| # taz.de -- Theologin über Gender und Kulturkampf: „Hetze fällt auf fruchtb… | |
| > Die Kritiker des Gender-Mainstreaming gerieren sich gern als Opfer. Dabei | |
| > sind sie diejenigen, die ausschließen wollen, sagt Ruth Hess. | |
| Bild: Schwul und gut drauf. Bei Genderisten trotzdem unbeliebt | |
| taz: Frau Heß, wollen Sie die Leute umpolen? | |
| Ruth Heß: Klar, wir Gleichstellungsbeauftragten planen den Umsturz der | |
| ganzen Gesellschaft. Das kommt von ganz oben. | |
| Von Gott? | |
| Von der diktatorischen EU natürlich. Das ist jedenfalls das | |
| Schreckensszenario, das die Genderisten verbreiten. | |
| Sie meinen die Anti-Genderisten? | |
| Nein. Ich sage ganz bewusst Genderisten. Diese Leute wettern gegen einen | |
| angeblichen „Gender-Wahn“, gegen eine „Gender-Ideologie“. Dabei sind sie | |
| es, die fanatisch „gendern“, die Rollenklischees und Geschlechtsidentitäten | |
| ideologisch festschreiben wollen. | |
| In der öffentlichen Debatte werden die Begriffe aber anders verwendet – von | |
| beiden Seiten. | |
| Ja, wir gehen oft nicht sorgfältig genug mit unseren Begriffen um. Das | |
| machen sich die Genderisten zunutze. Sie kehren ihren Sinn radikal um, | |
| verzerren sie, machen sie lächerlich – und können bei all dem leider an | |
| manche tatsächlichen Unklarheiten und blinde Flecken anknüpfen. | |
| Dann lassen Sie uns das bitte an dieser Stelle mal klären. | |
| Gerne. Das Wort „Genderismus“ geht auf den Soziologen Erving Goffman | |
| zurück. Er rekonstruierte, wie Menschen in ihrer alltäglichen Interaktion, | |
| also durch soziale Prozesse innerlich und äußerlich vergeschlechtlicht | |
| werden. Von ihm stammt das interessante Credo: „Das Geschlecht, nicht die | |
| Religion, ist das Opium des Volkes.“ | |
| Und „Gender“? | |
| Das war ursprünglich gar kein feministischer Begriff, sondern bezeichnete | |
| zunächst das grammatische Geschlecht. Die Sexualwissenschaft hat ihn in den | |
| 50er-Jahren aufgegriffen, um ein „biologisches Rohmaterial“ vom | |
| soziokulturell konstruierten Geschlecht zu unterscheiden. In diesem | |
| Zusammenhang wurde dann auch das grauenhafte „Management“ von | |
| intergeschlechtlich geborenen Kindern, die in die eine oder andere Richtung | |
| operiert wurden, theoretisch unterfüttert. Dieses dunkle Kapitel wird jetzt | |
| genutzt, um Gender zu diskreditieren und den Eindruck zu erwecken, es gehe | |
| dabei um eine gewaltsame Umpolung. | |
| Sie nutzen den Begriff nicht? | |
| Ich spreche tatsächlich lieber von „Geschlechtlichkeit“. Das lässt sich | |
| auch nicht so leicht verteufeln, weil es ein deutsches Wort ist, das nicht | |
| wie ein Fremdkörper in unserer Sprache wirkt. Und es markiert dennoch einen | |
| anderen Blick. Ich kann damit wie durch eine Lupe einen reflexiven Blick | |
| auf die Geschlechterdynamiken werfen und sehen, welche Folgen ziehen sie | |
| nach sich, positive und negative. Über diese dekonstruktive Wende in den | |
| Sozial- und Kulturwissenschaften war es erst möglich, zu untersuchen, wie | |
| entsteht unser Alltagswissen von Geschlecht, was ist mit dem Spektrum | |
| zwischen den gut bekannten Polen männlich und weiblich. Da zeigte sich | |
| schnell, dass Geschlecht eben keine historische und kulturelle Konstante | |
| ist, wie viele denken, sondern äußerst variabel. | |
| Viel Kritik gibt es auch am Gender-Mainstreaming. | |
| Ja, das wird oft einfach mit Gender in einen Topf geworfen. Dabei ist | |
| Gender-Mainstreaming schlicht ein Instrument, um Chancenungleichheit | |
| abzubauen. Da geht es letztendlich darum, Köpfe zu zählen, wie viele | |
| Frauen, wie viele Männer hier und dort. Dekonstruiert wird erst mal nichts, | |
| im Gegenteil, die beiden Kategorien Frau und Mann werden vorausgesetzt. | |
| Dann ist der Begriff weniger problematisch? | |
| Leider nein. Denn er liefert die Steilvorlage dafür zu sagen, „die | |
| Menschen, die Geschlechtergerechtigkeit vorantreiben, sind der Mainstream – | |
| und wir, die wir traditionelle Werte hochhalten, stellen uns gegen diesen | |
| Mainstream“. Das ermöglicht ihnen, sich als Opfer zu inszenieren und als | |
| Widerstand gegen „Political Correctness“, „Tugendterror“, die angebliche | |
| Allmacht liberaler Projekte. | |
| Raffiniert. | |
| Ja, sie schaffen es, Ideologiekritik – und nichts anderes ist die Analyse | |
| von Gender – als Ideologie darzustellen. Leider haben aber auch manche | |
| derjenigen, die mit den Begriffen positiv operieren, sich die | |
| konzeptionellen Differenzen untereinander nicht klar genug gemacht. Ob sie | |
| geschlechtsbezogene Arbeit unter dem dekonstruktiven Label betreiben oder | |
| unter einem liberalen Modell von Gleichheit – und wie das zusammengeht. | |
| Halten Sie die Genderisten für gefährlich? | |
| Ja, weil sie je nach Kontext mit unterschiedlichen Gestalten und Themen | |
| ganz verschiedene Gruppen ansprechen. Da wäre Gabriele Kuby, die stark im | |
| Rechtskatholischen beheimatet ist und mit vermeintlich seriösen Broschüren | |
| ein kirchliches Publikum erreicht. Oder Birgit Kelle, die mit frechem | |
| Tonfall eine viel jüngere Zielgruppe anspricht. Oder jemand wie Akif | |
| Pirincci, der mit völlig enthemmter Sprache die „große Verschwulung“ | |
| propagiert. Auch einige renommierte Feuilletons machen munter mit. Da | |
| werden unterschiedliche Register bedient und letztlich die breite Masse | |
| erreicht. | |
| Glauben Sie nicht, dass das vorübergeht? | |
| Ich fürchte nicht. In Frankreich ist eine Massenbewegung gegen die „Ehe für | |
| alle“ entstanden. In Osteuropa äußern sich einige Bischofskonferenzen | |
| knallhart zum Thema Gender. Es lässt sich offenbar sehr gut zur | |
| Polarisierung nutzen, das haben ja auch Pegida und die AfD erkannt. Weil | |
| viele Menschen verunsichert sind und sich nach Klarheiten sehnen, fällt so | |
| eine Hetze auf fruchtbaren Boden – gerade wenn es um unser „Innerstes“ | |
| geht, Geschlecht, Sexualität. | |
| Wird dieser Bewegung zu wenig entgegengesetzt? | |
| Personen, die im Gleichstellungsbusiness unterwegs sind, haben sich für die | |
| radikale Minderheit lange nicht zuständig gefühlt. Sie waren eher damit | |
| beschäftigt, gegen verkrustete Strukturen vorzugehen, indifferente und | |
| ignorante Menschen für ihr Anliegen zu gewinnen. | |
| Und damit waren sie nicht erfolgreich? | |
| Doch, natürlich, die Erfolge darf man auch überhaupt nicht kleinreden. | |
| Menschen ändern sich durch neue Erfahrungen, Liberalisierung ist kein | |
| oberflächliches Phänomen. Und sehr viele Menschen profitieren davon – auch | |
| die Kelles und Kubys. Aber ich glaube, dass es dennoch viele gibt, die | |
| diese Schritte zu mehr Gleichstellung und Vielfalt innerlich nicht wirklich | |
| mitgegangen sind. Bisher haben sie das eher für sich behalten, es gab kein | |
| öffentliches Forum, dem sie sich anschließen konnten. Jetzt findet man im | |
| Netz T-Shirts mit dem Aufdruck „Gender geht mir auf die NervInnen“. | |
| Genervt sind ja viele, von Lehrer_innen und Polizist*innen und Professorx. | |
| Sprache konstituiert Wirklichkeit. Das beweisen ja gerade die strategischen | |
| Begriffsumdeutungen der neuen Rechten. Zum Beispiel „Gutmensch“. Da wird | |
| eine Haltung der Hilfsbereitschaft abschätzig gelabelt und damit politisch | |
| disqualifiziert. Deshalb finde ich schon, dass man sprachlich sensibel sein | |
| muss, aber man kann nicht letztlich alles kontrollieren. Und ich denke, | |
| dass negative Überzeugungen und ihre Wurzeln zu sehr im Untergrund wuchern. | |
| Vielleicht interessieren mich die Probleme von Intersexuellen gar nicht | |
| oder ich finde es okay, dass die heterosexuelle Ehe privilegiert wird. Es | |
| gibt aber zu wenig Raum, das angemessen zu besprechen. | |
| Weil es Denk- und Sprechverbote gibt? | |
| Ach nee, gucken Sie doch mal in die Zeitungen und ins Netz, was alles | |
| geäußert wird an Ressentiment und Hass. Der Witz ist, dass viele denken, | |
| sie dürften etwas nicht mehr sagen, was früher okay war. Aber eigentlich | |
| ist es so: Sie haben noch dieselben Vorurteile wie früher, müssen heute | |
| aber eben mit Widerspruch rechnen – und das akzeptieren sie nicht. Ich | |
| glaube, wir müssen offener und auch kontroverser über die verschiedenen | |
| politischen Optionen sprechen, die im Raum stehen, zu denen sich Menschen | |
| verhalten können. | |
| Welche Optionen meinen Sie? | |
| Das Interessante an der Genderismus-Debatte ist, dass die Menschen, die | |
| Vielfalt falsch finden, die „besorgten Eltern“ zum Beispiel, selten sagen, | |
| was sie eigentlich wollen. Das ist bei allen Themen so, die die neue Rechte | |
| besetzt hat. Sie sagen vehement, wogegen sie sind, aber nicht klar, welche | |
| Position sie haben. Die wabert im Hintergrund – und wird medial auch nicht | |
| genügend herausgearbeitet. Zum Beispiel gab es neulich ein Interview in der | |
| Zeit mit dem AfD-Vizechef Alexander Gauland. Darin wurde er gefragt, was er | |
| gegen Homosexuelle habe. | |
| Und? | |
| Gar nichts – gegen „normale Homosexuelle“. Die Interviewer haben nicht | |
| nachgehakt, was er damit wohl meint. Er sagte auch, er wolle sich nicht von | |
| der EU vorschreiben lassen, wie er sich gegenüber Transsexuellen zu | |
| verhalten habe. Da hätte man ihn doch fragen müssen, wie er sich diesen | |
| Menschen gegenüber denn genau verhalten möchte! | |
| Was glauben Sie, ist die Position, die nicht ausgesprochen wird? | |
| Ich glaube, dass der Streit um Sprache, diese polemisch bis hasserfüllte | |
| Auseinandersetzung um Gender nur ein Vehikel ist, um ein reaktionäres | |
| politisches Projekt voranzubringen: Dem, dass Antidiskriminierung und | |
| Gleichstellung vehement zurückgedrängt werden sollen. Diese Leute wollen | |
| einfach nicht, dass es mehr lebbares Leben für möglichst viele Menschen | |
| gibt. Sie wollen bestimmte Lebensformen bevorzugen, andere benachteiligen. | |
| Das ist der politische Antagonismus, um den es geht. Man muss jenseits der | |
| Reflexe viel mehr deutlich machen, was tatsächlich auf dem Spiel steht. Und | |
| alle müssen sich fragen: In welcher Gesellschaft wollen wir leben – in | |
| einer offenen oder einer ausgrenzenden? | |
| Und was ist, wenn die breite Masse die Homoehe als Beispiel tatsächlich | |
| ablehnt? Vielleicht ist der Mainstream homophober und sexistischer als er | |
| denkt? | |
| Ich frage mich schon, ob man die Büchse der Pandora öffnet, wenn man | |
| politisch offener diskutiert. Diejenigen, die das emanzipatorische Projekt | |
| vorantreiben, haben ja immer Aufklärung für das beste Rezept gehalten. Wenn | |
| man nur genügend erklärt, dann wird jeder Mensch guten Willens bereit sein, | |
| sich diesem Projekt anzuschließen. Aber wir haben sicher die unbewussten | |
| Kräfte unterschätzt. Es gibt tief sitzende Vorbehalte, Angst vor Macht- und | |
| Identitätsverlust. | |
| 1 Jul 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Eiken Bruhn | |
| ## TAGS | |
| Gleichstellungsbeauftragte | |
| Gender | |
| Intersexualität | |
| Simone de Beauvoir | |
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