# taz.de -- Renaturierung eines Wirtschaftswaldes: Wenn Bäume sterben dürfen | |
> Wie schnell kann man einen Wirtschaftswald zu einer naturnahen Wildnis | |
> machen? In der Rüthnicker Heide versuchen Forscher das herauszubekommen. | |
Bild: Rüthnicker Heide: Das Abschälen der Rinde beschleunigt das Sterben der … | |
Mitten im Wald sieht es aus, als hätte ein Unwetter getobt. Kiefern liegen | |
umgeknickt auf dem Boden. Andere stehen zwar noch, sind aber bar jeder | |
Rinde, ihre Stämme geschält, zerfranst. „Das schaut jetzt erst mal wüst | |
aus“, sagt Bundesforst-Revierleiter Jürgen Dahlen. Doch hier in der | |
Rüthnicker Heide, mit dem Auto etwa eine Stunde nördlich von Berlin, folgt | |
das Chaos einer strengen Versuchsanordnung: Die Kiefern hat kein Sturm | |
umgeworfen, sondern ein Harvester, eine Holzerntemaschine. | |
Und auch nur innerhalb eines Zauns. Auf 180 Hektar wollen Wissenschaftler | |
hier die Frage klären: Wie wird aus einem reinen Wirtschaftswald möglichst | |
schnell ein naturnaher Laubmischwald? Es handle sich um das wahrscheinlich | |
größte Renaturierungsexperiment in Deutschland, sagt Biologin Heike Culmsee | |
von der verantwortlichen DBU Naturerbe GmbH. | |
Viele Wälder setzen sich heute aus ganz anderen Baumarten zusammen, als | |
dort eigentlich heimisch sind – zum Leidwesen vieler Pilzarten, vieler | |
Käfer und auch Vögel. So ist es auch in der Rüthnicker Heide. Ein Wald mit | |
ungefähr 90 Prozent Kiefern steht dort, wo eigentlich ein Buchenwald | |
wachsen würde. | |
Und er hat Altlasten: Früher diente ein Teil der Rüthnicker Heide der | |
DDR-Armee NVA als Truppenübungsplatz. Noch ist dem Ort anzusehen, dass | |
einstmals in ihm Soldaten trainierten: Eine Teerstraße führt den Förster in | |
seinem Auto mitten in den Wald hinein zu einer Raketenstellung und | |
abrissreifen Gebäuden der Kaserne, die über die Jahre verwittert sind. | |
Diese will die DBU Naturerbe GmbH bald zurückbauen – die Tochter der | |
Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) hat 2013 Verträge mit der | |
Bundesregierung geschlossen, unter anderem die 3.850 Hektar der Rüthnicker | |
Heide zu übernehmen. Sie sorgt heute mit der Nordwestdeutschen Forstlichen | |
Versuchsanstalt und der Georg-August-Universität Göttingen auch für das | |
Experiment. | |
Auf Dauer soll fast das gesamte Waldgebiet sich selbst überlassen werden. | |
Solche Flächen sind gesucht: Bis 2020 sollen sich 5 Prozent der Wälder in | |
Deutschland natürlich entwickeln. Das ist ein Ziel der Nationalen Strategie | |
zur biologischen Vielfalt. „Natürliche Entwicklung“ bedeute, dass der Wald | |
nicht mehr genutzt wird, sagt Manfred Klein, der den Agrar- und Waldbereich | |
des Bundesamts für Naturschutz (BfN) leitet. Keine Forstwirtschaft, aber | |
auch keine Pflege durch Naturschützer. | |
## Unterschiedliche Definitionen | |
Bei wie vielen Flächen das heute schon der Fall ist, beantworten | |
Naturschützer und Forst- bzw. Landwirtschaft jeweils anders, da sie die | |
Anzahl anders berechnen. Das Bundeslandwirtschaftsministerium (BMEL) folgt | |
dem Thünen-Institut, einer dem Ministerium unterstellten | |
Forschungseinrichtung. Demnach sind bereits bis zu 5,6 Prozent der | |
Waldfläche Deutschlands nutzungsfrei. Laut BfN ist die Zahl viel niedriger: | |
Heute sei man erst bei etwa 2 Prozent der Waldflächen, sagt Manfred Klein. | |
Dafür braucht man zwar nicht direkt einen naturnahen Wald: Es könnte auch | |
eine Fläche mit dort nicht heimischen Kiefern als Fläche mit natürlicher | |
Entwicklung gezählt werden, sagt Klein – solange er nicht genutzt würde. | |
Auch dann könne sich dort irgendwann die natürliche Vegetation entwickeln. | |
Eigentlich könnte man also den Wald einfach sich selbst überlassen. Aber: | |
Das sei durchaus „eine Jahrhundertaufgabe“, so Klein, bis sich etwa aus | |
einem reinen Fichtenwald ein Mischlaubwald entwickle. | |
Soll man sich also die Arbeit machen? „Wir schieben die Prozesse an und | |
lassen sie wirken“, sagt die Biologin Heike Culmsee, die bei der DBU | |
Naturerbe die Entwicklung der Flächen plant. Sonst wäre man auf Zufälle | |
angewiesen: ein Gewitter etwa, das eine Schneise in die Kiefernreihen | |
schlägt. Denn wo die Nadelbäume stehen, haben etwa Buchen kaum Chance, sie | |
bekommen zu wenig Licht durch das dichte Dach der Kiefern. Bis so also ein | |
Laub- oder Laubmischwald entsteht, könnte einige Zeit vergehen. | |
Auch deswegen macht der Wald dem Revierleiter Dahlen erst mal ganz schön | |
viel Arbeit: „Hier schaut’s schon ziemlich natürlich aus“, sagt er beim | |
Streifzug durch sein Revier und zeigt auf ein Waldstück links des Weges. | |
Seit acht Jahren arbeitet der Bayer hier auf der Fläche, auf der auch | |
außerhalb des Experiments einiges anders läuft, seit die DBU Naturerbe | |
dafür zuständig ist. „Hier hab ich schon ordentlich hineingelangt.“ | |
Luftiger wirkt es hier, ein bisschen wilder als rechts des Weges, wo | |
Kiefernstämme in Reih und Glied stehen. | |
Im Gebiet des Renaturierungsversuchs dagegen heißt es schon abwarten und | |
kontrollieren – auf vier Feldern, die sich im Grad der Einwirkung | |
unterscheiden. Die erste Variante wirkt als Kontrollfeld, auf dem gar | |
nichts gemacht wird. In den drei weiteren Varianten des Experiments geht es | |
mehr zur Sache: In einem zweiten Feld wurden Lücken in den Wald geschlagen, | |
um so Licht zu schaffen. | |
## Stehendes Totholz für die Fauna | |
In einem dritten Feld ahmen die Wissenschaftler zusätzlich Sturmschäden | |
nach: Kiefern werden umgeworfen, die Stämme aber liegen gelassen. Außerdem | |
wird „stehendes Totholz“ geschaffen – das sind die eingangs erwähnten B�… | |
ohne Rinde, die letztlich absterben. In ihnen fühlen sich beispielsweise | |
Spechte außerordentlich wohl. | |
Im vierten Feld passiert all das – aber zusätzlich werden Buchen, Eichen | |
und Linden neu gepflanzt. „Auf den 180 Hektar werden wir auch nichts mehr | |
machen“, sagt Culmsee und betont: „Nie mehr.“ Regelmäßig kontrollieren | |
Wissenschaftler, wie sich Waldstruktur und Krautschichtvegetation | |
verändern, Pilzkundler besehen die Fläche, das Käfervorkommen wird | |
untersucht. | |
„Käferzähler … in Bayern wär das ein Schimpfwort“, brummelt Revierleit… | |
Dahlen amüsiert beim Streifzug durch den Wald. Für Förster ist das | |
Experiment ziemlich ungewohnt: die Unordnung im Wald durch das | |
herumliegende Totholz, die Tatsache, dass Holz nicht verwertet wird. Auch | |
Dahlen hat es anders gelernt. Nach Bedauern klingt er aber nicht: „Ich kann | |
damit sehr gut leben“, sagt der Revierleiter. | |
## Die Ruhephase kommt später | |
Bisher schlagen er und seine Kollegen aber auch noch Holz. Das sieht man: | |
An den Rändern der Wege türmen sich aufgebahrte Stämme. „Wir sind keine | |
faulen Förster“, sagt Dahlen und lacht. Bis der Wald komplett in Ruhe | |
gelassen wird, dauere es 20, vielleicht sogar 30 Jahre. | |
Aber Revierleiter Dahlen hat sich längst an ein anderes Arbeiten gewöhnt. | |
Er steigt aus, lässt seine Hündin Maja aus dem Auto springen. Er zeigt auf | |
eine Kiefer. „Das wäre normalerweise der Zielbaum.“ Ein gerader Baum, der | |
gutes Holz verspricht, das wiederum einiges Geld einbringt. Ein so | |
gewachsener Baum bringt Waldbesitzern feuchte Augen vor Freude. Dann zeigt | |
er auf einen knorrigen Baum, dessen oberes Drittel abknickt, sein bald | |
abgestorbenes Holz wird für Käfer ein hervorragendes Revier abgeben: „So | |
was findet die DBU toll.“ | |
Biologin Culmsee würde das etwas anders sagen. Das seien zwei | |
Extrembeispiele. Auch in einem Laubmischwald, der nicht genutzt wird, gebe | |
es solches Wertholz. Mit einem Unterschied: „Der Baum dürfte alt werden und | |
sterben.“ | |
15 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Eva Oer | |
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