# taz.de -- Rolle des Westens im Syrien-Krieg: Nicht dieses Foto ist schrecklich | |
> Das Bild vom kleinen Omran, ausgebombt in Aleppo, geht um die Welt. Es | |
> hält uns den Spiegel unseres eigenen Nichtstuns vor. | |
Bild: Viele Zeitungen, ein Titelbild | |
BERLIN taz | Es gibt Fotos, die sich ins Weltgewissen eingraben. Das | |
[1][nackte Mädchen], das in Vietnam vor einem Napalmangriff der USA | |
davonläuft. Das [2][verhungernde Kleinkind im Südsudan], auf das schon der | |
Aasgeier wartet. Der an einem türkischen Strand angespülte [3][tote | |
Flüchtlingsjunge Aylan]. Jedes Mal wird ein Kind zum Symbol von etwas, was | |
die Weltgemeinschaft überfordert. Man ist betroffen und hilflos – | |
angesichts von Krieg, von Flüchtlingselend. Und jetzt ist es Syrien, der | |
Bombenterror in Aleppo, der fünfjährige Omran Daqneesh. | |
Das Foto und das [4][Video] dazu stammen vom [5][Aleppo-Medienzentrum], | |
einem Netzwerk aus Bürgerjournalisten und Veteranen des zivilen | |
Widerstands. Es ist Mittwochabend, 17. August. Draußen ist es stockdunkel. | |
Aufregung herrscht auf der Straße. Ein kleiner Junge, blutend und | |
staubbedeckt, wird von Helfern hastig in einen Krankenwagen gehoben und | |
hingesetzt, nach ihm weitere Kinder. | |
Der Kameramann Mahmoud Raslan hat die Geschichte mittlerweile den | |
Weltmedien erzählt. „Ich wohne 300 Meter entfernt. Kurz nach sieben Uhr | |
abends, nach dem Abendgebet, hörten wir die Explosionen“, beginnt sein | |
Bericht. „Ich rannte mit drei anderen hin. Als Erstes sah ich, wie drei | |
Körper in einen Krankenwagen getragen wurden. Das waren die Nachbarn von | |
Omrans Familie. Das Gebäude war völlig zerstört – alle sechs Etagen waren | |
Geröll. Dann sah ich ein weiteres halb zerstörtes Haus, Omrans Haus.“ | |
Helfer der „Weißhelme“, der freiwilligen Sanitäter in Aleppo, kletterten | |
hinein. „Omran war der erste Überlebende, den sie aufhoben. Ich griff meine | |
Kamera und begann zu filmen.“ | |
Mustafa al-Sarout, einer der Aktivisten, berichtete: „Leute waren auf der | |
Straße unterwegs, als die Bomben fielen, und sie rannten in die Häuser, um | |
Schutz zu suchen, und waren dann eingeschlossen, als die Gebäude | |
zusammenfielen.“ Wie durch ein Wunder wurde Omran nur leicht verletzt. Es | |
gibt Bilder von ihm, später im Krankenhaus. Seine Eltern und seine drei | |
Geschwister überlebten. | |
## „Wahrer Repräsentant des syrischen Volkes“ | |
Als einzelnes Ereignis ist das höchstens eine Fußnote in der Chronik des | |
syrischen Horrors. Aber das Bild von Omran im Krankenwagen ging in | |
Windeseile um die Welt. Tausendfach wurde es am Donnerstag auf sozialen | |
Netzwerken geteilt, es „ging viral“, wie man so sagt. Ein syrischer | |
Nothilfekoordinator setzte Omran in einer Fotomontage in einen | |
Präsidentensessel und nannte den kleinen Jungen „den wahren Repräsentanten | |
des syrischen Volkes“. | |
Eine CNN-Nachrichtensprecherin [6][konnte ihre Tränen kaum zurückhalten], | |
als sie ihren Text zu dem Bild aufsagte. Die New York Times schrieb, Omran | |
habe „die Aufmerksamkeit einer Öffentlichkeit auf sich gezogen, die für | |
syrisches Leid taub geworden ist“. | |
Taub war das öffentlich-rechtliche Deutschland. Die ARD-„Tagesschau“ am | |
Donnerstagabend ignorierte Omran komplett. Die Tagesthemen brachten einen | |
Ausschnitt des Videos, nicht ohne den Kommentar voranzuschicken, dass in | |
Syrien eben auch Krieg mit Bildern geführt werde – eine zynische | |
Vorwarnung, dass jetzt womöglich Propaganda folgt. | |
In diese Richtung argumentiert auch Russland, das wahrheitswidrig | |
behauptet, seine Luftwaffe ziele in Syrien „nie“ auf bewohnte Gebiete und | |
die Rebellen selbst hätten wohl Omrans Haus mit einer Mine in die Luft | |
gejagt und würden jetzt eine Kampagne damit fahren. Als Beweis wird | |
angeführt, dass das Video intakte Fenster im Nachbarhaus zeige. Die | |
einzigen auf den Bildern zu erkennenden Fenster sind allerdings die des | |
Krankenwagens, und in Aleppo fliegt nur eine Seite Luftangriffe: das | |
syrische Assad-Regime und sein Bündnispartner, die russische Luftwaffe. | |
Omran steht nicht einfach für das Leid von Kindern im Krieg. Er steht für | |
ein Kriegsverbrechen, und die infrage kommenden Täter sind bekannt. | |
## Man muss die Täter benennen | |
Das Bild starrt uns an, schrieb ein Twitter-Kommentator, und wir starren | |
zurück. Gelähmt sind beide Seiten. Eigentlich müsste der kleine Junge doch | |
leben und lachen; stattdessen blickt er blutverschmiert, eingestaubt und | |
benommen in Richtung Kamera, als trage er die ganze Last des Horrors von | |
Aleppo. Eigentlich müssten wir, die Beobachter, doch etwas für ihn tun, ihn | |
umsorgen und heilen, ihm die Last nehmen. Stattdessen blicken wir entsetzt, | |
verstört und fassungslos auf dieses Foto, wie in einen Spiegel unseres | |
Umgangs mit Syrien. | |
Nicht dieses Foto ist schrecklich, sondern der Krieg in Syrien. Es nütze | |
wenig, einfach das Leid der Opfer zu beklagen, ist der Tenor mancher | |
syrischer Kommentare zu diesem Bild. Man müsse auch die Täter beim Namen | |
nennen. Wieso schaut die Welt zu, während Russland und Syriens Regierung | |
halb Aleppo in Schutt und Asche legen? | |
An diesem Wochenende jähren sich die Chemiewaffenangriffe auf | |
oppositionelle Gebiete in der Ghouta-Ebene, den südlichen und östlichen | |
Vorstädten von Damaskus am 21. August 2013. Sie hinterließen über 1.400 | |
Tote, viele davon Kinder. Propagandisten zogen auch damals systematisch die | |
Täterschaft des Regimes in Zweifel; die Weltgemeinschaft blieb untätig. | |
Seitdem sind weitere Hunderttausende in Syrien getötet worden, das | |
Nichtstun des Westens hat radikale Islamisten bestätigt und gestärkt und | |
Russland ermutigt, selbst aufseiten Assads einzugreifen, in der Gewissheit | |
kompletter Straflosigkeit. | |
## Dieses instinktive Gefühl von Hilflosigkeit | |
Heute malen traumatisierte syrische Kinder in Flüchtlingsheimen Bilder von | |
zerfetzten Leichen, über denen Bomben fallen. „Dieses Foto ist nicht das | |
Schlimmste“, kommentierte die britische TV-Journalisten Nicole Tung | |
gegenüber dem britischen Independent das Bild von Omran. „Ich habe Kinder | |
ohne Köpfe, ohne Gliedmaßen gesehen. Es gibt einen Punkt, wo die Dinge so | |
surreal werden, dass es kein Mensch mehr glaubt.“ | |
Die Fotografin Emma Beales, oft in Aleppo tätig, schreibt, Omrans Bild | |
allein könne nicht die Realität einfangen: „Dieses instinktive Gefühl von | |
Hilflosigkeit und Terror, wenn man hört, wie über dir die Flugzeuge | |
kreisen, und der zermalmende Einschlagslärm, wenn um dich herum die | |
Fassbomben fallen. Man kann das Ausmaß des Leids in Syrien kaum begreifen, | |
wenn man da ist und es sieht, also ist es unmöglich, es in den Medien | |
angemessen darzustellen.“ | |
Omran hat überlebt; andere Kinder nicht. Ihn sieht die Welt, nicht aber die | |
Toten dieser Bombennacht. Die reale Welt hat versagt. Hilft die virtuelle? | |
In der Ghouta-Ebene hat eben eine Aktion mit Pokémon-Go-Gestalten begonnen | |
– den Fantasiekreaturen, die Millionen Jugendliche dieser Tage auf ihren | |
Smartphones in der realen Welt suchen gehen. Ghoutas Kinder haben diese | |
virtuellen Wesen abgemalt und halten die Bilder in die Kamera mit dem | |
Zusatz: „Ich existiere. Komm und rette mich.“ | |
19 Aug 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://en.wikipedia.org/wiki/File:TrangBang.jpg#/media/File:TrangBang.jpg | |
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Kevin_Carter#/media/File:Kevin-Carter-Child-V… | |
[3] /!5284043/ | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=TjQECvVbXMk | |
[5] https://www.youtube.com/user/AleppoMediaCenter | |
[6] https://www.youtube.com/watch?v=Anf6w13ai8o | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Syrienkrieg | |
Aleppo | |
Medien | |
Bilder | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt Syrienkrieg | |
Aleppo | |
Syrien Bürgerkrieg | |
Gewalt | |
Aleppo | |
Syrien | |
Schwerpunkt Syrienkrieg | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Erinnerungen eines syrischen Flüchtlings: Ein Traum von Aleppo | |
Aleppo, die Schöne, liegt jetzt in Trümmern. Weite Teile der Stadt wurden | |
zerstört, Menschen sterben qualvoll. Unser Autor erinnert sich. | |
Umkämpfte Stadt in Syrien: Einigung auf Waffenruhe in Hassaka | |
Nach zweitägigen Verhandlungen verkünden die syrische Armee und kurdische | |
Kämpfer die „Einstellung aller Feindseligkeiten“ und einen Teilrückzug. | |
Bild des Jungen von Aleppo: Traumatisierung bei der Arbeit | |
Kinder sind darauf angewiesen, Erwachsenen vertrauen zu können. Das Bild | |
von Omran Daqneesh zeigt: Sie können es nicht. | |
Dramatische Lage in Aleppo: Hoffen auf die Waffenruhe | |
Um in der syrischen Stadt helfen zu können, müsse es Feuerpausen von | |
mindestens 48 Stunden geben, sagt das Deutsche Rote Kreuz. Unklar ist, ob | |
es dazu kommt. | |
Über unser Verhältnis zur Gewalt: Irgendwie sind es immer die anderen | |
Unsere Maßstäbe für Gewalt sind unpolitisch geworden: Entsetzen herrscht | |
über die Taten Einzelner. So ist kritisches Denken nicht möglich. | |
Kommentar Luftbrücke nach Aleppo: Steinmeiers Placebopolitik | |
Brot statt Waffen – wer möchte das nicht? Doch Steinmeiers Vorschlag einer | |
Luftbrücke nach Aleppo war von Anfang an eine Luftnummer. | |
Erfolg der Rebellen im syrischen Aleppo: Neue Bündnisse, neue Waffen | |
Die Tage der Aufständischen in Aleppo schienen gezählt. Doch nun kam die | |
überraschende Wende. Wie schafften sie es, wieder stärker zu werden? | |
Bürgerkrieg in Syrien: Ring um Aleppo gesprengt | |
Die Rebellen im Osten der Stadt haben ihren Erfolg der neu gefundenen | |
Einheit zu verdanken. Darunter sind auch ehemalige Al-Qaida-Kämpfer. |