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# taz.de -- Marrakesch-Blindenvertrag: Stevie Wonder wartet weiter
> 2013 wurde der Marrakesch-Vertrag verabschiedet, der Sehbehinderten mehr
> Literatur verschaffen soll. Die EU verwehrt bis heute seine Umsetzung.
Bild: Die EU lässt ihn warten: Stevie Wonder
Stevie Wonder steht auf der Bühne und grinst. Der blinde Musiker ist froh,
denn er muss seine Drohung von 2010 nicht umsetzen. Er muss nicht über
untätige Politiker singen. Stattdessen hält er an diesem Tag, dem 28. Juni
2013, auf dem Podium der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO)
eine Lobrede: „Heute ist mein Herz im Reinen. Und mein Glaube an die
Menschheit erneuert.“
Wonder schwärmt, weil nach jahrelangen Verhandlungen der
Wipo-Blindenvertrag auf internationaler Ebene zustande gekommen ist: 51
Länder haben ihn am 27. Juni 2013 in Marrakesch unterzeichnet, Deutschland
unterschrieb im Sommer 2014.
Der Vertrag soll den 300 Millionen sehbehinderten Menschen weltweit den
Zugang zu Literatur erleichtern. Mit ihm können Blindenorganisationen
grenzüberschreitend barrierefreie Literatur austauschen. Bisher stand dem
meist das Urheberrecht im Weg. Der Marrakesch-Vertrag regelt auch, dass
Blindenorganisationen für ihre barrierefreien Versionen nicht zwingend die
Rechteinhaber anfragen müssen.
Stevie Wonder ist sich bei seinem Auftritt vor der Wipo sicher, dass die
Bücherknappheit für sehbehinderte Menschen bald enden wird. Doch er hat
sich zu früh gefreut. Denn nach seiner Rede werden noch über drei Jahre
vergehen, bis der Marrakesch-Vertrag nicht nur genügend Unterstützer,
sondern auch genügend Unterzeichner findet, die bereit sind, seine Inhalte
umzusetzen.
20 Länder haben den Vertrag mittlerweile ratifiziert, darunter Nordkorea,
Argentinien, Uruguay und Kanada. Deutschland und die Europäische Union
sucht man auf dieser Liste allerdings vergebens. Dennoch wird der Vertrag
voraussichtlich Ende September in Kraft treten können.
## Zu viele Ausnahmen
Schätzungen der Europäischen Blindenunion zufolge sind in Industriestaaten
nur fünf Prozent der Literatur für sehbehinderte Menschen zugänglich, etwa
in Brailleschrift oder als Hörbuch. In Entwicklungsländern ist es sogar nur
ein Prozent. Mit dem Marrakesch-Vertrag könnten beispielsweise das
spanischsprachige Uruguay oder das französischsprachige Mali auf die
deutlich umfangreicheren Bibliotheken von Spanien und Frankreich zugreifen.
Beide Länder haben den Vertrag bereits ratifiziert.
„Der Marrakesch-Vertrag ist für die blinden Menschen der Welt ein Geschenk
des Himmels. Aber seine Umsetzung dauert leider sehr lange und gestaltet
sich schwierig, gerade in Europa“, sagt Thomas Kalisch, selbst blind und
Direktor der Deutschen Zentralbücherei für Blinde in Leipzig (DZB).
Für Deutschland, Österreich und die Schweiz haben die
Verwertungsgesellschaften VG Wort, Literar-Mechana und ProLitteris 2011
eine Ausnahmeregelung für sehbehinderte Menschen vereinbart. Die gilt aber
nur für physische Bücher, nicht jedoch für den Austausch der digitalen
Versionen. Für den Marrakesch-Vertrag müsste die Schrankenregelung § 45a
des deutschen Urheberrechts um eine grenzübergreifende Zugänglichkeit der
Werke und die Möglichkeit des digitalen Austauschs erweitert werden.
## Interessen von Rechteinhabern
Die bisherige Vereinbarung der Verwertungsgesellschaften sei nur der
„kleinstmögliche gemeinsame Nenner“, kritisiert der Pressereferent (DZB)
Ronald Krause. Die Vereinbarung verhindere obendrein, „dass die Regelungen
in Deutschland dem Marrakesch-Vertrag angemessen modifiziert werden
können“.
Woran das liegt, erklärt Julia Reda, Abgeordnete der Piratenpartei im
Europäischen Parlament, wie folgt: „Eigentlich wollte die Europäische Union
den Vertrag gemeinsam ratifizieren, die meisten nationalen Regierungen
waren damit auch einverstanden. Aber es gab eine Sperrminorität aus sieben
Ländern, unter anderem war Deutschland gegen eine Ratifizierung durch die
EU.“
Reda beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Urheberrecht. Sie wundert
sich darüber, wie Deutschland seine Sperrhaltung begründet. „Es geht in der
Begründung nicht um den eigentlichen Inhalt des Vertrags. Es geht allein um
die Kompetenzfrage, ob die EU den Vertrag stellvertretend für alle 28
Mitgliedstaaten gleichzeitig ratifizieren kann.“
Vorstellbar ist auch, dass die Interessen von Rechteinhabern eine Rolle
spielen. So warnten Patentrecht-Lobbyisten in einem Schreiben an die
US-amerikanische Regierung davor, dass der Marrakesch-Blindenvertrag einen
internationalen „Präzedenzfall“ dafür schaffen könnte, wie Urheberrechte
„ausgehöhlt“ und „einseitige“ Ausnahmen geschaffen werden könnten.
## Teil des Armdrückens
Im Briefkopf stehen mitunter der US-Chemie-Riese Procter & Gamble, Apple,
Google – aber auch deutsche Unternehmen wie SAP und Siemens. Das
entsprechende Dokument hat eine US-amerikanische NGO über eine
Informationsfreiheitsanfrage öffentlich gemacht.
Der Marrakesch-Blindenvertrag scheint jedenfalls zum politischen Zankapfel
zu geraten, obwohl sein Anliegen ein menschenrechtliches ist: die Teilhabe
von sehbehinderten Menschen an Literatur zu erleichtern. Doch anstatt auf
den Tischen der europäischen Regierungen auf seine Umsetzung zu warten,
liegt der Vertrag derzeit in Luxemburg. Der Europäische Gerichtshof (EuGH)
soll mit einem Gutachten klären, ob die einzelnen Länder für die
Ratifizierung zuständig sind – oder die EU den Vertrag auf einen Schlag für
alle Mitgliedstaaten ratifizieren kann.
Das könne die Union sehr wohl, glaubt Julia Reda, „bisher ist diese
Kompetenz auch akzeptiert worden“. Schließlich hat die EU beispielsweise
2012 über eine Richtlinie für sogenannte verwaiste Werke eine
Harmonisierung des europäischen Urheberrechts durchgesetzt.
Die Piraten-Politikerin geht deswegen davon aus, dass der EuGH der Union
die Kompetenz zusprechen wird. Sie stellt aber noch eine mögliche Erklärung
in den Raum, warum die Ratifizierung in Europa verschleppt werden könnte:
Der Marrakesch-Blindenvertrag könnte Teil des Armdrückens sein, das sich
die europäische Regierungen und die Union um internationale Abkommen
liefern.
## Zu viele Schauplätze
Bei den Freihandelsabkommen TTIP und Ceta werde schließlich heiß über die
jeweilige Rolle der nationalen Parlamente und der EU diskutiert. „Es könnte
auch sein, dass es sich beim Marrakesch-Blindenvertrag um einen
Nebenschauplatz des größeren europapolitischen Konflikts handelt. Dass die
Bundesregierung meint, wenn sie bei einem Vertrag einknickt und die
ausschließliche Kompetenz der EU anerkennt, sich das auch auf die anderen
Verträge auswirken könnte“, mutmaßt Reda.
Auf ihrem Blog kritisiert sie, es sei „unhaltbar, einen Revierkampf über
die Kompetenzen verschiedener Institutionen auf dem Rücken von Menschen mit
Behinderungen auszutragen“. Dem stimmt auch der Direktor der Deutschen
Zentralbücherei für Blinde zu: „Dieser Streit ist müßig. Wir wollen
vorankommen, wir wollen die Büchernot beseitigen“, so Thomas Kalisch.Erst
gegen Ende des Jahres wird das EuGH-Gutachten Klarheit in diesem
Kompetenzstreit schaffen, schätzt die EU-Abgeordnete Reda. Dann wird der
Marrakesch-Vertrag längst in Nordkorea gültig sein, aller Voraussicht nach
aber nicht in Deutschland.
Der Marrakesch-Blindenvertrag fällt in den Aufgabenbereich des
Bundesjustizministeriums. Dort will man sich aufgrund des laufenden
Verfahrens allerdings nicht zum Vertrag äußern, heißt es auf taz-Nachfrage.
## Chancengleichheit und gleichberechtigte Teilhabe
Vera Bentele, die Bundesbeauftragte für Menschen mit Behinderung, drängt
auf eine zügige Ratifizierung und Umsetzung. Unabhängig vom Gutachten sieht
sie aber auch „die EU-Kommission in der Verpflichtung, Umsetzungsvorschläge
vorzulegen, zu denen die Bundesregierung dann Stellung nehmen kann“.
Bentele nimmt jedoch die Bundesregierung nicht aus der Pflicht: „Ich
erwarte, dass sie die Umsetzung des Vertrages beherzt und ambitioniert
aufnimmt.“ Solange 95 Prozent der gedruckten Werke nicht zugänglich seien,
könne man nicht von Chancengleichheit und gleichberechtigter Teilhabe
sprechen.
Vielleicht hätte Stevie Wonder den „nicht so netten Song“ über die
Untätigkeit der Politiker doch besser schreiben sollen. In New York fragte
er vor Delegierten der Vereinten Nationen jüngst: „Wie würden Sie sich
fühlen, wenn Sie kein Buch zum Lesen hätten oder Informationen nicht für
Sie zugänglich wären? Wir müssen das schleunigstens hinbekommen.“
26 Aug 2016
## AUTOREN
Sandro Schroeder
## TAGS
Blinde
Sehbehinderte
tazbehinderung
Bundesteilhabegesetz
Smartphone
Blinde
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