# taz.de -- Haitianischer Autor Anthony Phelps: Verrat in Zeiten der Diktatur | |
> Endlich werden seine Romane ins Deutsche übersetzt. Eine Begegnung mit | |
> Anthony Phelps, dem großen alten Mann der Literatur Haitis. | |
Bild: Nicht gerade zimperlich beim Urteil über das eigene Werk: Anthony Phelps… | |
Die Aufzugtür neben der Hotelrezeption öffnet sich. Anthony Phelps steigt | |
aus und hebt etwas ausdruckslos die Hand zum Gruß. Doch müde wirkt er | |
eigentlich nicht, trotz des kleinen Lesemarathons, der ihn durch ganz | |
Deutschland und nun auch nach Berlin führt. Der 88-jährige Autor aus Haiti | |
mit Wohnsitz in Montréal stellt einen Roman vor, der bereits vor vierzig | |
Jahren in Québec erschien und nun – viel zu spät, aber immerhin – erstmals | |
ins Deutsche übersetzt wurde. Unter dem Titel „Wer hat Guy und Jacques | |
Colin verraten?“ | |
„Das Buch bekommt in einer Fremdsprache ein neues Leben, ich habe meine | |
Zeit also nicht vergeudet“, sagt der umtriebige und mehrfach mit dem | |
angesehenen Literaturpreis Casa de las Américas ausgezeichnete Autor. An | |
einem Tisch im leeren Hotelrestaurant nimmt er Platz und stapelt Bücher aus | |
seiner Tasche vor sich auf. | |
„Dieses hier ist ganz neu“, sagt er und zeigt auf einen blauen, | |
quadratischen Band. „Je veille, incorrigible féticheur“ (Ich wache, | |
unverbesserlicher Hexenmeister) steht auf dem Cover. „Noch im Juni werde | |
ich es beim Marché de la Poésie in Paris signieren.“ Ein Teil jener | |
Gedichtsammlung habe er in der Villa Waldberta in Feldafing geschrieben, wo | |
er das Frühjahr 2014 im Rahmen einer Künstlerresidenz verbrachte. „Es war | |
sehr schön dort, wenn auch ein wenig kalt.“ | |
„Wer hat Guy und Jacques Colin verraten?“, das vor Kurzem auch in | |
Frankreich neu verlegt wurde, liegt ebenfalls auf dem Tisch. Das Buch | |
prangert den Diktator François Duvalier aka „Papa Doc“ und seine Tontons | |
Macoutes an, jene äußerst gewalttätige Sicherheitsmiliz im Haiti der | |
Sechziger und Siebziger, benannt nach dem Butzemann der kreolischen | |
Volkstradition, der nachts durch die Straßen zieht und unartige Kinder in | |
seiner Umhängetasche (macoute) verstaut. „Manche Redundanzen waren | |
damals erforderlich, aber jetzt, wo jeder weiß, was damals los war, musste | |
ich den Text an manchen Stellen straffen. Er wirkte sonst zu geschwätzig.“ | |
Anthony Phelps ist nicht gerade zimperlich beim Urteil über das eigene | |
Werk. Genauso wenig rücksichtsvoll ist er mit seinem Protagonisten Claude | |
umgegangen. Claude geht regelrecht durch die Hölle. Seit Wochen hält er | |
sich auf seinem Balkon verschanzt. Von dort wacht er über Port-au-Prince, | |
Haitis Hauptstadt, und den verlassenen Kindergarten gegenüber, in dem seine | |
Schwester Yvonne vor dem Überfall der Tontons Macoutes arbeitete: Sie | |
kamen, um die dort versteckten Kinder des oppositionellen Anwalts Colin zu | |
entführen. Nun quält Claude die Frage: Wer konnte sie nur verraten haben? | |
## Haïti Littéraire | |
Die Geschichte ist Anfang der sechziger Jahre angesiedelt, als die | |
Brutalität der Tontons Macoutes völlig ausartet – eine entscheidende Zeit | |
in Anthony Phelps’ Leben. „Ja“, bestätigt er, „das Buch spielt zur Zei… | |
Haiti littéraire“, jener literarischen Bewegung, die er mit vier | |
befreundeten Autoren gründete: Serge Legagneur, Roland Morisseau, René | |
Philoctète und Villard Denis aka Davertige. Sie alle hatten beachtliche | |
Künstlerkarrieren und trugen zum Wiederaufleben der haitianischen Literatur | |
bei, allerdings aus dem Exil. | |
Haiti littéraire stand der Parti d’Entente Populaire nah, der | |
kommunistischen Partei Haitis, die 1959 vom Schriftsteller Jacques Stéphen | |
Alexis gegründet worden war. Unter Duvalier wurden ihre Mitglieder gezielt | |
verfolgt und massakriert. | |
Auch Anthony Phelps kam für drei Wochen ins Gefängnis, danach floh er 1964 | |
aus Haiti. „Die Kameraden machten sich über mich lustig, denn ich war ja | |
bloß in Polizeigewahrsam“ – und nicht in Fort Dimanche, wo grausam, oft | |
tödlich gefoltert wurde, erinnert er sich mit einem leisen Lächeln. „Aber | |
mir hat das schon gereicht. Danach bin ich bei jedem Bremsgeräusch auf der | |
Straße zusammengezuckt. Es ging einfach nicht mehr, ich musste weg.“ | |
Bis auf Davertige, der nach Paris floh, folgten die übrigen | |
Gründungsmitglieder der Gruppe Phelps nach Montréal. Dort setzten sie ihre | |
Treffen im Restaurant Perchoir d’Haïti fort. Der französische Name | |
„Vogelstange“ spielt auf Claudes versteckten Beobachtungsposten auf dem | |
Balkon hinter stummen Muskatnussbäumen an. | |
## Zersplitterte Persönlichkeit | |
„Im Perchoir war es aber deutlich angenehmer“, sagt Phelps. In der Tat | |
ergeht es Claude auf seinem Balkon nicht gut. Die Menschen, die mit ihm im | |
Haus leben oder ihn besuchen – der Vater, die Mutter, die Dienerin, Paul, | |
Yvonne –, sie alle scheinen Teile einer wirren Persönlichkeit zu sein, die | |
durch Folter und Repression in Stücke zersplittert ist. Noch verbindet sie | |
eine Treppe im Haus, die akribisch beschrieben wird. So akribisch wie die | |
verwinkelten Ebenen seines gespaltenen Geisteszustands. | |
Auch wenn Claude von der sich ausbreitenden Resignation nicht verschont | |
wird, in seiner Gedankenflut gelingen ihm Augenblicke hoher | |
Hellsichtigkeit, in denen er die Diktatur und ihre Verbrechen verarbeitet | |
und entmystifiziert. Doch der Wahnsinn siegt. In einem fieberhaften Moment | |
der Rachsucht fantasiert sich Claude auf den Weg zum Nationalpalast, um den | |
„Präsidenten auf Lebenszeit“ zu töten. Die Trennung zwischen Widerstand u… | |
Anpassung, Realität und Rausch, individuellem und kollektivem Scheitern | |
verschwimmt. | |
„Wissen Sie, dass der 2010 vom Erdbeben zerstörte Nationalpalast wieder | |
eins zu eins nachgebaut werden soll?“, fragt Phelps. Er schüttelt dann auch | |
selbst den Kopf: „Das wird einen Haufen Geld kosten.“ | |
Nach dem Tod des Präsidenten François Duvalier im Jahr 1971 übernahm sein | |
Sohn Jean-Claude aka „Bébé Doc“ das Zepter, bis er schließlich 1986 | |
gestürzt wurde. Seitdem reist Phelps wieder regelmäßig in die Heimat. Sein | |
vergangenes Jahr unter dem Titel „Der Zwang des Vollendeten“ auf Deutsch | |
erschienene Roman beschreibt, wie seine Versuche einer vollständigen | |
Rückkehr aber letztlich scheitern mussten. | |
## Auf Kosten der Bevölkerung | |
Ohnehin würde das Land weiterhin von einem Mauschler nach dem anderen | |
regiert. „Alle, die in Haiti Präsident werden wollen, haben lediglich Macht | |
und Geld im Sinn. Und mehr nicht.“ | |
Seit seiner Entdeckung durch Kolumbus 1492 wurde an Haiti von allen Seiten | |
so unablässig gezerrt, dass man sich fragt, wer an dem Land noch Interesse | |
haben kann. „Ich glaube einige“, meint Phelps. „Steuern werden erhoben, es | |
gibt weiterhin Möglichkeiten, Geschäfte im Plantagenbereich zu machen, und | |
es gibt internationale Hilfen aus den USA, Frankreich, Deutschland und von | |
den NGOs.“ | |
Fluch oder Segen? „Fluch! Denn wer profitiert davon?“, fragt Phelps. „Die | |
Hilfe kommt nicht uneigennützig, sondern wird immer von einem Tross | |
begleitet, der sich mit den Hilfsgeldern große Häuser und dicke Jeeps | |
mietet“, sagt er. Über die Geschäfte, die infolge des Erdbebens und auf | |
Kosten der haitianischen Bevölkerung abgewickelt wurden und den sich nur | |
mühsam organisierenden Widerstand, könnte Phelps einen Roman schreiben. | |
Auf die Frage, ob er die Entwicklung aktueller, auf Hierarchien und | |
Leitfiguren verzichtenden Protestbewegungen wie zuletzt Nuit debout oder | |
Occupy verfolgt, lehnt er sich einen Moment gelassen zurück. | |
„Zum Schreiben benutze ich nur meine zwei Zeigefinger“, antwortet er dann. | |
„Aber das hier …“ – Phelps bewegt seinen Daumen, als würde er ein | |
Smartphone bedienen –, „das kann ich nicht.“ Das Internet sei ein | |
prachtvolles Instrument, das es den Menschen ermöglicht, sich ohne | |
vertikale Struktur zu mobilisieren. Phelps lächelt. „Aber aus dem Alter bin | |
ich raus.“ | |
20 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Elise Graton | |
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