# taz.de -- Die Wahrheit: Wespe mit Herpes | |
> Der neue Star der radikal Ehrlichen heißt Vera Sommer und ist ein Ausbund | |
> an Wahrhaftigkeit. | |
Bild: Mit den radikal Ehrlichen gehen ständig die Pferde durch | |
Als wir uns dem Café nähern, in dem wir unsere Interviewpartnerin treffen | |
wollen, ertönt von dort lautes Geschrei: „Halt’sMaul! Du Arsch! Jedes Wort | |
von dir ist langweilig! Du bist hässlich! Deine Fresse würde noch nicht mal | |
ein Hund ficken!“ | |
Das muss sie sein: Vera Sommer (32), eine glühende Anhängerin der | |
Radical-Honesty-Bewegung, hat einen doppelten Klaren bestellt und der | |
Bedienung dazu gratis ihre ehrliche Meinung gegeigt. Denn das ist Prinzip | |
von Radical Honesty: Schonungslose Ehrlichkeit, die auch keine Übertreibung | |
und kein falsches Kompliment erlaubt. Die Homepage der vom US-Amerikaner | |
Brad Blanton gegründeten Bewegung zeigt fröhliche Menschen. Sie sitzen | |
zusammen am Tisch oder umarmen einander. Das ist vermutlich das | |
Vorher-Bild. Wie sie aussehen, nachdem sie sich die Wahrheit ins Gesicht | |
gesagt haben, wissen wir nicht. | |
Noch besser, behauptet jedenfalls Sommer. Die frühere Spitzendiplomatin im | |
Auswärtigen Amt arbeitet heute als freiberufliche Gebäudereinigerin. „Ein | |
klarer, ein ehrlicher Beruf“, schwärmt sie, „mein früheres Lügengequassel | |
hat mich unglücklich und krank gemacht.“ Auch privat hat sie ihr Glück | |
gefunden: Daniel Abbou, der ehemalige Pressesprecher des BER („Bekenne dich | |
dazu, wenn etwas scheiße gelaufen ist“), und Vera Sommer sind das neue | |
Traumpaar der Radical-Honesty-Szene. | |
Und es ist wichtig, dass sie einander haben. Denn sukzessive verloren sie | |
alle Freunde, da diese mit Radical-Honesty nicht klarkamen. Keiner blieb – | |
die Spreu trennte sich sozusagen von der Spreu und übrig blieb nur leere | |
Luft. | |
## Du stinkst! | |
Gute, saubere Luft, wie Vera findet: „Ich mein, Freunde, die nicht | |
vertragen, dass man ihnen ehrlich sagt, dass sie Arschlöcher sind, sind ja | |
irgendwo auch keine richtigen Freunde, oder? Ehrlich gesagt: Was will man | |
denn mit denen? So eine Freundschaft würde eine echte Zerreißprobe dann | |
doch gar nicht aushalten … hau ab, du Arschloch!“, herrscht sie mitten im | |
Gespräch einen Bettler an, der an unseren Tisch getreten ist, um um ein | |
paar Cent zu bitten. „Du nervst mich! Du stinkst! Geh arbeiten!“ | |
Was denn eigentlich der Unterschied zwischen Radical Honesty und Tourette | |
sei, möchten wir wissen – für uns als Laien höre sich das ziemlich ähnlich | |
an. Als sie stutzt, haken wir nach: Vom Tourettesyndrom habe sie doch | |
sicher schon gehört? | |
„Ja klar, Mann! Ich hasse das, wenn da so ein Wichtelmännchen mit | |
Schrumpfnille versucht, den intellektuell Überlegenen zu spielen. Das ist | |
so widerlich. Journalisten hasse ich ungelogen mehr als Hundescheiße, auf | |
der Wespen mit Herpes sitzen und dabei den Hitlergruß machen. Ein | |
oberflächliches, opportunistisches, verlogenes und arrogantes Gesindel, das | |
weder Interesse noch Respekt für seine Themen und seine Gesprächspartner | |
aufbringt. Stattdessen glotzt es einem unverfroren auf die Titten, während | |
es innerlich nach der nächsten Konsumeinheit Alkohol lechzt, anstatt auch | |
nur ansatzweise zu versuchen, zuzuhören und zu verstehen. Damit das klar | |
ist: Ich mach den Scheiß hier nur, damit ich mich mal so richtig öffentlich | |
auskotzen kann und in Ihrer Pinocchio-Postille hinterher wenigstens einmal | |
ein halbwegs wahrer Satz steht. Also, ehrlich gesagt, ist der Unterschied | |
eher graduell. Tourette ist ein saurer Apfel, der an einem Baum im Garten | |
hängt, Radical Honesty aber ein warmes Blech mit süßem, frisch gebackenem | |
Apfelkuchen. Manche halten ja Tourette für das ursprünglichere und damit | |
reinere Prinzip, aber ich finde das, ehrlich gesagt, nicht. Das ist | |
schließlich eine Krankheit und kein Konzept wie Radical Honesty. Andere | |
meinen deshalb sogar, dass die Tourette-Jünger irgendwie unehrlich sind, | |
weil ihrem Wirken komplett der freie Wille, ein klarer Plan und der | |
theoretische Unterbau fehlen. Aber das geht mir dann auch wieder zu weit.“ | |
## Im Takt des frühen Techno | |
Auf die Frage, ob man denn unbedingt aus reiner Taktlosigkeit Menschen | |
massiv verletzen müsse, hat Frau Sommer eine Theorie parat: „Taktlosigkeit | |
existiert nicht. Es gibt nur verschiedene Takte: So hat Radical Honesty den | |
Takt von frühem Techno. Ehrlicher geht es nicht. Die Leute aus Münchhausen | |
bevorzugen hingegen den Takt der Schlager einer Helene Fischer oder eines | |
Horst Wessel, in denen Musik und Text sich an Verlogenheit zu übertrumpfen | |
suchen. Wer hat da nun bitte mehr Taktgefühl? Hm?“ | |
Das reicht für einen Artikel – das meiste erfinden wir ohnehin. Ich erhebe | |
mich. „Danke. Ich finde Ihre Offenheit faszinierend“, lüge ich, „auf | |
Wiedersehen.“ Ich strecke ihr die Rechte zum Abschied hin. | |
Sie beachtet meine Hand nicht. Blickt mich stattdessen aus großen, | |
tiefgelben Augen an. „Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, dass Sie bald | |
sterben“, sagt sie. „Das wäre auf jeden Fall das Beste für Sie, die | |
Gesellschaft und für Radical Honesty.“ Zum ersten Mal lächelt sie nun, und | |
zu wissen, dass es ein ehrliches Lächeln ist, macht es besonders kostbar. | |
11 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Uli Hannemann | |
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