| # taz.de -- Debatte Olympische Spiele in Brasilien: Glitzernder Scherbenhaufen | |
| > Wirtschaftlicher Niedergang, politische Spaltung, rechter Rollback: Ist | |
| > Brasiliens Malaise eine Folge der Fußball-WM-Niederlage von 2014? | |
| Bild: Verzichtbar: funkelnde Sportevents aus Kommerzinteresse | |
| Ein unscheinbarer Politiker namens Michel Temer wird die Olympischen Spiele | |
| in Rio de Janeiro eröffnen. Er ist Interimspräsident Brasiliens, hat | |
| Beliebtheitswerte um die zehn Prozent und führt eine reine Männerregierung, | |
| die innerhalb von zwei Monaten bereits drei Minister aufgrund von | |
| Korruptionsvorwürfen verlor. Die wegen angeblicher Haushaltstricks und | |
| Defizitverschleierung suspendierte Präsidentin Dilma Rousseff bezeichnet | |
| Temer als Verräter und Putschisten. Eine delikate Situation für die über 30 | |
| erwarteten Staatschefs, denn wer sich an Temers Seite zeigt, segnet damit | |
| auch einen Machtwechsel ab, der höchst umstritten ist und kaum | |
| demokratischen Regeln folgte. | |
| Rousseff schlug Temers Einladung aus, an der Zeremonie teilzunehmen. Auch | |
| ihr Vorgänger Lula da Silva, als dessen Verdienst der Zuschlag für die | |
| Fußball-WM und die Olympischen Spiele in Brasilien gilt, will nicht | |
| mitfeiern. Seine Vision war damals eine ganz andere: Olympia wird die | |
| Krönung der zweiten Amtszeit seiner Nachfolgerin werden, Symbol für den | |
| Aufstieg Brasiliens zu einem Global Player und für den Siegeszug einer | |
| neuen, sozial ausgerichteten Wirtschaftspolitik. | |
| Stattdessen steht Brasilien jetzt vor einem Scherbenhaufen. Wirtschaftlich | |
| geht es steil bergab, politisch ist das Land in zwei verfeindete Lager | |
| gespalten. Das eilige Rollback der jetzigen Machthaber nimmt die mühsam | |
| errungenen Sozialstandards und Minderheitenrechte aufs Korn. Durch die | |
| Institutionen spült eine Säuberungswelle. Die stramm rechte Temer-Allianz | |
| will alle Spuren von 13 Jahren halblinker Regierung tilgen und auch im | |
| regionalen Kontext wieder die Dominanz einer US-freundlichen Politik | |
| festschreiben. | |
| Wie konnte es so weit kommen, was ist schiefgelaufen beim lange Zeit so | |
| erfolgreichen Modell Lula? Vor allem in Deutschland wird gern die These | |
| bemüht, dass alles Unheil 2014 im Halbfinale der Fußball-Weltmeisterschaft | |
| begann – mit der blamablen 1:7- Niederlage Brasiliens gegen die DFB-Elf im | |
| eigenen Land. Inflation, Arbeitslosigkeit, politische Wirren und leere | |
| Kassen bis hin zum Einsturz eines Panoramafahrradwegs für Olympia und dem | |
| heimtückischen Zika-Virus – alles Folgen eines angeblichen nationalen | |
| Traumas im Lieblingssport, genau wie 1950, als Brasilien im | |
| Maracanã-Stadion gegen Uruguay verlor und den sicher geglaubten WM-Titel | |
| verpasste. | |
| Doch anders als damals, als eine Niederlage und das fassungslose Schweigen | |
| von 200.000 Fans wirklich einen Schock auslöste, der bis heute die | |
| brasilianische Kultur prägt, war das 1:7 nichts weiter als eine | |
| Fußballschande. Schon lange hat der Ballsport in Brasilien an Bedeutung | |
| eingebüßt, Kommerzialisierung und Korruption zeigen ihre Wirkung. Meist | |
| wird vor halb leeren Rängen gespielt und die unglückliche | |
| Nationalmannschaft von 2014 dient den Brasilianern nicht mehr als | |
| Identifikationsfläche. | |
| ## Nicht richtig bei der Sache | |
| Schon ein Jahr vor der Fußball-WM wurde deutlich, dass Brasilien zwar den | |
| guten Gastgeber spielen würde, aber eigentlich nicht richtig bei der Sache | |
| war. Zum Confederations-Cup kam es völlig unerwartet zu | |
| Massendemonstrationen, die das Land wochenlang in Ausnahmezustand | |
| versetzten. Bis heute ist der Aufstand von 2013 nicht hinreichend erklärt. | |
| Aber vielen gilt er als Ausgangspunkt eines politischen Umbruchs und damit | |
| auch des wahrscheinlich endgültigen Machtwechsels bei der Senatsabstimmung | |
| gleich nach Olympia. | |
| Anfangs waren die Demonstrationen ein Aufstand für mehr soziale | |
| Gerechtigkeit und bessere öffentliche Dienstleistungen. Forderungen nach | |
| einem Nulltarif bei Bussen und Bahnen sowie die deutliche Kritik an | |
| Geldverschwendung und milliardenschweren Investitionen für unnötige | |
| Stadionbauten waren auch ein Appell an die Regierung der Arbeiterpartei PT, | |
| ihren ursprünglichen Zielen treu zu bleiben und eine Umverteilung des | |
| Reichtums nicht aus den Augen zu verlieren. | |
| Doch von Beginn an wirkten unter den Hunderttausenden auch andere Kräfte. | |
| Politische Parteien und ihre Mitglieder wurden ausgepfiffen, teilweise | |
| sogar mit Gewalt aus den Demos gedrängt. Mit der Zeit tauchten auch immer | |
| mehr Brasilienfahnen auf, und die eher unpolitische Forderung nach einem | |
| Ende der Korruption, ohne Verantwortliche zu nennen, wurde immer | |
| sichtbarer. | |
| Eindeutiger Wendepunkt war, als die Mainstreammedien aufhörten, die | |
| Proteste kleinzureden. Plötzlich wurden die Demonstranten zu neuen | |
| demokratischen Protagonisten hochgejubelt – und ganz subtil auch die Themen | |
| der Proteste beeinflusst. Das Kalkül war simpel: Jede Protestbewegung | |
| richtet sich auch gegen die jeweilige Regierung, also gegen die | |
| Arbeiterpartei, die die konservative Opposition, Unternehmerkreise und die | |
| durchweg rechten Privatmedien seit Jahren loswerden wollten. | |
| ## Den Bankrott herbeigeredet | |
| Trotz gellender Pfeifkonzerte gegen Rousseff in den Stadien und trotz des | |
| 1:7 wurde die erste Frau im höchsten Staatsamt im Oktober 2014 | |
| wiedergewählt. Der knappe Vorsprung der Linken war für die Rechte das | |
| Signal, zum Umsturz zu blasen. Die Unterlegenen fochten die Wahl an, | |
| klagten gegen das Wahlsystem, redeten den ökonomischen Bankrott des Landes | |
| herbei, schoben die übliche, aber erstmals juristisch ermittelte Korruption | |
| ausschließlich der Regierung in die Schuhe und machten Rousseff für alle | |
| Probleme des Landes verantwortlich. | |
| Der Versuch, eine Regierung ohne Wahlen aus dem Amt zu drängen, wurde durch | |
| erneute Massendemos legitimiert, über die die Presse intensiver berichtete | |
| als über sämtliche Fußballspiele. Gefordert wurde nur noch der Rücktritt | |
| der Regierung – vor allem „wegen Korruption“. | |
| Dass die jetzigen Machthaber, und viele Parlamentarier, die für die | |
| Amtsenthebung stimmten, nach aktuellem Ermittlungsstand viel korrupter sind | |
| als Rousseff und ihre Minister, interessiert die Demonstranten von damals | |
| nicht. Temer gibt sich als legitimer Präsident, während die PT und soziale | |
| Bewegungen Olympia nutzen werden, um den Staatsstreich vor aller Welt | |
| anzuklagen. Lula hätte vor zehn Jahren gut daran getan, auf glitzernde | |
| Sportevents zu verzichten, die von urbanen Bewegungen ohnehin nur als | |
| Menschenrechtsverletzung aus Kommerzinteresse kritisiert werden. | |
| 5 Aug 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Behn | |
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