# taz.de -- Diskriminierung in der Gesellschaft: „Rassismus ist strukturell v… | |
> Die Vielfalt der Gesellschaft wird in Berlins Behörden nicht | |
> repräsentiert, sagt Daniel Gyamerah. Seine Studie möchte dieses | |
> Missverhältnis aufzeigen. | |
Bild: So gesehen sind alle gleich | |
taz: Hier, mitten im Regierungsviertel, sehen wir viele Menschen. Sie | |
unterhalten sich angeregt, sitzen in Cafés, telefonieren, eilen umher. Sie | |
stecken in Anzügen. Fast alle sind Männer. Alle sind weiß. Ihre Diagnose, | |
Herr Gyamerah? | |
Daniel Gyamerah: Wir befinden uns hier im Herzen der Macht in Deutschland. | |
Der Bundestag ist direkt um die Ecke, und auch viele | |
Interessensvertretungen von einflussreichen Wirtschaftsverbänden haben hier | |
ihre Büros. Es ist kein Geheimnis, dass in diesen Institutionen die | |
Vielfalt der Gesellschaft nicht wirklich repräsentiert ist. Was wir hier | |
sehen ist symptomatisch: Es ist das Ergebnis von vielerlei Ausschlüssen in | |
unserer Gesellschaft. | |
Deswegen gibt es immer wieder Projekte, die Menschen mit | |
Mitgrationshintergrund fördern sollen. Wie lautet denn eigentlich die | |
offizielle Definition von „Migrationshintergrund“? | |
Es gibt nicht die eine Definition. Bei der gängigsten im Mikrozensus und | |
dem Berliner Partizipations- und Integrationsgesetz umfasst sie | |
Einwander*innen und ihre Kinder. Das heißt: Meine eigenen Kinder werden in | |
Berlin aus Sicht der Verwaltung keinen Migrationshintergrund mehr haben. | |
Aber sie werden weiterhin von Rassismus betroffen sein. | |
Genau. Das heißt, ganz viele Menschen fallen aus diesen Erhebungen heraus. | |
Umgekehrt deckt sich „Migrationshintergrund haben“ und „von Rassismus | |
betroffen sein“ auch nicht. Ich habe einen tschechischen Großvater, sowohl | |
mein Vater als auch ich werden als „Deutsch“ wahrgenommen und sind nicht | |
von Rassismus betroffen. Wie findet man also heraus, wer von Rassismus | |
betroffen ist: Die Leute einfach selbst fragen? | |
Ja. Das ist ganz entscheidend und entspricht auch der EU-Vorgabe: Wir von | |
„[1][Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership]“ führen eine | |
dementsprechende Studie über Vielfalt in Führungspositionen in der Berliner | |
Verwaltung durch. | |
Wie sieht das konkret aus? | |
Wir fragen zum einen nach der Fremdidentifikation, also mit welcher | |
Zuschreibung die Person von anderen Personen diskriminiert wird. Außerdem | |
fragen wir nach der Selbstidentifikation. Dabei wird beispielsweise | |
sichtbar, wenn eine türkische Atheistin anti-muslimischen Rassismus | |
erfährt. Außerdem binden wir bereits für den Prozess der Kategorisierung | |
Expert*innen mit ein, die von sexistischer und rassistischer | |
Diskriminierung betroffen sind. | |
Das scheint Ihnen wichtig zu sein. | |
Die Frage ist doch: Wer sitzt nachher am Tisch und entscheidet? Was | |
passiert, wenn die Tür zu ist, wer spricht, wer hat das letzte Wort? Ist | |
das ein Mann? Eine Frau? Eine weiße Frau? Wer macht die Regeln? Bei | |
Schwarzen Menschen und/oder behinderten Menschen ist es Alltag, dass sie | |
nicht mit am Tisch sitzen. | |
Behinderte Menschen denken Sie auch mit? | |
Selbstverständlich. Die protestieren auch immer wieder vor dem Bundestag | |
und sagen, dass die Gesetze, die von nicht-Behinderten für sie gemacht | |
werden, [2][nicht an ihren Bedürfnissen orientiert] sind. Das ist auch eine | |
Frage der Legitimität. In der Sexismusdebatte ist es zum Glück überhaupt | |
nicht mehr legitim, dass keine Frau mit am Tisch sitzt, wenn es etwa um | |
Fragen der Gleichstellung geht. | |
Inwiefern können Ihre Datenerhebungen daran etwas ändern? | |
Eine Erhebung alleine reicht nicht. Die [3][Gleichstellungsdaten] können | |
aber aufzeigen, welche Veränderungen wichtig sind. Dann muss konsequent | |
gehandelt werden. Bei der Dimension „Geschlecht“ funktioniert das bis jetzt | |
schon einigermaßen. Wir haben ein Bundesgleichstellungsgesetz, in dem | |
steht, dass Frauen und Männer gleichzustellen sind. Das führt dazu, dass in | |
Verwaltungen und in einigen Unternehmen Daten erhoben werden, die zeigen, | |
auf welcher Hierarchieebene wie viele Frauen vertreten sind. Wenn wir | |
analog dazu rassistische Diskriminierung bekämpfen wollen, brauchen wir | |
endlich Daten darüber, welche und wie viele Menschen davon betroffen sind. | |
Und dann: Soll es die Quote für Schwarze Menschen und People of Color | |
geben? | |
Im Bereich der rassistischen Diskriminierung geht es mir gar nicht in | |
erster Linie darum, dass wir direkt morgen eine ganz konkrete Quote | |
formulieren und sagen: „Wir brauchen 31 Prozent!“ Sondern erstmal, dass es | |
überhaupt losgeht und rassistische Diskriminierung als strukturelles | |
Problem verstanden wird. Wir müssen erst den status quo ermitteln. Dann | |
können wir sehen, wo wir hin wollen. | |
Es gibt auch Kritik an solchen Datenerhebungen. Manche bezeichnen es | |
wiederum als rassistisch, wenn Menschen nach ihrer Ethnizität befragt | |
werden. | |
Es geht ja nicht darum, dass Menschen nach ihrer sogenannten Ethnizität | |
befragt werden, sondern nach ihrer Diskriminierungserfahrung. Dabei ist die | |
rassistische Zuschreibung durch Dritte entscheidend. Es ist ein | |
verführerisches Argument zu sagen: „Wir sind alle gleich und deswegen | |
wollen wir keine Daten, denn dadurch produzieren wir erst die Unterschiede | |
zwischen Menschen“. Die Diskriminierungserfahrungen und das Machtverhältnis | |
sind ja schon da, bevor wir die Daten erheben. Deswegen trägt das Argument | |
der Farbenblindheit dazu bei, dass Diskriminierung nicht wahrgenommen wird. | |
Es scheint schwer thematisierbar, dass Rassismus in Deutschland strukturell | |
vorhanden ist. Haben Sie dafür eine Erklärung? | |
Rassismus wird mit dem Nationalsozialismus und Rechtsradikalismus | |
assoziiert und mit Menschen, die intentional Böses wollen. Die meisten | |
Menschen wollen sich davon natürlich distanzieren. Denn sie sind nach ihrem | |
Selbstverständnis gute Menschen und denken, sie könnten nicht rassistisch | |
handeln. Aber so einfach ist es leider nicht. | |
Die Menschen versuchen, deshalb die Kritik von sich zu weisen. | |
Ja, und im Bereich des Rassismus haben teilweise auch noch so irrationale | |
Argumente eine Legitimität, die im Bereich des Sexismus undenkbar wären. | |
Beispielweise sagt eine Frau etwas Rassistisches – und als Untermauerung, | |
dass das nicht rassistisch sei, sagt sie: „Ich bin ja mit einem Türken | |
verheiratet…“ Das ist doch genauso sinnlos, als könnte ein Mann, sobald er | |
mit einer Frau zusammen ist, nicht mehr sexistisch sein. So ein Argument | |
könnte ich nie bringen. Da würden mir doch alle auf den Rücken schlagen und | |
fragen „Was erzählst Du denn da für einen Schwachsinn?“ | |
Es geht aber auch plumper. In der Debatten um das N-Wort wird häufig | |
einfach nur gesagt: „Ich (weiße Person) meine das nicht rassistisch, ergo: | |
ist das nicht rassistisch. Und wenn du (Schwarzer Person) das nicht | |
verstehst, kann ich ja nichts dafür. Das verstehst Du halt nicht richtig.“ | |
Es geht bei der Definition von Rassismus nicht darum, was einer meint, | |
sondern wozu seine Handlungen führen. Das steht so auch in der Definition | |
rassistischer Diskriminierung der UN-Anti-Rassismus-Konvention, die | |
Deutschland ratifiziert hat. Artikel 1 besagt ganz klar, dass es um den | |
Effekt und nicht nur um die Intention geht. Deutschland ist eigentlich | |
[4][in der Pflicht], diese Definition weitgehend bekannt zu machen und in | |
nationales Recht umzuwandeln. | |
Davon habe ich noch nichts mitbekommen. | |
Da sind Sie nicht die einzige! Daran erkennt man den Handlungsbedarf. Die | |
UN fordert Deutschland auch ausdrücklich auf, Daten darüber zu erheben, | |
welche und wie viele Menschen von Rassismus betroffen sind. | |
Haben Sie denn schon mal in Unternehmen Daten erhoben? | |
Ja, wir haben eine [5][Vorstudie] gemacht und mehr als 3.000 | |
Führungspositionen in Stiftungen analysiert. Auch von Stiftungen, die sehr | |
nach draußen gehen und sagen „Migration ist wichtig!“, „Integration ist | |
wichtig!“ „Vielfalt ist wichtig!“ – aber deren eigene Belegschaft spieg… | |
das in keinster Weise wider. Vielleicht gibt es mal ein paar | |
Projektreferent*innen, aber wenige feste Stellen. | |
Was könnten konkrete Änderungen in Unternehmen für Schwarze Menschen und | |
People of Color sein? | |
Mentoringprogramme, eine aktive Gleichstellungsförderung in Bezug auf | |
Führungspositionen oder dass in den Organisationen Gruppen von Menschen, | |
die von Rassismus betroffen sind, sich erst mal formieren können, gefördert | |
werden und ihre Interessen in der Organisation vertreten können. | |
Sie wirken auch bei der Kiez-Bibliothek „Each One Teach One“, kurz EOTO, in | |
Berlin-Wedding mit. Wie kam es dazu? | |
Während meines Studiums lernten wir, „neutral und objektiv“ zu arbeiten. | |
Trotzdem wurden in den Seminaren meistens nur weiße Männer gelesen und | |
zitiert. Dabei dachte ich mir: „Und das ist dann neutral?“ Als ich | |
mitbekommen habe, dass [6][EOTO] eine Bibliothek mit Literatur von | |
afrikanischen und afro-diasporischen Autor*innen eröffnen will, war ich | |
sofort dabei. | |
Wie kam es zu dem Namen? | |
Der Slogan „Each One Teach One“ kommt aus Schwarzen Empowernment Kontexten. | |
Schwarzen Menschen war lange der Zugang zu Bildung verwehrt. Und wenn dann | |
eine*r die Möglichkeit hat sich zu bilden, soll dieses Wissen an andere | |
weitergegeben werden. Damit wachsen gemeinsames Wissen, Perspektiven und | |
Gedankengänge, die so in der Gesellschaft nicht unbedingt immer abgebildet | |
sind. | |
Teilen Sie jetzt diese Each-One-Teach-One-Philosophie im Alltag? | |
Auf jeden Fall. Ich habe da so ein Community-Denken, dass man Wissen und | |
Zugänge zu Wissen teilt. Es geht auch darum kollektiv zu handeln. Gerade | |
wenn wir uns für Führungspositionen qualifizieren, kann es nicht sein, dass | |
wir nur technische Fähigkeiten erlangen, sondern uns auch in unserer | |
eigenen Geschichte auskennen. | |
Steht dieses community-Denken nicht im Widerspruch zum klassischen | |
„leadership“ an sich? | |
Es bringt nichts, wenn wir mehr People of Color und Schwarze Menschen in | |
Führungspositionen haben, die so weiter machen wie bisher. Führung und | |
Verantwortung muss insgesamt neu gestaltet werden. Das bedeutet auch, dass | |
Führungspersonen der Gemeinschaft gegenüber mehr Rechenschaft schuldig sein | |
müssen. Ganz nach dem ghanaischen Proverb: „Ein Kopf macht keinen Rat.“ Ich | |
will auch gar nicht jede Schwarze Person oder Führungskraft of Color gut | |
finden müssen. Im Gegenteil: Wenn sie falsche Entscheidungen trifft, will | |
ich sie auch deutlich kritisieren. Aber dafür müssen erstmal genügend in | |
diese Positionen kommen. | |
Anmerkung der Redaktion: In der Textfassung dieses Interviews wird Schwarz | |
groß geschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich um ein konstruiertes | |
Zuordnungsmuster handelt. | |
22 Jun 2016 | |
## LINKS | |
[1] ttp://vielfaltentscheidet.de/ | |
[2] http://nichtmeingesetz.de/ | |
[3] http://vielfaltentscheidet.de/argumente-fuer-gleichstellungsdaten/?back=35 | |
[4] http://rassismusbericht.de/wp-content/uploads/Anlage_19-22-.-CERD-Bericht_C… | |
[5] http://vielfaltentscheidet.de/publikationen-2/?back=35 | |
[6] http://eoto-archiv.de/ | |
## AUTOREN | |
Marisa Janson | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Diskriminierung | |
Vielfalt | |
Literatur | |
Integrationsgesetz | |
Kleingarten | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Dumme weiße Männer | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Literatur glokal: „Afrolution“ startet im Wedding | |
Das Literaturfestival „Afrolution“ bringt große Namen nach Berlin und | |
erinnert an den ersten Panafrikanischen Kongress vor 100 Jahren. | |
Integrationsgesetz beschlossen: Kontroverses Flüchtlingspaket | |
Arbeitsplatzmaßnahmen, Integrationskurse, Vorschriften zur Wohnungswahl: | |
Das Integrationskonzept ist vielschichtig. Die Länder bekommen 7 Milliarden | |
Euro. | |
Rassismus in Berliner Kleingärten: Nur Deutsche haben Zwerge | |
Weil sie „nichtdeutscher Herkunft“ sind, sollen türkeistämmige Berliner | |
keinen Kleingarten bekommen haben. | |
Kolumne Dumme weiße Männer: Klassisch rassistisch | |
Anne Will hat vier weiße Männer eingeladen, um zu diskutieren, wie | |
rassistisch Deutschland ist. Das konnte ja nur schiefgehen. | |
Kommentar zu rassistischer Rechtsprechung: Sie müssen weg | |
Für Schwarze, die auf St. Pauli mit Drogen erwischt werden, gilt ein | |
härteres Strafmaß als für Weiße. Das ist rassistisch und weit weg vom | |
Rechtsstaat. | |
Kolumne Dumme weiße Männer: Viel Testosteron, wenig Pigmente | |
In Brasilien haben korrupte weiße Männer alle Frauen und Nicht-Weißen aus | |
der Regierung getrieben. Nun leben alte Hierarchien wieder auf. |