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# taz.de -- Die Wahrheit: Kreaturen der Nacht
> Einst gingen furchterregende Gestalten umher, deren Augäpfel gelb waren
> wie geronnene Mayonnaise. Ein Augenzeugenbericht aus dunklen Tagen.
In diesen Jahren hatten wir spitze Zähne und eine aschfahle Haut. Unsere
Augäpfel waren gelb wie geronnene Mayonnaise, und das Tageslicht brannte
wie Feuer, so dass wir uns in der Schule unter langen Mänteln und
ausladenden Hüten verbargen und stets nur nachts um die Häuser zogen oder
in verrußten Kneipengewölben hockten.
Auch schienen wir nicht gut zu riechen, denn wenn wir nach Hause kamen,
sagten unsere Mütter: „Min Jung, du müffelst nach Moder!“, und deuteten in
Richtung Dusche. Die Braven! Sie hatten ja nie einen Dracula-Film mit
Meister Lee gesehen und wussten nicht, dass fließendes Wasser uns im
Handumdrehen getötet hätte!
Justi war der Erste, der erklärte, dass wir nicht länger Schnitzel mit
Pommes oder gar vegetarische Nudelaufläufe essen konnten. Er hatte ein
Mädchen aus der Elften aufgerissen, das fasziniert war von seinen
wasserblauen Pupillen und der geronnenen Mayonnaise, in der sie schwammen.
„Wenn das mein Vater sehen könnte, der alte Spießer!“, kicherte die
Ahnungslose, während sie mit uns in der Kellerkneipe hockte. Als er aber
plötzlich den Mund aufsperrte und seine Zähne in der schneeweißen Haut
ihres Halses versenkte, sprang sie kreischend auf. Dann knallte sie ihm
dermaßen eine, dass er eine Füllung ausspuckte, und rannte laut
lamentierend davon.
Es dauerte keine halbe Stunde, bis ihr Vater die Kneipenkellertreppe
herunterpolterte, und weil er nicht nur ein humorloser Spießer war, sondern
obendrein aussah wie der leibhaftige Professor Abronsius aus Polańskis
„Tanz der Vampire“, meinten wir im flackernden Kerzenlicht in seinen
Fäusten unverkennbar Pflock und Hammer ausmachen zu können.
Wir eilten in heller Panik in den hinteren Teil des Gewölbes und entflohen
durch den winzigen Luftschacht der Toilette. Damit hatte unser sorgloses
Leben für immer seine Unschuld verloren.
Am folgenden Tag erstickte Thobbe fast an einer Knoblauchzehe, die seine
bösartige kleine Schwester in den vegetarischen Nudelauflauf gemischt haben
musste, und Lutz erlitt einen Nervenzusammenbruch, als er mit einem Pfarrer
in einem Aufzug steckenblieb. Justi wiederum suchte sich eine andere
Elftklässlerin, doch die zog, als er den Mund aufsperrte und seine Hauer in
ihren Hals bohren wollte, ein großes Kruzifix aus der Handtasche und schlug
ihm damit so heftig auf den Schädel, dass er fortan ständig die Trompeten
von Jericho hörte und sich den Zeugen Jehovas anschloss.
Es reichte mir. Ich warf Hut und Mantel weg und stieg mit Taucherbrille und
Schnorchel unter die Dusche, um mir den Modergeruch abzuwaschen. Noch
heute, wenn ich am Strand in der Sonne liege und meine Haut röste oder im
Restaurant riesige Portionen Gambas mit Knoblauchöl vertilge, wundere ich
mich gelegentlich darüber, wie leicht es doch ist, andere glauben zu
machen, man wäre einer der ihren und führe ein normales, mordslangweiliges
Menschenleben.
22 Jul 2016
## AUTOREN
Joachim Schulz
## TAGS
Vampire
Jugend
Partnerschaft
Feuerwehr
Bier
Liebe
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