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# taz.de -- Die Wahrheit: Onkel Františeks Heimkehr
> Auf einmal stand er vor ihrer Tür: der nette unbekannte Onkel. Er
> verschwand erst, als sie mal wieder ihre Mutter anrief. Zufall?
Bild: Auf den Spuren von Veronica Ferres und Abraham Lincoln
Lena und ich lebten seit einem Jahr in einer winzigen Zweizimmerwohnung.
Wir waren kein Paar, aber ich hatte mir in den Kopf gesetzt, sie zu retten
– ausgerechnet ich, der bei einem Schiffsuntergang bestimmt nicht zu den
Helden gehören würde, die in den Unterdecks nach Eingeschlossenen suchten,
sondern über die Reling spränge, ohne die Schwimmweste festzuzurren und
kreischend in den Wellen versänke.
Wie Lena zu retten wäre, wusste ich genau: Sie passte nicht in die Stadt.
Sie war immerzu traurig, denn sie hätte – das war klar wie ein wolkenloser
sibirischer Wintertag – zurückkehren sollen in ihr Dorf am Niederrhein, um
einen braven Klempnermeister zu heiraten und ein unaufgeregtes Leben
zwischen Kindergeburtstagen, Grillabenden im Reihenhausgarten und
Weihnachtsbäckerei zu führen.
Als ich eines Abends nach Hause kam, eilte sie mir indes mit einem
strahlenden Lächeln entgegen. „Wir haben Besuch“, sagte sie, „mein Onkel…
„Dein Onkel?“, murmelte ich. Ich hatte ihn einmal kennengelernt. Alles an
ihm – seine Körperhaltung, seine Laune – machte den Eindruck, als habe er
einen Spazierstock verschluckt.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er jemals jemanden zum Lachen
gebracht hatte. Außer in dem Moment, als er den Stock verschluckte.
## Onkel František. Aus Pilsen
„Nicht der Onkel“, sagte sie: „Onkel František. Aus Pilsen.“ „Du has…
einen Onkel? In Pilsen?“ „Wusste ich bis eben auch nicht. Aber …“ –
„Bübchen! Lass mich drücken dich an mein Herz!“, unterbrach sie ein Herr,
der mich vor Wonne glucksend umarmte. „Und jetzt komm, essen!“
Er schob mich in die Küche, wo ein riesiger Topf dampfte. „Kesselgulasch
nach Tante Svetjas Geheimrezept und kaltes Bier. Das sind die zwei Säulen
des Glücks!“
Wir aßen und tranken und der Onkel erzählte von seinen Abenteuern. Er hatte
mit Hemingway in den Bars von Havanna gesessen, mit Andy Warhol Partys
gefeiert, in Woodstock gekifft. „Wir haben nur dieses eine Leben, um einen
draufzumachen, Kinderchen“, sagte er, „vorher und nachher warten nur zwei
lange, langweilige Ewigkeiten auf uns.“
## Ich blieb misstrauisch
Ich mochte ihn – und blieb doch misstrauisch. „Wieso“, flüsterte ich Lena
zu, als er auf dem Gästesofa in der Küche lag und schnarchte, „hast du noch
nie was von ihm gehört? Und wie konnte er durch den Eisernen Vorhang
flitschen, um mit Warhol und Jimi Hendrix zu feiern? Du musst deine Mutter
anrufen!“ „Sicher“, sagte sie lächelnd, streichelte mir über die Wange …
ging schlafen.
Sie rief nicht an. Abend für Abend saßen wir in der Küche, aßen die
Leckereien, die der Onkel fabrizierte, lauschten seinen Geschichten. Und
Lena lächelte. Bis ich ihr zuzischte: „Ruf deine Mutter an. Morgen. Sonst
mach ich es!“ – Sie rief an.
Als ich am nächsten Tag nach Hause kam, war er bereits fort. Zwei Wochen
später zog auch sie aus: Zurück in ihr Dorf am Niederrhein, wo sie noch
heute in einer Reihenhaussiedlung lebt und wahrscheinlich – denn als Retter
bin ich eine Fehlbesetzung – nie mehr gelächelt hat.
10 Jan 2017
## AUTOREN
Joachim Schulz
## TAGS
Wohnungen
Schiffsunglück
Besuch
Kochen
Freundschaft
Veronica Ferres
Partnerschaft
Feuerwehr
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