| # taz.de -- Die Wahrheit: Meine Cousine Stine | |
| > Sie war breit wie ein Schrank, ein Schlag von ihr konnte einen Elefanten | |
| > in Vollnarkose versetzen. Seit Kindstagen waren wir einander versprochen… | |
| Es war der letzte Wille unserer Urgroßmutter. „Sie werden heiraten, schwört | |
| es!“, hauchte sie auf dem Sterbebett. „Wir schwören es“, sagte Onkel Alw… | |
| Er machte eine Kopfbewegung hin zu den anderen Familienmitgliedern, und | |
| alle hoben die Finger. Alle bis auf Stine und mich. Denn wir lagen in | |
| unseren Kinderwagen und krähten. Dabei waren wir es, die die Angelegenheit | |
| ausbaden sollten. Das heißt: Genaugenommen nur ich. | |
| Stine kam häufig bei uns vorbei. Sie stapfte mit schweren O-Bein-Schritten | |
| herein, rief: „Denk dran, wir sind einander versprochen!“, und schlug mir | |
| so heftig auf die Schulter, dass ich ächzte. „Machst’n da?“, fragte sie … | |
| zeigte auf meine Malsachen. Ich seufzte. „Eigentlich sollte das ,Lassie' | |
| werden“, sagte ich, wie üblich aber hatte ihr Überfall dazu geführt, dass | |
| das Tuschwasser umgefallen und das Bild ruiniert war. „Phh“, machte sie, | |
| „ist doch langweilig. Lass uns lieber ,Dirty Slim und die Komantschen‘ | |
| spielen.“ Ich seufzte wieder. Denn blöderweise wurde Slim von den | |
| Komantschen immer so sehr vermöbelt, dass ich hinterher aussah, als ob ich | |
| in ungebremstem Galopp mit einem Totempfahl zusammengestoßen wäre. | |
| Wir waren verschieden und blieben es. Stines Gang wurde jedes Jahr breiter, | |
| und die Kraft, mit der sie mir auf die Schulter schlug, reichte bald aus, | |
| um einem Elefanten eine Vollnarkose zu verpassen. Ich hingegen komponierte | |
| avantgardistische Tonfolgen für Trillerpfeife und Eierschneider oder | |
| versuchte, mit Hilfe meines Chemiebaukastens aus einer gelblichen Substanz, | |
| die ich im Keller gefunden hatte, Gold zu gewinnen. Auf jeden Fall musste | |
| man für keine meiner Tätigkeiten ein größeres Säugetier k. o. schlagen | |
| können. | |
| Als Stine fünfzehn war, verdingte sie sich als Junge verkleidet auf einem | |
| Hochseetrawler. Ich atmete auf, weil ich hoffte, von ihren Besuchen künftig | |
| verschont zu werden. Aber jedes Jahr kurz vor Weihnachten kam sie zurück, | |
| stapfte mit breitem Schritt herein und rief: „Denk dran, wir sind einander | |
| versprochen!“ | |
| Anscheinend jedoch wurde ihr meine Zerbrechlichkeit mehr und mehr | |
| unheimlich. Ihre Kraft wuchs wegen des harten Seebärenlebens von Jahr zu | |
| Jahr, ihr Schlag auf meine Schulter aber wurde immer verhaltener und | |
| schließlich war es fast eine zärtliche Berührung. Im Jahr darauf fiel ihr | |
| Besuch erstmals aus, und fortan blieb sie verschwunden. Ich hörte davon, | |
| dass sie einen ehemaligen Wrestlingchampion in Manila geheiratet habe. | |
| Angeblich hatten die beiden auf ihrer Hochzeit einen Ringkampf ausgetragen, | |
| der – da Stine natürlich gewonnen hatte – entschied, dass der Wrestler mit | |
| Hilfe eines chinesischen Reproduktionslabors die Kinder der beiden gebären | |
| und großziehen sollte. | |
| Versteht sich, dass ich die Geschichte nicht glaubte. Doch als man mir | |
| wenig später erzählte, dass Stine vor der Hochzeit über den Rand der | |
| Erdenscheibe geschippert war, um Uroma im Nirwana aufzusuchen und ihre | |
| Erlaubnis für diese Verbindung einzuholen, da wusste ich, dass es der | |
| Wahrheit entsprach. | |
| 16 Aug 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Joachim Schulz | |
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