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# taz.de -- Debatte Großbritanniens Neoliberale: Oxford liegt in Scherben
> Vor der Brexit-Abstimmung wird Camerons neoliberale Denkschule immer
> unpopulärer. Davon könnte die neue Linke um Jeremy Corbyn profitieren.
Bild: Die Briten stehen vor der Wahl: Soll Großbritannien in der EU bleiben? D…
Ein Blick nach Westminster genügt: Die „Brexit“-Debatte führt maßgeblich
eine Handvoll Oxford-Absolventen. Londons ehemaliger Bürgermeister Boris
Johnson, Premier David Cameron, Schatzkanzler George Osborne – sie alle
studierten in Oxford, Johnson und Cameron sogar gemeinsam. Sie eint, neben
der Mitgliedschaft in elitären Trinkverbindungen, vor allem das neoliberale
„Oxford Thinking“ der 1980er Jahre. Doch nach dem Finanzcrash 2008 zeigt
spätestens der Zwist um den Brexit: Dieses Denken liegt in Scherben.
Als der 19-jährige Cameron 1985 in Oxford anfängt, feiert Margaret Thatcher
gerade mit dem „Big Bang“, der umfangreichen Bankenderegulierung, den
Höhepunkt ihrer Karriere. Es läuft gut für die Briten – zumindest
diejenigen, die Cameron in Oxford kennenlernt. Dazu gehören neben dem
späteren Londoner Bürgermeister Johnson und dem Parteivorsitzenden der
Conservatives Andrew Feldman auch die konservativen Journalisten James
Delingpole und Nick Cohen, die heute die Kommentarspalten der britischen
Presse füllen.
Ihr Lehrmeister Peter Sinclair ist ein aufsteigender Ökonom, der in das
neoliberale Denken seiner Zeit fällt. Für ihn ist der Neoliberalismus nicht
eine von vielen Wirtschaftstheorien, sondern die endgültige Lösung aller
Probleme. Im Kern dieses Denkens steht ein Konkurrenzkampf zwischen
selbstverantwortlichen Menschen. Wenig Staat, Steuern und Sozialleistungen,
dafür aber umso mehr Freiheit für einen selbstregulierenden Markt. Wer
nicht zu den Gewinnern zählt, hat Pech gehabt. Die konservative Elite
verinnerlichte Sinclairs Thesen so tief, dass sie zu ihrer
Lebenseinstellung wurden.
Ob sich die EU-Mitgliedschaft „lohnt“, ist nach dieser Logik eine
Kosten-Nutzen-Rechnung. Die Wahlspots beider Lager, Brexit-Befürworter und
-Gegner, beschäftigen sich fast ausschließlich mit der Frage, ob die Briten
finanziell von der EU profitieren. Wirtschaftsthemen stellen die
Kernargumente der Westminster-Elite in diesem Referendum. Von der
Verpflichtung in einer Gemeinschaft ist dort keine Rede. Genau darum geht
es aber in der EU.
## Eine neue linke Bewegung
Die britische Linke bot zum Status quo lange keine Alternativen. Um endlich
wieder in Regierungsverantwortung zu treten, verwandelte der Oxford-Student
Tony Blair seine Labour Party in New Labour. Privatisierung, Deregulierung
und Sozialkürzungen: die Konservativen in der Light-Version. So erhielt der
neoliberale Konsensus Einzug in die politische Linke. Noch bei den letzten
Wahlen 2015 trat ein New-Labour-Mann gegen Cameron an: der Oxford-Student
Ed Miliband. Mit miserablem Ergebnis. Er bot keine Alternative, nur eine
unscheinbarere Version des Amtsinhabers.
Doch die Finanzkrise 2008 hatte ein Beben ausgelöst. Nirgends in Europa
traf der Crash so hart wie im Londoner Bankenviertel. Das System war
ausgebrannt, wandte sich in schamvoller Ironie an genau den Staat, den es
eigentlich verabscheute. Der Publizist Owen Jones widmete der neoliberalen
Elite ein ganzes Buch – „The Establishment“ – und wurde zum Sprachrohr
einer jungen Bewegung.
Diese machte sich Jeremy Corbyn zu eigen. Der zentristische Flügel der
Partei verfiel in regelrechte Panik, als vergangenes Jahr die Basis der
Labour Party eines der linkesten Parteimitglieder zum Vorsitzenden wählte.
Kein Oxford-Mann, kein neoliberaler Denker und kein Establishment. Mit
seinen Forderungen, den Finanzmarkt zu regulieren und das britische
Gesundheitssystem NHS sowie Wasser und Strom zu verstaatlichen, stößt er
jedoch auf breite Unterstützung. Corbyn steht für eine
verantwortungsvollere Politik des Miteinanders und wirkt bei seinen jungen
Wählern vor allem eins: authentisch. Damit könnte er zum Mann der Stunde
werden.
Ein Blick auf seine EU-Politik zeigt: Im Rahmen der europäischen
Gemeinschaft möchte er mehr Flüchtlinge aufnehmen und an einer
demokratischen Reform der EU mitarbeiten. Dabei hat er durchaus ein
kritisches Verhältnis zu ihr. 1975 stimmte er für einen Austritt aus der
damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die damals jedoch auch
genau das war: eine reine Wirtschaftsgemeinschaft. Inzwischen, meinen auch
Corbyns Unterstützer, ist die EU längst zu einer kulturellen und sozialen
Gemeinschaft geworden.
Immer mehr britische Wähler haben den neoliberalen Konsensus und die
Oxforder Politiker, die ihn repräsentieren, satt. Das neoliberale
„Oxford-Thinking“ verfängt nicht mehr, weil es keine authentischen
Antworten mehr auf die Fragen der Gegenwart weiß.
## „Bremain“ hieße Verantwortung
Sollte es bei der Abstimmung „Bremain“ statt „Brexit“ heißen, also
Großbritannien in der EU bleiben, wird das neoliberale EU-Modell der Briten
nicht mehr funktionieren. Vorteile wie beispielsweise Subventionen zu
genießen, aber Mitverantwortung an den Herausforderungen des europäischen
Projektes von sich zu weisen – diese Rechnung wird nicht mehr aufgehen. Der
„Bremain“ wäre mehr als ein passiver Verbleib in der Union. Er würde einer
aktiven Bejahung der europäischen Grundwerte gleichkommen. Und dann müssten
die Briten auch eine Teilverantwortung an der Lösung europäischer Probleme
mittragen – angefangen mit der Flüchtlingskrise.
Verlässt sein Land die EU, sind Camerons Tage gezählt. Ob Labour dann eine
neue Chance bekommt, hängt davon ab, ob Corbyn mit seinen Narrativen die
gemäßigten Linken überzeugen kann.
Der britische Kolumnist George Monbiot sprach kürzlich vom Neoliberalismus
als der „einsamsten Ideologie der Weltgeschichte“. Wenn jeder für sich
selbst verantwortlich ist, machen Beziehungen nur Sinn, wenn sie einen
klaren Nutzen haben. Doch die EU hat sich in den letzten dreißig Jahren von
einer reinen Wirtschaftsunion zu einer kulturellen Gemeinschaft entwickelt.
Camerons neoliberale Politik kann damit nicht umgehen, es fehlt ihr die
Bereitschaft, freiwillig Verantwortung für Schwächere zu übernehmen. Ob
Griechenland oder Flüchtlinge: Als frisch bestätigtes Mitglied der EU würde
Großbritannien der Verantwortung nicht mehr aus dem Weg gehen können.
3 Jun 2016
## AUTOREN
Paul Ostwald
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Schwerpunkt Brexit
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