit aus dem Boden gewachsen ist. Ein
anderes Bild changiert zwischen dem Bild einer Militärbasis in den
Niederlanden und der auf Anordnung der holländischen Regierung
vorgenommenen Verpixelung des Objekts.
Auf den ersten Blick mögen die vom allsehenden Auge des Satelliten
aufgenommenen Oberflächenstrukturen an die Abstraktionen eines Paul Klee
erinnern. Aber eigentlich sind diese Arbeiten eine Art modernisiertes
Landschaftsgemälde. Sie erzählen davon, wie sich die Technik und die von
ihr hervorgebrachten Unternehmen in die Erdoberfläche einschreiben und
global ihre Spuren hinterlassen. Es bedarf einer digitalen Fährtenleserin
wie Ingrid Burrington, um diese Spuren wahrzunehmen und zu verstehen.
7 Oct 2016
## AUTOREN
Tilman Baumgärtel
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