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# taz.de -- Europäische Union und Brexit: Besser ohne die Briten
> Der Brexit wäre gut für die EU. Beziehungsweise eine ihrer letzten
> Chancen, weder zu implodieren noch zur technokratischen Diktatur zu
> werden.
Bild: Vor dem Hunde wird gewarnt
Seit Monaten steht die Frage im Raum, ob der Brexit gut oder schlecht für
Großbritannien wäre. Was wirklich zur Debatte steht, ist aber, ob er gut
oder schlecht für Europa wäre. Die Antwort: Der Brexit ist gut. Und dieser
Abschiedsgruß ist umso ehrlicher empfunden, je mehr man anerkennt, dass die
Europäische Union sich im Stadium der Katatonie befindet und sich mit
Riesenschritten der Implosion nähert. Jeder kann sehen, dass ohne
drastische Initiativen der EU als politischem Projekt vielleicht Monate,
bestimmt aber nur noch wenige Jahre bleiben.
Keines ihrer dringendsten Probleme ist gelöst: Die strukturellen Ursachen
der Eurokrise wurden nicht angegangen, sie können jederzeit als Angriff der
Märkte gegen die Staatsschuldenlast einzelner Mitgliedsländer wieder
aufleben. An den diesen Schulden zugrunde liegenden Ungleichgewichten in
den Außenhandelsbilanzen hat sich auch nichts geändert – und dann ist da
noch die große Frage der Außengrenzen und also die der Geflüchteten und der
Einwanderer, eine Unterscheidung, die unfair bis pharisäisch anmutet: Die
einen fliehen vor Krieg, die anderen vor Not und Hunger. Vor allem aber
scheint niemanden der totale Mangel an demokratischer Legitimität der
europäischen Entscheidungsgremien zu interessieren: Wer bitte hätte je die
Troika gewählt?
Das Brexit-Referendum trifft Europa also zu einem fatalen Zeitpunkt, und
die Frage ist: Kann die weitere Mitgliedschaft helfen, die angesprochenen
Probleme zu lösen? Was will und kann London dazu beitragen, die notwendigen
radikalen Schritte einzuleiten, damit die EU mehr wird als ein bloßer
gemeinsamer Markt?
Nichts. Und das war auch von Anfang an klar, denn zwischen Europa und GB
gab es nie ein Band der Liebe, es war immer nur eine Zweckgemeinschaft, bei
der zudem die eine Partei darauf bestand, diese Gemeinschaft nur um den
Preis immer weiter gehender Zugeständnisse und Ausnahmeregelungen
aufrechtzuerhalten. Abgesehen davon, dass solche asymmetrischen
Verbindungen für den Liebenden immer erniedrigend sind, enden sie meist in
einem hässlichen Scheidungskrieg.
Aber es gibt noch einen tiefer liegenden Grund, warum ein Ausscheiden
Großbritanniens so gut wie unumgänglich ist, wenn man Europa retten will.
Es ist richtig, dass man ohne gemeinsame Wirtschafts- und
Sicherheitspolitik die Idee einer Union ihres Kerns beraubt. Aber es ist
nicht minder wahr, dass man, wie in den letzten Monaten gesehen, keinen
europäischen Finanz- oder Innenminister fordern kann, wenn man nicht die
Frage nach der demokratischen Legitimation der Institutionen stellt. Von
welcher gewählten Regierung würden diese Minister ernannt werden? Wem wären
sie verantwortlich? Wer könnte sie entlassen? In der gegenwärtigen
Situation wären solche Figuren nur ein weiterer Schritt hin zu einem
autoritären Regime.
## Mehr Demokratie wagen
Denn an einem kommt man nicht vorbei: Wer will, dass die durch die
Europäische Union ausgeübte Macht Ausdruck eines demokratischen Willens
ist, der muss eine europäische Volkssouveränität konstruieren. Diese
europäische Volkssouveränität aber muss unausweichlich in Konflikt geraten
mit der Volkssouveränität in den jeweiligen Nationalstaaten: Wenn man aus
der Spur hin zur technokratischen Diktatur kommen will, auf der sich die EU
derzeit befindet, dann müssen die Parlamente der Mitgliedstaaten einen Teil
ihrer Souveränität abtreten.
Damit aber überhaupt eine europäische Volkssouveränität entstehen kann,
muss sich zunächst bilden, was der Ende letzten Jahres verstorbene
Politikwissenschaftler Benedict Anderson „imaginierte Gemeinschaft“ genannt
hat, eine Gemeinschaft also, die sich als europäisch versteht, jenseits der
nationalen Identitäten. Die Wahl eines europäischen Parlamentes (wenn auch
auf nationaler Basis), die Öffnung der Grenzen, die gemeinsame Währung, die
bürokratischen Standardisierungen – all das sollte dazu beitragen, eine
neue übergeordnete Gemeinschaft imaginieren zu können. Das Ganze muss dabei
keineswegs etwas Exklusives an sich haben: In den USA kann dieselbe Person
sich gleichzeitig auf ihre irischen Wurzeln berufen und sich ganz als
Kalifornier und Amerikaner fühlen. Wenn es aber vor ein paar Jahrzehnten
noch leicht war, sich als Europäer anzusehen, so ist das heute sehr viel
schwieriger geworden.
Das ist die Zwickmühle, in der die EU heute feststeckt: Sie kann keine
politische Realität werden, ohne sich zu demokratisieren, aber ebendas
gelingt nicht, weil sie in den letzten Jahren zunehmend die Feindschaft der
europäischen Völker auf sich gezogen hat. Die griechische Syriza hat
versucht, sich gleichzeitig gegen die auferlegte Austeritätspolitik zu
stemmen und europäisch zu bleiben – mit dem Ergebnis, dass sie heute
schlechter dasteht als nationalistische Protestparteien, die sich diesen
Spagat gar nicht erst antun.
Vor knapp vier Jahren bereits hat deswegen der frühere Kommissionspräsident
Jacques Delors, wenn auch sehr schüchtern, die Unvereinbarkeit einer
Mitgliedschaft Großbritanniens mit der notwendigen Demokratisierung der EU
festgestellt. Schon am 30. Oktober 1990 hatte Margaret Thatcher in einer
Rede vor dem britischen Unterhaus der Europäischen Kommission die
demokratische Legitimation abgesprochen und gleichzeitig Delors’
Bemühungen, daran etwas zu ändern, mit einem dreifachen „No, no, no“
abgeschmettert. Unsere amerikanischen Freunde finden die Vorstellung zu
Recht lächerlich, der Gouverneur von Texas könne darüber entscheidenden,
die US-Grenze zu Mexiko dicht zu machen.
Er kann es nicht, weil es eine Bundesregierung gibt, die solche
Entscheidungen trifft und die von allen US-Bürgern gewählt wird, nicht nur
von den einzelnen Staaten; während sich in Europa keine wirklich
transnationale Partei präsentiert und kein wirklich transnationaler
Kandidat – wenn man einmal von Daniel Cohn-Bendit absieht. Wenn es aber
eine europäische Demokratie geben soll, dann muss ein Italiener den Spanier
Pablo Iglesias wählen können und ein Deutscher Alexis Tsipras. Solange
einzelne Staaten dagegen ihr Veto einlegen können, wird es eine solche
Wendung der Dinge nicht geben.
## Antieuropäische Prozession
Wenn aber die Dinge so stehen – warum wird dann so ein Gewese gemacht um
die Mitgliedschaft Großbritanniens? Wenn ich ein britischer Wähler wäre,
ich wäre zumindest irritiert von dieser Prozession der Granden von François
Hollande bis Barack Obama, vom IWF bis zur Deutschen Bank, mit ihrem
Flehen, Drohen und ihren Erpressungsversuchen. Warum wollen Frankreich und
Deutschland unbedingt, dass Großbritannien in der EU bleibt?
Die Deutschen haben ein vitales Interesse daran, ihrer exportorientierten
industriellen Wirtschaftskraft die internationale Dimension des
Finanzplatzes London an die Seite zu stellen. Das zeigen nicht zuletzt die
seit 14 Jahren andauernden Verhandlungen um das 20 Milliarden schwere
Fusionsprojekt der Frankfurter Börse mit der London Stock Exchange. Die
Franzosen wiederum glauben auf die Briten nicht verzichten zu können, um
der Übermacht der Deutschen noch etwas entgegensetzen zu können.
Beide Denkweisen zeigen uns aber nur ein weiteres Mal, dass die
europäischen Mächte eben nicht von ihrer Machtlogik lassen wollen, dem
diplomatischen Hinterzimmerballett, das sie seit dem 18. Jahrhundert
aufführen, die alte Balance of Power. Frankreich und Deutschland haben kurz
gesagt antieuropäische Gründe, Großbritannien in der Union zu halten, und
so verhält es sich auch mit allen Versuchen, die englischen Wähler in ihrem
Votum zu beeinflussen.
Dabei wäre, wen es denn zum Brexit kommt, die einzig tatsächlich
extravagante Konsequenz nur diese: dass das Englische als Verkehrssprache
der EU nur noch in zwei Mitgliedsländern Amtssprache wäre: in Irland – und
auf Malta.
Aus dem Italienischen von Ambros Waibel. Der Text ist eine stark gekürzte
Version des in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift MicroMega erschienenen
Essays „Una Brexit per il bene dell’Europa“.
21 Jun 2016
## AUTOREN
Marco d'Eramo
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