# taz.de -- Wissenschaftler über Türkei nach Putsch: „Erdoğan eine zweite … | |
> Haluk Sahin glaubt, dass der Präsident verunsichert ist. Er braucht jetzt | |
> Verbündete und muss einen Kompromiss mit der säkularen Opposition suchen. | |
Bild: PutschgegnerInnen solidarisieren sich mit Erdogan | |
taz: Herr Professor Sahin, Sie sagen, der Westen, die westlichen Medien, | |
würden die Situation in der Türkei nach dem missglückten Putsch falsch | |
einschätzen. PräsidentErdoğan sei gar nicht dabei, im Schnellverfahren eine | |
Einmanndiktatur zu etablieren. Er wäre im Vergleich zu der Zeit vor dem | |
Putschversuch eher geschwächt. | |
Haluk Sahin: Wir können noch nicht genau einschätzen, wie sich die Türkei | |
in den kommenden Wochen und Monaten verändern wird. Was wir jetzt erleben, | |
ist ein tektonisches Beben, das noch eine ganze Weile dauern wird. Nur | |
eines kann man schon feststellen: der scheinbar allmächtigeErdoğanwar gar | |
nicht so mächtig. Der Putsch hat gezeigt, dass er die Armee, die Polizei, | |
die Justiz eben nicht unter Kontrolle hatte. Gerettet haben ihn nicht seine | |
islamischen Freunde, gerettet haben ihn säkulare, verfassungstreue | |
Generäle, kritische Medien, die er zuvor verfolgt hat, die sich aber | |
dennoch in der Stunde der Not auf die Seite der verfassungsmäßig | |
legitimierten Regierung gestellt haben. Und eine Bevölkerung, die aus | |
leidvoller Erfahrung gegen jeden Putsch eingestellt ist. | |
Was ist mit den Massenverhaftungen, den Entlassungen Zehntausender Beamter? | |
Wurde da nicht eine vorbereitete „Säuberungswelle“, wieErdoğan sie selbst | |
nennt, durchgeführt, um sich der letzten Kritiker vonErdoğans | |
Alleinherrschaft zu entledigen? | |
Natürlich gab es Listen von Leuten, die aus dem Staatsapparat entfernt | |
werden sollten. Die werden seit Dezember 2013, als die Gülen-Gemeinde die | |
Korruptionsaffäre gegenErdoğaninszenierte, erstellt.ErdoğansAKP und die | |
Gülen-Anhänger haben ja lange genug zusammengearbeitet. Die kennen sich, | |
die wissen, wer wo was ist. | |
Wollen Sie behaupten, dass sämtliche Festnahmen von fast 20.000 Leuten und | |
bald 100.000 Entlassungen im öffentlichen Dienst alle Gülen- Anhänger | |
betreffen, die an dem Putsch beteiligt waren? | |
Natürlich nicht. Das sind Exzesse, die in einer quasi revolutionären, | |
völlig aufgeheizten Atmosphäre passieren. Da ist auch viel Panik | |
dabei.Erdoğanist verunsichert. Er hat Angst. Leute aus seiner engsten | |
Umgebung waren in den Putsch verwickelt. Er weiß nicht, wem von seinen | |
Leuten er noch trauen kann. | |
Führt eine solche Paranoia nicht in den totalen Überwachungsstaat und in | |
die Abschaffung der Demokratie? | |
Ich will das nicht ausschließen. Aber ich bin Optimist.Erdoğanhat durch den | |
Putsch gesehen, dass er das Land nicht alleine kontrollieren kann. Er | |
braucht Verbündete. Wenn er nicht völlig verrückt ist, muss er mit der | |
säkularen Opposition Kompromisse suchen. Es gibt ja erste Anzeichen dafür, | |
dass er genau das tut. Ich glaube sogar, dass der Kampf zwischen den | |
islamischen Linien, derAKP-Erdoğan-Linieund der Gülen-Bewegung letztlich | |
für die säkularen Türken die Rettung sein wird. Der Putschversuch hat doch | |
viele Leute daran erinnert, wie wichtig die Trennung von Religion und | |
Politik ist. | |
Bislang gibt es noch keine Anzeichen dafür, dassErdoğan bereit sein könnte, | |
auf eine neue Verfassung, die ihm als Präsidenten die alleinige, exekutive | |
Gewalt sichern soll, zu verzichten. | |
Warten wir es ab.Erdoğanbraucht jetzt mehr denn je die Opposition. Denn die | |
eigentliche sogenannte Säuberung innerhalb der AKP steht ja erst noch | |
bevor. Man schätzt, dass mindestens 50 Abgeordnete der | |
AKP-Parlamentsfraktion Gülen-Sympathisanten sind. Die könnten die Regierung | |
stürzen. In dieser Situation sollten wirErdoğanan eine zweite Chance geben. | |
15 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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