Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Performing Arts: Weltmeister der Verdrängung
> Kalb heißt das Stück der Gruppe Wolf Haul. Das Musical lässt an obszöne
> Riesenbrüste denken und an die Zucht von Zusatzrippen – aus
> Tierrechtsperspektive
Bild: Du und dein Tier: Die Schabe wird gehasst, doch nicht zertreten
HANNOVER taz | Ich denke, also bin ich: Mensch. Dank des rechtzeitigen
Abbiegens auf die evolutionäre Überholspur sind wir die absoluten Gewinner
im Wettlauf der Tiere um die Krone der Schöpfung. Den Verlierern bleiben
nur Rollen als dienende Wesen. „Wir Zweibeiner wollen sie beherrschen,
unterwerfen, einsperren, nutzbar machen, optimieren dabei die Erzeugung und
Tötung der Tiere im industriellen Maßstab“, sagt Regisseur Volker Bürger.
Und Lässt also denken an die gezüchteten Riesenbrüste – für unseren
riesigen Milchdurst. An die gezüchteten Zusatzrippen – für unseren riesigen
Koteletthunger. An knuddelniedlich zurechtgezüchtete Katzen und Hunde – für
unseren riesigen Hunger auf Ersatzhandlungen in Sachen sozialer
Interaktion. „All das akzeptieren wir täglich – und schweigen. Wir sind
Verdrängungsweltmeister“, so Bürger. Damit soll nun Schluss sein.
Recherchiert hat er an der tierärztlichen Hochschule, im Schlachthof – und
mit Theatermacherfreunden die Operation Wolf Haul gegründet.
Warum das Leben der Tiere nicht dem der Menschen gleichberechtigt sei, so
die Frage. Mission 1 ist die Erlösung des Menschen zum Tier. Als
künstlerisches Medium gewählt wird das Musical. Also ganz groß gedacht und
gemacht ist die erste Produktion der neuen Hannoveraner Compagnie.
Ein Investor stellt ihr für lau die gerade erworbene, 2012 entweihte
Lindener Uhlhornkirche zur Verfügung, in die Ende des Jahres
Studentenwohnungen eingebaut werden. Das Kirchenschiff unterm imposant
steilen Walmdach ein letztes Mal mit dem Mobilarrest im denkmalgeschützten
Originalzustand zu erleben, war bei der Uraufführung von „Kalb“ möglich.
Zuvor durfte dort das Unheil-heulende Wolfsteam drei Wochen lang proben.
Und die Kirche mit ihren WG-Lebensspuren ausschmücken. Das Kulturbüro
Hannovers und die Stiftung Niedersachsen spendierten dem Frischling der
freien Szene insgesamt 25.000 Euro zum Durchstarten. „Damit wollen wird
endlich mal anders Theater machen“, sagt Bürger.
Grob strukturiert ist der Abend als Requiem. Gestartet wird mit einer
Begrüßung – durch die Jünger-Clique auf ihrer Tierrechts-militärischen,
Denk-chirurgischen Ethik-Operation. Ihr Jesus ist Vincent, der sich als
Kalb verkleidet hat – und alle Menschen bekehren möchte, wieder Tier unter
Tieren zu sein. Vincent, das Kalb, ist aber auch Vincent Basse, Bremer
Kunststudent. Er sorgte für Aufsehen mit einer Kunstaktion am Hauptbahnhof
der Wesermetropole. Auf 5.600 Quadratmetern, die teilweise als Skatepark
genutzt wurden, sollte dort ein einladend charmantes Entree der Hansestadt
entstehen – nun wird aber abweisend sterile Klotz-Architektur hochgezogen.
Um das Areal noch einmal für Skater zu markieren, robbte Basse drumherum –
in Anlehnung an die Legende vom Krüppel, der 1032 ein Geviert auf den
Ländereien der Gräfin Emma umkroch, das diese dann der Stadt als
Weidefläche schenkte: die heutige Bürgerweide. Basse aber gewann den
Bremern nichts zurück, auch wenn die Baustelle gerade ruht, wird
wahrheitsgemäß erzählt während der „installativ-szenischen Raumführung“
durchs ehemalige Gotteshaus. Alle Schauspieler sind ihren Rollen ähnlich
verwandt wie Vincent. Ein Schülertheater-Quartett sogar ganz bei sich, hat
doch jeder die Verwandtschaft zu einem Tier in sich entdeckt und den Körper
entsprechend kostümiert. „Transformiert“, wie es heißt. Auf zur nächsten
Requiem-Station, zur Kanzel: Bibel-Lesung und Predigt. „Es begab sich zu
einer Zeit, als wilde Pferde noch frei waren …“ Disneys Zeichentrickwerk
„Spirit – Der wilde Mustang“ wird mit Agamben, Derrida & Co. interpretiert
– wobei sich fideler Unsinn mit trägem Metasinn verschränkt.
Aus der Tierperspektive auf die Welt schauen, daraus kuschelmoralische
Belehrung ableiten, den Film-Plot nacherzählen, mit Gesang und Tanz
musicalisieren und eine Revolution der Tiere anstiften: alles scheitert.
„Vincent hat ja eine Gurkentruppe für diese Operation zusammengeholt, die
muss scheitern“, beschreibt Bürger das Konzept. Das im improvisiert
wirkenden Spektakel überzeugend realisiert wird. Mit Stephanie Teiß ist nur
eine professionell erfahrene Sängerin/Darstellerin dabei, Nicolaas van
Diepen hat gerade Schauspiel an der Münchner Falckenbergschule studiert,
alle anderen sind Laienmimen. Wie auch die Bühnentiere.
Ein Kaninchen, für 29,90 Euro in der Zoohandlung erworben, vier Königspudel
und eine Fauchschabe aus dem tropischen Dschungel wirken mit. Ob Nutz-,
Haus-, Wildtier – Vincent segnet sie alle. „Du gehörst nur dir.“ Da regt
Theiß an, statt des Abendmahls eine rituelle Tieropferung zu feiern. Als
Abgleich oder Symbol für die Schuld, was Menschen den Tieren so angetan
haben. Plötzlich gewinnt der Abend dokutheaternd inhaltliche Relevanz – mit
der Rezitation eines Briefs der Hannoveraner Veterinäroberrätin Gabriele
Doil, die zur Tieropferanfrage ausführt: Der „angestrebte Nutzen“ müsse
„die zugefügte Belastung“ für das Tier überwiegen.
„Ethisch-moralisch“ anerkannt „vernünftige Gründe“ für Tiertötung s…
„Lebensmittelgewinnung, Forschung, Arzneimittelprüfung“. Für Tötung „a…
künstlerisches Mittel“ gebe es „keinen vernünftigen Grund“. Van Diepen
fragt, was das für ein Vernunftkonzept sei, das erlaube, jährlich 50
Millionen männliche Küken zu schreddern, aber verbiete, das per
Opfer-Inszenierung sichtbar zu machen. Die Schabe hingegen sei per se
unvernünftig. „Ein Tier ohne Ich-Empfinden und Zeitbewusstsein“, heißt es
offiziell. Tottreten erlaubt? Tut aber keiner.
Die Operation Haul opfert sich selbst, nagelt einen Menschen ans Kreuz.
Aber nicht mal das klappt an diesem Abend des gewollten Scheiterns. Worum
geht es hier? Bürger: „13 Jahre war ich als Dramaturg an Stadttheatern
beschäftigt, nun suche ich die Freiheit, andere Arbeitsformen in anderen
Gruppensituationen auszuprobieren. Sehne mich nach einem Gegenraum, einer
Art Kommune, in der wir uns einfach mal mit einem Thema zurückziehen,
vielleicht sogar nur mit einem Wort und von da aus versuchen, Dinge dazu
auszuprobieren und zu erspüren.“ Im gemeinsamen spielerischen Fragen soll
kollektiv inszeniert werden. „Wenn im Stadttheater die Schauspieler in eine
Produktion einsteigen, sind 95 Prozent aller Entscheidungen ja schon
getroffen.“
„Kalb“ war noch ein Kompromiss. Ein Anfang. Bürger musste allein Regie
führen, den Text schreiben, Produzent sein. Beim nächsten Projekt macht die
Operation Wolf Haul sich selbst zum Thema. „Haus“ lautet der Arbeitstitel,
soll 2017 herauskommen und die Kreativtherapie einer Selbsthilfegruppe
Entwurzelter präsentieren. „Wir wollen die multiplen Persönlichkeiten der
Performer auf der Bühne sichtbar machen und erweitern“, sagt Bürger.
Kontinuierlich möchte er so Hannovers freie Theaterszene bereichern.
Zuschauprofis wissen, wenn solche Performances freiwillig schräg und
unfreiwillig dilettantisch wirken, handelt es sich um eine Ästhetik des
Suchens – als bewusste Kritik an der Perfektion des Findens.
4 Oct 2023
## AUTOREN
Jens Fischer
## TAGS
Landwirtschaft
Tierrechte
Musical
Schwerpunkt 1. Mai in Berlin
Massentierhaltung
Schafe
## ARTIKEL ZUM THEMA
Zum Nachlesen: +++ Liveticker 1. Mai +++: Bewegter Tag, unruhiger Abend
Nach den Revolutionären Demos kam es in Berlin und Hamburg zu Krawallen.
Danach feierte Kreuzberg – im Norden blieb es angespannt.
Grüne Woche demaskieren!: „Bessere Tierhaltung ist keine Lösung“
Sandra Franz, Aktivistin vom Bündnis „Grüne Woche demaskieren!“ über
Massentierhaltung, getötete Kälber und Straßentheater.
Krimiautorin Leonie Swann über Flöhe: „Mitfühlen ist sehr wichtig“
Mit einem Buch, in dem Schafe Detektive sind, wurde sie berühmt. In Leonie
Swanns aktuellem Roman spielen Flöhe eine wichtige Rolle. Sie erzählt,
warum.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.