# taz.de -- Erinnerungen eines syrischen Flüchtlings: Ein Traum von Aleppo | |
> Aleppo, die Schöne, liegt jetzt in Trümmern. Weite Teile der Stadt wurden | |
> zerstört, Menschen sterben qualvoll. Unser Autor erinnert sich. | |
Bild: Die Zeit vor dem Krieg: Straßenszene aus Aleppo 2007 | |
Festtage sind in Aleppo eine besondere Zeit des Glücks, eine Zeit, die von | |
der Monotonie des Alltags abweicht. Bevor ich auf der Flucht vor einem | |
mörderischen Regime und den Bomben des Bürgerkriegs nach Berlin kam, | |
bedeuteten mir die Feiertage nicht viel, aber ich ergötzte mich an der | |
Freude der anderen. Es war mir wichtig, dass meine Kinder und deren Kinder | |
die Feiertage und die Tage der Vorbereitung darauf in Vorfreude | |
verbrachten, und tat alles, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen. | |
Doch der Krieg brachte uns auseinander. Ich bin jetzt in Berlin, und meine | |
beiden Söhne leben in anderen Städten außerhalb Syriens. Meine Tochter | |
hingegen ist mit ihrer Familie in Aleppo geblieben, um sich um ihre alten | |
Schwiegereltern zu kümmern. Während der letzten Festtage verbrachte ich die | |
meiste Zeit am Telefon, denn der Krieg und das Leben in Trennung, weit fort | |
von zu Hause, haben mir nur noch die Möglichkeit gelassen, meinen Lieben | |
alles Gute zu wünschen und vielleicht selbst Glückwünsche entgegenzunehmen. | |
Aber was sollen das schon für Festtage sein angesichts der Detonationen und | |
des Mordens? Ich sprach flüchtig meine Wünsche aus und erkundigte mich | |
während des restlichen Gesprächs nach ihrem Befinden. | |
Dann kehrte ich zurück in meine Welt, mein Zimmer in einem ruhigen Viertel | |
von Berlin. Mir ist nur die Erinnerung geblieben, die ich in meiner | |
Einsamkeit wiederkäue. Doch die Freude wird zu Schmerz, und die Gebäude der | |
Stadt werden gnadenlos zerstört. | |
Ich löschte das Licht und setzte mich auf meinen Stuhl, während die alten | |
Aleppiner Lieder wie in einem Traum durch mein Zimmer hallten. | |
Um das Gebäck für die Feiertage zu backen, brauchten wir Tabletts, die wir | |
jedes Mal vom Bäcker ausliehen. Und es waren die Kinder, die die Tabletts | |
leer vom Bäcker nach Hause trugen und voll wieder zurück. Die Zubereitung | |
des Gebäcks zu Hause, das Backen beim Bäcker, das Zurückbringen der | |
fertigen Plätzchen, all dies war schon ein Fest für sich, voller | |
sehnsuchtsvollem Warten und herrlichem Chaos. | |
Ich liebte es, mich auf die hohe Steinbank zu setzen und die ins Teigkneten | |
vertieften Frauen zu beobachten. Meist riss meine Tante Suad ein Stück Teig | |
an sich, rollte es auf einem Holzbrett zu einer Schlange und machte einen | |
Kreis daraus. Und wenn sie dann mit dem Finger dort, wo die beiden Enden | |
der Schlange sich berührten, auf den Teig drückte, war das Plätzchen | |
fertig. Meine Großmutter war eine Spezialistin für Plätzchen, die mit | |
Dattelpaste gefüllt waren. Dafür drückte sie den mit der Paste angefüllten | |
Teig in die Form und schlug diese in einer faszinierenden Bewegung so gegen | |
die Tischkante, dass ihr das Plätzchen in die Hand fiel. | |
Wir lebten in einem allein stehenden Haus im Aqyul-Viertel, aber wir | |
verbrachten die Feiertage – und überhaupt die meiste Zeit – bei meinem | |
Großvater, als wäre es unser Zuhause. | |
Vor dem Fest wurden die Kinder gewaschen. Die Frauen halfen sich | |
gegenseitig, erhitzten das Wasser und reichten es einander zum Waschen an. | |
Die gewaschenen Kinder schrien und hatten die Farbe von gekochter Roter | |
Beete angenommen. Die Badeparty dauerte den ganzen Tag und ermüdete die | |
Frauen, aber sie war notwendig, denn ohne Bad würden sich die Schränke mit | |
den neuen Kleidern und den glänzenden Schuhen nicht öffnen. | |
Ich liebte die Welt der Erwachsenen, verstand sie aber nicht. Wohin nur | |
verschwanden sie am Morgen des Festtages, bevor sie uns, die Kinder, | |
angetan mit den neuen Kleidern, in einer Reihe aufstellten, auf dass | |
Großvater in Begleitung seiner Söhne und Schwiegersöhne an uns | |
entlangschritt. Mit diesem Hochgefühl des Glücks meines Großvaters begann | |
das Fest. Das Lachen der Erwachsenen und ihre Kommentare hallten in allen | |
Ecken des Hauses wider. Dann – eins, zwei, drei – sangen wir eines der | |
Lieder, die Tante Suad uns beigebracht hatte. | |
Was mag aus dem Haus meines Großvaters geworden sein, in dem sich diese | |
Festvorbereitungen zugetragen haben? | |
Es liegt im Pascha-Viertel, das vom berühmten Bab-al-Hadid-Viertel abgeht. | |
Dieses Viertel ist zum Kriegsschauplatz zwischen der Regierungsarmee und | |
der Freien Syrischen Armee geworden. Es liegt im östlichen Teil der Stadt, | |
die bis vor Kurzem belagert war. Die Stadtmauer umgibt die gesamte | |
Altstadt, und der Platz dort ist nach einem der neun Stadttore benannt. Das | |
Bab-al-Hadid-Tor mit seinem wunderbaren Turm steht noch, und ich hoffe, | |
dass es der Zerstörung wie in allen anderen Kriegen entgeht. | |
An den Feiertagen wurde der Bab-al-Hadid-Platz in einen Festplatz | |
verwandelt. Schaukeln und Riesenräder wurden aufgestellt und Zelte, in | |
denen Künstler auftraten. Es gab auch einen Zauberer auf dem Platz, der uns | |
imponierte. Er stand auf einer Holzkiste, in der er auch seine Requisiten | |
aufbewahrte. Er beförderte Rasierklingen aus seinem Mund oder zog sich ein | |
langes Seil aus miteinander verknoteten bunten Seidentüchern aus den Ohren. | |
Wir schauten mit weit aufgerissenen Augen zu. | |
## Klares Wasser und goldfarbene Fische | |
Die Dunkelheit und der Klang der Musik ließ mich auch in die Welt der Musik | |
reisen, die verbunden ist mit der Person meines Großvaters. Als ich | |
sechzehn Jahre alt war, war mein Großvater an der Reihe, die Sahniyya | |
auszurichten. Das bedeutete, dass alle Gäste einen Teller voller Speisen | |
aus eigener Herstellung mitbrachten. Wegen der großen Hitze an jenem Tag | |
wurde die Versammlung im Innenhof des Hauses abgehalten, wo wir klares | |
Wasser in den Brunnen eingelassen hatten, in dem wir goldfarbene Fische | |
schwimmen ließen. Der Hof füllte sich mit den Freunden meines Großvaters, | |
es waren Scheichs, Händler und Persönlichkeiten der Stadt, die alle die | |
Musik liebten. In unserer Stadt bestand seit jeher eine innige Beziehung | |
zwischen den Scheichs und der Musik. | |
Jene Scheichs kamen einer Musikschule gleich; kein Sänger würde in Aleppo | |
bekannt werden, hätten ihn diese Scheichs nicht geprüft und seine Stimme | |
für wohlklingend befunden. An jenem Abend fiel mir auf, dass viele der | |
anwesenden Sänger eigentlich Muezzine waren, so etwa Sabri Mudallal und | |
andere, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere. | |
Der Gesang und die Fröhlichkeit waren das Wichtigste, was die | |
Sahniyya-Abende auszeichnete. Die Fröhlichkeit schloss auch die Liebe | |
einiger Scheichs zu ihren Bäuchen ein, und hatten sie sich die Bäuche | |
vollgeschlagen, wurden mehrere Runden starken Tees in vergoldeten Gläsern | |
gereicht. Der Genuss des sorgfältig zubereiteten Tees übertraf für sie den | |
Genuss eines guten Weins, weshalb man den Tee den „Wein der | |
Religionsgelehrten“ nannte. | |
Von jenem Tag an begleitete ich meinen Großvater stets auf die monatlich | |
stattfindenden abendlichen Zusammenkünfte der Rechtsgelehrten und Scheichs. | |
Statt darauf zu warten, dass er mit der Sahniyya an der Reihe war, bestand | |
ich darauf, dass er mich mitnahm. Ich bestach ihn, indem ich ihm mit meiner | |
unmelodiösen Stimme einige Lieder vorsang, sodass er lachte, bis ihm die | |
Tränen kamen. Ich brachte ihm Lieder von Sängern mit, die gerade in Mode | |
waren und von denen er noch nie etwas gehört hatte, und das steigerte seine | |
Heiterkeit noch mehr, weil er glaubte, ich hätte mir diese Lieder für ihn | |
ausgedacht und die Namen der Sänger frei erfunden. | |
(Aus dem Arabischen von Larissa Bender) | |
28 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Nihad Siris | |
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