# taz.de -- Smartphones für Blinde: Ein Helfer für die Hosentasche | |
> Blinde nutzen zunehmend Smartphones als Alternative zu klassischen | |
> Hilfsmitteln. Wie das funktioniert und warum es sich für Programmierer | |
> lohnen kann. | |
Bild: Für Blinde nützlich: Smartphones von Apple | |
BERLIN taz | Als es Ping macht, rufen alle: „Jetzt sprechen, jetzt | |
sprechen!“ Marcel runzelt sie Stirn und drückt weiter fest auf das kleine | |
Mikrofonsymbol auf dem Handy-Bildschirm. „Also, hallo Kevin!“, sagt er dann | |
plötzlich und irgendwie ein bisschen zu laut. | |
Apps können bei vielen alltäglichen Aufgaben helfen. Blinde Menschen wie | |
Marcel müssen sich aber langsam an die tastenlosen Mobiltelefone gewöhnen. | |
Dabei sind nicht die spiegelglatten Flächen des Touchscreen ein Problem, | |
sondern die sorglos entwickelten Handyprogramme. Denn auch [1][wenn laut | |
WHO] mehr als eine Million Menschen in Deutschland sehbehindert oder blind | |
sind, achten nur wenige Programmierer auf die barrierefreie Nutzung. | |
Vorbild bei den Bedienungshilfen für Blinde waren die Smartphones von | |
Apple. Auf Initiative von Steve Jobs wurden diese bereits 2009 entsprechend | |
ausgerüstet. Mittlerweile bieten alle Anbieter diesen Service. Dafür muss | |
der Nutzer lediglich die sogenannte Screenreader-Funktion in den | |
Einstellungen aktivieren. Danach kann er mit seinen Fingern über die | |
Schaltflächen der einzelnen Elemente fahren und sich die Beschriftungen | |
vorlesen lassen. | |
Bei Apps ist entscheidend, dass die Schaltflächen richtig beschriftet sind. | |
Auf dem Bildschirm kann unter einer Anwendung eine Beschriftung wie | |
„Kalender“ stehen. Aber die Schaltfläche muss auch gesondert beim | |
Programmieren benannt werden. Fehlt das, folgt beim Antippen die Ansage: | |
„Schaltfläche nicht benannt“. Und man kann sie nicht zuordnen. | |
## Theoretisch ist jede App für Blinde geeignet | |
„Hat es Plop gemacht?“, fragt Mandy Wolff in die Runde, während Marcel noch | |
immer mit ihrem Handy hantiert. Die 34-Jährige leitet den Jugendclub und | |
sie fragt, weil ein Ping sagt, dass die Sprachnachricht aufgenommen wird. | |
Ein Plop, dass die Nachricht verschickt wurde. Das hat aber noch niemand | |
gehört. „Kein Problem“, sagt Wolff, die selbst blind ist. Habe bei ihr auch | |
eine Ewigkeit gedauert, sagt sie zu Marcel. „Das lernst Du noch.“ | |
Da der Umgang mit den Smartphones am Anfang nicht leicht ist, bieten | |
Blindenvereine Einführungskurse an. Dafür ist Marcel heute auch nach | |
Berlin-Grunewald gekommen. Dort trifft sich einmal im Monat der Jugendclub | |
des Berliner Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverein. Dieses Mal | |
stehen Smartphones auf der Agenda. | |
Wolff hat ihr Notizbuch – ein großes, goldenes Handy, das nun durch die | |
Reihen wandert – immer dabei. Wer die Screenreader-Funktion zum ersten Mal | |
nutzt, merkt schnell, wie schwierig die Steuerung ist. Nicht nur die | |
grundsätzlichen Funktionen des Handys, auch jede App funktioniert anders. | |
Manche sind zudem auf Englisch beschriftet, werden aber mit deutscher | |
Aussprache vorgelesen. Kennt man bei einer App endlich alle Funktionen, | |
kommen zudem häufig neue Versionen heraus und alles ist wieder anders. | |
## Die Steuerung ist bei jeder App anders | |
Trotzdem sind routinierte Nutzer wie Wolff von den Möglichkeiten der Geräte | |
überzeugt und während sie über verschiedene Programme spricht, unterbricht | |
sie plötzlich ihr Telefon: „Oh Gott, das ist so unfassbar geil“, krächzt | |
eine leicht abgehakte, blecherne Stimme. Sie ist mit dem Finger auf ein | |
Feld bei Facebook gekommen. Ein Beitrag ist dort in mehrere Kästen | |
unterteilt, die bei normaler Nutzung nicht sichtbar sind. Wenn man über | |
einen Kasten fährt, wird dessen Inhalt vorgelesen. | |
Da die Stimme den Nutzer den ganzen Tag begleitet, ist sie nicht ganz | |
unwichtig. „Also, ich habe Anna“, sagt ein Teilnehmer, der neben Wolff | |
sitzt. Er ist Wirtschaftsinformatiker und schwört auf die klare | |
Roboterstimme, die aus seinem Mobiltelefon tönt. „Eine gute Stimme muss | |
nicht nett klingen, sondern vor allem bei hoher Geschwindigkeit präzise | |
sprechen“, sagt er. Denn fast alle blinden Nutzer lassen die Stimmen | |
beschleunigt sprechen, sodass das untrainierte Ohr kaum folgen kann. | |
Der Grund dafür ist der Aufbau normaler Internetseiten und Applikationen. | |
Blinde erfassen die Oberfläche nicht auf einen Blick. Surft man | |
beispielsweise über die Seite eines Nachrichtenportals, werden nacheinander | |
die Schlagzeilen, Untertitel und Einleitungen vorgelesen. Sehende Menschen | |
beginnen sofort zu scrollen, Blinde müssen geduldig sein. „Wir müssen uns | |
die Seite erarbeiten, was sehr langsam geht.“ Die rasend-ratternde Stimme | |
hilft dabei ein wenig. | |
## Apps kennen sämtliche Fahrpläne des Landes | |
Wenn Mandy Wolff indes mit ihrem Smartphone E-Mails checkt, merkt man | |
nicht, dass sie den Bildschirm nicht sieht. Marcel zweifelt aber noch. „Ich | |
habe bisher nur ein Telefon mit Sprachausgabe“, sagt er. „Und das hier | |
klappt noch nicht so gut.“ Wolff macht ihm aber weiter Mut. Sie trägt immer | |
noch eine kleine, goldene Uhr, auf der sie die Ziffern fühlen kann. „Aber | |
ich würde das Smartphone trotzdem nicht mehr eintauschen.“ | |
Das liegt für sie vor allem an den kleinen Programmen, die sie im Alltag | |
unterstützen. Für die Einführung in das weite Spektrum von Apps ist an | |
diesem Nachmittag Marco Retzlaff zuständig. Die kleinen Geräte haben viele | |
nützliche Funktionen, die andere Hilfsmittel für Blinde längst hinter sich | |
gelassen haben. Die App [2][Abfahrtsmonitor] kennt die Fahrpläne sämtlicher | |
Stationen im Land. Navigationsanwendungen wie [3][BlindSquare] erklären | |
nicht nur den Weg, sondern informieren auch über die Umgebung, Restaurants | |
und Sehenswürdigkeiten. | |
Der 29-Jährige hat seine eigene Reparaturfirma für Rechner. „Vor allem | |
preislich sind Smartphones im Vorteil“, sagt Retzlaff. Sie sind zwar teuer, | |
aber die kleinen Programme für die Geräte sind meist kostenlos. Retzlaff | |
schwört beispielsweise auf die App [4][Ariadne GPS]. Dort kann er einen | |
Punkt definieren, beispielsweise den Eingang zu einem Bahnhof. Bewegt er | |
sich darauf zu, wird der Ton lauter. Auch Google Maps sei nützlich. „Das | |
ist aber trotzdem kein Blindenstock-Ersatz“, sagt Retzlaff. Die meisten | |
Geräte arbeiten mit GPS. Das könne auch mal 50 Meter daneben liegen. | |
## Keine Alternative zum Blindenstock | |
Nicht nur Navi-Hilfen revolutionieren den Alltag. Für Retzlaff ist vor | |
allem die App TapTapSee nützlich. Damit kann er ein Foto von einem | |
Gegenstand machen und die App gleicht es mit ihrem Archiv ab. „Wenn ich zum | |
Beispiel einen Drucker reparieren soll, kann sie diesen erkennen und mir | |
die Modellnummer nennen.“ | |
Weil viele dieser Programme für ihn so wichtig geworden sind, hofft | |
Retzlaff, dass sich noch mehr Entwickler fürs Programmieren solcher Apps | |
begeistern. Mit rund einer Million sehbehinderten und blinden Menschen in | |
Deutschland sei der Markt groß genug. Solange das aber noch nicht der Fall | |
ist, macht Retzlaff die Entwickler im Notfall selbst darauf aufmerksam, | |
wenn beispielsweise die Beschriftung der Schaltflächen fehlt. „Die meisten | |
reagieren auch sehr schnell“, sagt er. | |
Marcel überlegt nun, ob er sich doch ein Smartphone kauft. „Bisher fühlte | |
ich mich mit dem Touchscreen noch nicht so sicher“, sagt er und | |
konzentriert sich wieder aufs Versenden der Sprachnachricht. Und dann | |
endlich, macht es Plop. | |
20 Feb 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.dbsv.org/infothek/zahlen-und-fakten/index.html#c922 | |
[2] http://itunes.apple.com/de/app/abfahrtsmonitor/id412811098?mt=8 | |
[3] http://itunes.apple.com/de/app/blindsquare/id500557255?mt=8 | |
[4] http://www.ariadnegps.eu/ | |
## AUTOREN | |
Lea Deuber | |
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