# taz.de -- Gemeinsames Trauern im Netz: Das Leiden der Anderen | |
> Wir reagieren nicht nur auf Trauerfälle in unserer Nähe, sondern | |
> potenziell auf jedes Attentat. Kollektiv, im Netz. Oft geht es dabei | |
> weniger um Trost. | |
Bild: Nach den Terroranschlägen von Paris: iPhone App von Amazon mit französi… | |
Es ist etwas Entsetzliches geschehen. Unablässig geschieht Entsetzliches. | |
Schon klar, der Tod ist groß. Wir sind die Seinen, lachenden Munds. Wenn | |
wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen, mitten in uns. Als | |
Hinterbliebenen mag’s mich trösten, wenn ich in der Post eine Trauerkarte | |
mit der ungelenken Handschrift der fernen Tante finde: „Ich fühle mit dir | |
…“ | |
Damit tat die Tante, was Sitte ist und was „man“ eben so tut, nämlich den | |
Konventionen Genüge. Meinerseits entspreche ich den gleichen | |
Konventionen, indem ich das Beileid als „Trost“ verbuche – wobei das | |
Gefühl, wenn ich präzise wäre, eher eine zarte Rührung darüber ist, dass | |
die Tante „Beileid“ mit einem Schmerz zu empfinden behauptet, den sie in | |
ihrer Ferne doch unmöglich teilen kann. Schmerz ist unteilbar. Um den Ritus | |
abzuschließen, werde ich ihr dennoch demnächst für ihre Anteilnahme danken. | |
Meine Karte wird die Quittung sein, die den Handel erst perfekt macht. | |
Die sozialen Medien haben dieser subtilen Ökonomie von Leid und Mitleid nun | |
einen globalen Markt aufgeschlossen. Und auf diesem erweiterten Spielfeld | |
wird derzeit neu verhandelt, was wir unter Sepulkralkultur zu verstehen | |
haben. Ich reagiere nicht mehr nur auf den konkreten Trauerfall in meiner | |
Nähe, sondern potenziell auf jede tödliche Katastrophe, die mir medial nahe | |
gebracht wird. Was sich „Netzgemeinde“ oder „Community“ nennt, fällt im | |
Krisenfall mit einem erweiterten Familienbegriff zusammen. Ich fühle mich | |
betroffen, auch wenn ich es nicht bin. | |
## Ist das teilbar? | |
Zugleich fühle ich mich sozial verpflichtet, dieser Betroffenheit einen | |
Ausdruck zu verleihen. Längst ist es uns zur zwanghaften Gewohnheit | |
geworden, jede positive Wahrnehmung auf ihre „Teilbarkeit“ in sozialen | |
Netzwerken zu überprüfen und damit zu entkernen. Inzwischen hat dieser | |
Druck auch negative Empfindungen erfasst. Wut, Trauer und Empörung werden | |
mitteilungswürdig. Ich halte sie ins Licht der digitalen Öffentlichkeit und | |
damit weit weg von mir. | |
Wenn Trauer etwas mit Arbeit zu tun hat, dann ist diese Arbeit neuerdings | |
schnell erledigt. Dann wird mit ein paar Klicks das Profilbildchen auf | |
Kondolenz gebürstet; und fertig. „Like mich am Arsch“, wie es bei Deichkind | |
heißt. Hier waltet eine ähnliche Dynamik wie auf dem Dorf in Kampanien oder | |
im Schwarzwald, wo alle Bewohner sich schwarz kleiden, wenn die Frau des | |
Schneiders gestorben ist. So weit, so gut, weil soziohygienische Sitte. | |
Die Probleme beginnen dann, wenn aus „Ich fühle mit dir“ unversehens „Ich | |
bin du“ wird – wie mit „Je suis Charlie“ geschehen und seitdem in immer | |
neuen Spielarten aktualisiert. | |
Ich habe nur eine ungefähre Ahnung davon, wer „ich“ selbst überhaupt bin. | |
Aber ich weiß sehr genau, wie ich gesehen werden will. Wenn ich mein | |
Profilbild durch die Trikolore, die Regenbogenfahne oder das Atomium | |
ersetze, leite ich gewissermaßen das Leid der Anderen auf mein eigenes | |
Konto: „Ich hocke zwar nur zu Hause vor meinem Rechner. Aber ich bin auch | |
Charlie! Mich habt ihr vergessen! Ich habe überlebt!“ Und plötzlich sind | |
wir alle ferne Tanten, die den Verstand verloren haben – und so tun, als | |
hätte es sie selbst erwischt. | |
## Narzisstisches Ummünzen von privatem Leid | |
So verwandelt sich Anteilnahme in einen Akt der Aneignung, der mir zur | |
Selbstvergewisserung und Selbstverortung dient. Dass diese übergriffige | |
Anverwandlung fremden Leidens selbst ein Akt parasitärer Gewalt sein | |
könnte, kommt mir dabei nicht in den Sinn. Zu stark ist die Suggestion, | |
dass „ich“ viele sind, fast alle meine Freunde, wir sind eine riesige | |
Trauergemeinde, eine überwältigende Mehrheit. Was wir mit diesen | |
arithmetischen Zeichenspielchen zu „überwältigen“ glauben, ist das Böse | |
selbst – von dem wir ganz gewiss kein Teil sein wollen. Wobei es den bösen | |
Raubfisch kaum kümmert, wenn sich der Schwarm von seiner Gegenwart erregen | |
lässt. Im Gegenteil. | |
Dieses narzisstische Ummünzen von privatem Mitleid in kollektiviertes | |
Selbstmitleid hat noch ganz andere Folgen. Medial vermittelte Erregung ist | |
nicht einmal mehr ein Angebot, das ich annehmen oder ablehnen kann. | |
Erregung wird zur ersten Bürgerpflicht, die Trauermobilmachung total. Wer | |
nicht wenigstens einen bedauernden Tweet absetzt, wenn’s irgendwo knallt, | |
wer also nicht mit einem eigenen Beitrag in den Chor der Empörten einfällt, | |
fällt meiner ausgestellten Betroffenheit in den Rücken. | |
Schließlich ist mein Standpunkt auf der moralisch sicheren Seite umso | |
sicherer, je mehr Menschen ihn teilen. Hier wird ein Imperativ wirksam, wie | |
wir ihn von nationaler Trauerbeflaggung kennen. Sie bezieht ihre | |
pathetische Wucht aus der Gewissheit, dass die Fahne auch wirklich an jeder | |
Stange im Land auf Halbmast hängt. Wehe dem Bürgermeister oder Amtsleiter, | |
der sich dieser Anordnung entzieht. | |
In der Seefahrt übrigens, aus der sich der Flaggenquatsch an Land gerettet | |
hat, bedeutet der Halbmast das Eingeständnis einer Niederlage im Gefecht. | |
Um eben diesen Eindruck im digitalen Diskurs zu vermeiden, geben wir uns | |
gerne symbolisch wehrhaft und ungebrochen. Da verschließt dann die „spitze | |
Feder“ des Karikaturisten den Lauf der Kalaschnikow und pinkelt das | |
Manneken Pis auf die Zündschnur. Pfeifen im Walde. | |
## Konkurrierende Trauer | |
Der enorme Restschwung des Affekts aber, mit dem ich mich „solidarisch“ | |
erkläre, lässt mich auch jeden Einwand gegen dieses Ritual beiseitewischen. | |
Problematisch ist dabei nicht der gratismutige Bekenntnisdrang. Sondern der | |
Bekenntniszwang und dessen selbstgerechte Gedankenlosigkeit, die den kalt | |
kalkulierenden Terroristen in genau der Währung entlohnt, auf die er | |
spekuliert hat – Erregung. | |
Private Trauer ist ein Ding der Unmöglichkeit geworden, purer Defätismus. | |
Trauer hat eine öffentliche Gemeinschaftsleistung zu sein oder gar nichts. | |
Es stimmt schon, was Horkheimer und Adorno feststellten: „Was allen | |
Gefühlen widerfährt, die Ächtung dessen, was keinen Marktwert hat, | |
widerfährt am Schroffsten dem, woraus nicht einmal die psychologische | |
Wiederherstellung der Arbeitskraft zu ziehen ist, der Trauer“. | |
Wie wäre der Marktwert der Trauer zu steigern? Indem ich sie für mich und | |
mein Anliegen einspanne und arbeiten lasse, gern auch gegen konkurrierende | |
Trauer. Deshalb schwärmen nach jedem neuen seismischen Ausschlag auf der | |
nach oben offenen Erregungsbebenskala hypermoralische Fahnder aus wie | |
Feldjäger auf der Suche nach Deserteuren, die sich der dauerhaften | |
Emo-Mobilmachung entziehen – durch mangelhaftes Ausstellen ihrer | |
Anteilnahme oder, was noch schlimmer ist, das Setzen falscher Zeichen. | |
Früher New York, London und Madrid. Vorgestern erst Paris, gestern Brüssel, | |
heute Istanbul. Oder war es umgekehrt? War nicht auch Nairobi oder Bagdad, | |
so zwischendurch? Und ist nicht eigentlich immer Somalia und Syrien | |
sowieso? Wieso trauert, wer für Paris gebetet und Brüssel beweint hat, | |
nicht auch um die Opfer von Istanbul? Du bist „Charlie“? Warum nicht | |
„Ahmed“? | |
## „Wen kümmert’s?“ | |
Sobald Tränen als Gradmesser für die Wucht und Wichtigkeit eines Anschlags | |
anerkannt sind, haben wir es mit einem Markt zu tun. Eine virtuelle Börse, | |
auf der konkurrierende Katastrophen aufmerksamkeitsökonomischen | |
Schwankungen unterliegen. Meine Anteilnahme macht mich zum Anteilseigner. | |
Ist das Leid der Anderen erst einmal als Produkt etabliert, lassen das | |
Portfolio meiner Traueraktien und ihre Streuung vermeintlich Rückschlüsse | |
auf meine Weltanschauung zu – von „Oh mein Gott, was für eine schreckliche | |
Tragödie!“ (Europa) bis „Wen kümmert’s?“ (Afrika). | |
So mache ich mich beispielsweise des „Eurozentrismus“ verdächtig, wenn mich | |
ausweislich meines Twitter-Accounts ein IS-Anschlag in Dhaka weniger | |
berührt als ein Hochwasser in Detmold. Und als homophob wird markiert, wer | |
Orlando nicht rechtzeitig und ausdrücklich per Regenbogenfahne als | |
gezielten Anschlag auf die LGBTQ-Community verbucht und so seine leisen | |
Zweifel hat, ob der Gebrauch eines militärischen Sturmgewehrs durch ein | |
krankes Arschloch wirklich als Symptom für und logische Konsequenz von | |
gesellschaftlicher Diskriminierung sexueller Minderheiten zu lesen ist. | |
Keine fiktive Affektgemeinschaft ohne Jagd auf vermeintliche Abweichler. | |
Erregung ist nur die halbe Miete. Chaos ist die andere Hälfte, und die | |
treiben wir schon selbst ein. Aber es nützt ja nichts: „Du kannst dich | |
zurückhalten von den Leiden der Welt, das ist dir freigestellt und | |
entspricht deiner Natur“, schreibt Kafka: „Aber vielleicht ist gerade | |
dieses Zurückhalten das einzige Leid, das du vermeiden könntest“. | |
Dieses Leid nicht vermeiden zu wollen macht uns erst zu mitfühlenden Wesen. | |
Es wagt nun einmal zu weinen, mitten in uns. Und dabei macht es keinen | |
Unterschied, ob wir unsere Tränen twittern oder mit ihnen still ein | |
Apfelbäumchen bewässern. Wir sollten nur nicht der Illusion erliegen, damit | |
das Böse wegschwemmen zu können – und der Versuchung widerstehen, den | |
ganzen Rotz in einer Waagschale aufzufangen und darin herumzurühren. | |
Denn morgen wird wieder etwas Entsetzliches geschehen. | |
6 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Arno Frank | |
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