# taz.de -- Erschwingliche Open-Source-Prothesen: Lass dich mal drucken | |
> Prothesen sind teuer. Ein Open Source Projekt versucht das zu ändern und | |
> entwickelt Hände für alle – aus dem 3-D-Drucker. | |
Bild: Das Modell des britischen Start-up Open Bionics hat im Handrücken einen … | |
Wenn Nicolas Huchet Erfolg hat, will er die Früchte seiner Arbeit mit allen | |
teilen, die in einer ähnlichen Lage sind wie er. | |
Huchet war 18 Jahre alt und arbeitete als Mechaniker, als ihm eine Maschine | |
die Hand abriss. Erst nach drei Monaten bekam der junge Mann aus Rennes | |
seine erste Prothese. Etwa 10.000 Euro hat sie gekostet – preiswert im | |
Vergleich zum sonstigen Marktangebot, das Modelle für 70.000 Euro | |
bereithält. | |
Die Finger von Huchets leicht glänzender Ersatzhand sind angewinkelt, als | |
ob er einen Ball in der Größe einer Pampelmuse umschließen würde. Ein | |
hautfarbener Schaft hält sie am Arm fest. Darunter sitzt ein | |
batteriebetriebenes Steuerplättchen, das der Träger alle zwei Tage aufladen | |
muss und ihm erlaubt, das Handgelenk zu bewegen und die Finger weiter | |
anzuwinkeln. So kann er eine Tasse greifen, Rad fahren oder sich mit beiden | |
Händen auf der Tischkante abstützen. Doch wenn er einzelne Finger | |
differenziert bewegen oder eine Faust machen will, versagt das künstliche | |
Körperteil. | |
Alle drei bis vier Jahre wird eine neue Prothese fällig, weil das Material | |
brüchig wird. „Die zu besorgen ist nicht nur teuer, sondern auch aufwendig. | |
Um sie anzupassen, muss ich jedes Mal nach Wien reisen“, berichtet der | |
heute 32-Jährige mit dem Dreitagebart. | |
2012 entdeckte Huchet, der inzwischen einen Job als Klangtechniker gefunden | |
hatte, dass in seiner bretonischen Heimatstadt ein Fab Lab eröffnete. | |
Weltweit gibt es inzwischen einige Hundert solcher offenen | |
Hightechwerkstätten. Erfunden wurden sie 2002 von Neil Gershenfeld, | |
Wissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Er hatte | |
ein Seminar zur Bedienung von CNC-Fräsen, Lasercuttern und 3-D-Druckern | |
angeboten, und entgegen seiner Erwartung tauchten nicht nur Ingenieure, | |
Maschinenbauer und Computerspezialisten auf, sondern auch Studierende aus | |
anderen Fachbereichen, die Dinge nach eigenen Vorstellungen herstellen | |
wollten. | |
Der Physik- und Informatikprofessor beschloss, eine offene Werkstatt | |
einzurichten, zu der jeder Zugang hat. Die Nutzung der Maschinen ist | |
kostenlos, nur das Material muss bezahlt werden; im Gegenzug sind die | |
Besucher des Fab Lab verpflichtet, die Herstellung der Gegenstände zu | |
dokumentieren und ihre Baupläne im Internet zu veröffentlichen. | |
## Das Halloweenkostüm | |
Bald entstanden mit Unterstützung des MIT an Hochschulen in Afghanistan, | |
Südafrika, Indien, Ecuador und anderen Ländern offene Minifabriken – und | |
längst nutzen auch kommerzielle Betreiber das Prinzip für sich. Auf der | |
Seite [1][thingiverse.com] finden sich Baupläne für Tausende von | |
Gegenständen, die jeder nutzen und verändern darf und zum Ausdrucken an den | |
3-D-Drucker schicken kann. | |
Das Meiste ist Nippes wie Handyhüllen oder verdrehte Vasen oder ein | |
weiblicher Torso mit Wabenmuster. Doch Neil Gershenfeld verweist auf das | |
Potenzial, das in einer solchen dezentralen Produktionsweise steckt. Die | |
Menschen sind nicht länger auf das angewiesen, was Massenproduzenten auf | |
den Markt drücken wollen oder Konstruktionsabteilungen in fernen | |
Konzernzentralen als lukratives Geschäft identifiziert haben. | |
Nicolas Huchet war fasziniert von den neuen Möglichkeiten, die sich im Fab | |
Lab auftaten. „Ich sah plötzlich die Chance, irgendwann unabhängig zu | |
werden und meine eigene Prothese herstellen zu können.“ Auf die gleiche | |
Idee waren andere schon vor ihm gekommen. | |
Der Zimmermann Richard van As hatte sich 2011 mehrere Finger mit einer | |
Kreissäge abgeschnitten. Bei seinen Recherchen war der Mann aus Südafrika | |
auf ein Video des US-Künstlers Ivan Owen gestoßen, der für sein | |
Halloweenkostüm eine bewegliche Metallhand gebastelt hatte. Die beiden | |
Männer trafen sich in Südafrika und versuchten gemeinsam, eine Ersatzhand | |
für den Südafrikaner zu konstruieren. Die Mutter eines Jungen, der ohne | |
Hand geboren wurde, erfuhr von der Zusammenarbeit, und als Owen wieder | |
abreiste, hatte auch der Fünfjährige anschnallbare Aluminiumfinger, die mit | |
Drähten am Armstumpf befestigt waren und mit denen er zum ersten Mal in | |
seinem Leben etwas greifen konnte. | |
Owen und van As wollten mehr Menschen an ihrer Erfindung teilhaben lassen | |
und entwickelten eine Prothese, die sich mit einem 3-D-Drucker für knapp 10 | |
Dollar herstellen lässt und deren Datei die Anpassung an unterschiedliche | |
Körpermaße erlaubt. Das Projekt läuft: Hunderte von Freiwilligen werten die | |
Angaben und Fotos von Hilfesuchenden aus, stellen mit 3-D-Druckern | |
Kunsthände her und senden sie den Empfängern per Post zu. | |
Doch solche Billigprothesen sind nur mäßig alltagstauglich und darüber | |
hinaus halten sie nicht allzu lange. Deshalb suchte Nicolas Huchet nach | |
neuen Wegen. Im Februar gab er seine Stelle auf und gründete „My Human Kit“ | |
– eine Organisation, bei der die Selbsthilfe von Behinderten im Zentrum | |
stehen soll. „Wir sind die Experten unserer eigenen Situation“, fasst | |
Huchet seine Perspektive zusammen. Weltweit gebe es etwa drei Millionen | |
Menschen, denen eine Hand fehlt – und die meisten von ihnen lebten in | |
Drittweltländern und hätten bisher keinerlei Chance, einen künstlichen | |
Ersatz zu bekommen. | |
Nun hofft der Franzose, dass Ingenieure und andere Leute mit | |
Fachkenntnissen bei der Entwicklung preisgünstiger und guter | |
Open-Source-Prothesen mithelfen. Dabei schwebt ihm eine Mischung aus | |
Do-it-yourself, Hightech und Solidarität vor. Das Startkapital für „My | |
Human Kit“ stammt von dem Unternehmen Google, der bretonischen | |
Regionalverwaltung, der Fondacion française und einer Organisation, die | |
Amputierte in den Arbeitsmarkt reintegrieren will. | |
## Muskelsensor und Motor | |
Gegenwärtig hat sich Huchet drei Monate lang im Berliner Fab Lab | |
einquartiert. Vor ihm auf dem Tisch liegen zwei Open-Source-Prothesen: Die | |
10-Dollar-Version aus dem 3-D-Drucker kommt ohne jede Elektrik aus, das | |
knallorange Modell des britischen Start-ups Open Bionics hat dagegen im | |
Handrücken einen kleinen Motor integriert. Etwa 500 bis 700 Euro kostet | |
eine solche Hand, wenn man sie selbst nachbaut. Sie zu verbessern ist | |
Huchets Ziel. Für die beweglichen Finger experimentiert er mit den Gliedern | |
von Fahrrad- und Motorsägenketten, die er mit dem 3-D-Drucker ummanteln | |
will. | |
Auch der Muskelsensor, den er einbauen will, ist keine Neuerfindung, | |
sondern für wenige Euro im Internet zu bestellen. „Laslo hilft mir hier in | |
Berlin bei der Software, Achmed bei der Elektronik“, berichtet Huchet. Auch | |
sonst seien Fab Labs gute Orte, um interessante und engagierte Leute | |
kennenzulernen. | |
Enttäuscht ist der ausgebildete Mechaniker dagegen von dem traditionellen | |
Prothesenhersteller Ottobock, dem Vermieter des Fab Lab. Zwar hat die Firma | |
seine Anwesenheit sehr begrüßt und ihm einen ihrer Chips zur Verfügung | |
gestellt, mit dem sich Armbewegungen registrieren lassen. Auch der im | |
Nebenraum sitzende Orthopädietechniker ist für seine Fragen offen. | |
Insgesamt aber halte sich die Unterstützung der Firma in engen Grenzen, | |
meint Huchet. „Dabei profitieren sie von mir und kriegen genau mit, was ich | |
ausprobiere, was funktioniert – und auch, was nicht.“ | |
Huchet hat keine Ahnung, wie lange es dauern wird, bis er selbst eine von | |
ihm mitkonstruierte Prothese tragen wird. Inzwischen hat er Mitstreiter in | |
Kolumbien, Brasilien, Indien und der Türkei. Ihr gemeinsame Ziel: ein | |
erschwingliches Gesundheitsprodukt für alle, die es brauchen. | |
8 Sep 2016 | |
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[1] http://www.thingiverse.com/ | |
## AUTOREN | |
Annette Jensen | |
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