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# taz.de -- Als Paketbotin durchs Welltall: Jeder Tag ist wispernder All-Tag
> In seinem Film „The Whispering Star“ folgt Regisseur Sion Sono einer
> Paketbotin von Planet zu Planet durch eine postkatastrophische Welt.
Bild: Distanzierter Blick auf die Menschen: Megumi Kagurazaka als Roboter ID 72…
Sion Sono ist einer der Berserker des japanischen Kinos. Das betrifft die
Menge des Outputs, aber auch die Form seines Werks. Mag sein, dass er neben
Takashi Miike, der gerade seinen hundertsten Film dreht, mit knapp fünfzig
Werken als Faulpelz erscheint, allerdings hat er mit sechs Filmen im
vergangenen Jahr das Tempo noch einmal deutlich erhöht.
Zudem schreibt er auch noch Romane, die sich oft mit den Filmprojekten
verschränken. Zu einer großen Soloausstellung in Japan hat er ein Buch mit
nicht weniger als 550 Seiten voller Storyboards seiner Filme produziert.
Zwar dreht Sion Sono seit mehr als dreißig Jahren seine Filme, auf der
Berlinale war gerade in einer Retro das Frühwerk „I Am Sion Sono!!“ von
1984 zu sehen. Auf Festivals und im Westen hat der Regisseur aber erst in
den letzten Jahren so richtig Aufsehen erregt, mit furiosen und aus allen
Nähten berstenden Werken: etwa mit der multiplen und Sex,
Schwanzabschneiden und Katholizismus völlig unberechenbar verbindenden
Liebesgeschichte „Love Exposure“ oder dem krachbunten Mafia-Musical „Tokyo
Tribe“, dessen Energie alle Einwände einfach wegbläst.
Einwände, die da lauten könnten: Nichts zu Ende gedacht, wilde
Drauflosfilmerei, Undiszipliniertheit, das Unperfekte als Methode,
eindrücklich verkörpert etwa in den schiefen Raps, die in „Tokyo Tribe“
alle Dialoge in schräge Sprachmusik übersetzen.
Und nun kommt aus heiterem Himmel „The Whispering Star“, ein Film, der mit
dem hysterischen Sion Sono, den man kennt, wenig zu tun hat. Hier wird
nicht gerappt, getobt, gesungen, sondern tatsächlich, wie der Titel
verspricht: ohne Ende geflüstert.
Außerdem ist alles, mit der prägnanten Ausnahme eines kurzen, mit
klassischer Musik unterlegten Moments, in Schwarz-Weiß. Zudem ist der Stern
des Titels ganz wörtlich zu nehmen: Es handelt sich um Science-Fiction,
kein Genre, mit dem man diesen Regisseur bisher in Verbindung gebracht hat.
## ID 722 Yoko Suzuki, batteriebetrieben
Sterneneinsam zieht ein Raumschiff durchs All und durch die Zukunft, mit
einer Frau darin, die kein Mensch ist, sondern eine batteriebetriebene
Androidin namens ID 722 Yoko Suzuki. Als Paketbotin transportiert sie Dinge
der Menschen durchs All auf Planeten, die alle sehr erdähnlich sind. Das
Raumschiff freilich ist eigentlich eine kleine Wohnung, so eine Art
raketenbetriebenes Railroad-Apartment, mit Küche und Kleiderschrank und
Motten im Licht.
„The Whispering Star“ ist vor allem eines: langsam, sehr langsam, Bilder in
Trance zeigen ein ritualisiertes Leben nahe am Stillstand an Bord des
Wohnküchenschiffs, über das die Tage in rasender Eile dahinziehen, nur dass
die Zeit dabei das Geschehen, das Tun und das Denken, auch die Wahrnehmung
des Zuschauers niemals kerbt.
## Montag Teekochen
Montag, Dienstag, Mittwoch und so weiter, immerzu sagen Zeittafeln die
Wochentage an, manchmal in Sekundenabständen, aber auf dem Paketschiff ist
jeder Tag wispernder All-Tag. Yoko Suzuki kocht Tee, Montag, sie räumt
Sachen aus dem Schrank, Dienstag, sie dreht den Wasserhahn auf, Mittwoch,
sie tauscht die Batterien aus, Donnerstag.
Und dann, gelegentlich, legt sie auf einem Planeten an. Sie nimmt eine der
weißen unverschlossenen Pappschachteln, überbringt sie Jahre nach dem
Versand der Empfängerin oder dem Empfänger, lässt den Paketschein
unterschreiben oder stempeln, spricht ein paar Worte oder auch nicht,
einmal fährt sie auch Fahrrad, immer kehrt sie an Bord ihres Raumschiffs
zurück, hebt ab, fliegt weiter. In Schwarz-Weiß, langsam, ohne eine Miene
zu verziehen. Eine der Paket-Empfängerinnen, eine sehr alte Frau, betreibt
am Meer einen verlassenen Zigaretten-Verkaufsstand. Suzuki kauft eine
Packung, auch Androiden träumen von nichtelektrischen Zigaretten.
Auf den Planeten leben nur noch wenige Menschen, achtzig Prozent der
Bewohner des Universums, sagt eine Einblendung, sind Androiden. Die
Landschaft ist wüst, Zeugnisse menschlichen Lebens sind verstreute Relikte,
die Androidin und die Kamera bewegen sich durch eine hingeträumt verlassene
postkatastrophische Welt.
Man sieht Städte, in deren Läden nichts mehr passiert, auf deren Straßen
höchstens ein alter Mann noch unterwegs ist, eine Blechdose am Fuß, deren
Geräusch bei jedem Schritt die Stille durchbricht. Die Menschen sind
furchtbar lärmempfindlich geworden. Alles, was über dreißig Dezibel geht,
droht sie zu töten. Vor der Stadt einsam brandendes Meer, die Natur erobert
sich ihren Platz in von Menschen geschaffenen Städten und Straßen zurück.
## Der Drehort war Fukushima
Sono hat diese Szenen allesamt in Fukushima gedreht, und von dieser
Tatsache her gewinnt „The Whispering Star“ seine allegorische Lesbarkeit:
Das ganze Science-Fiction-Szenario erscheint als ausgeglühtes Nachbild und
ersterbender Nachklang der Tsunami- und Reaktorkatastrophe, deren sehr
reale Folgen Siono Sono in die irreale Ambient-Schönheit seines ganz
eigenen Weltraums sanft überführt.
Von einem Fehler, den die Menschheit gemacht hat, ist ganz am Anfang von
„The Whispering Star“ zu lesen: Hier sind die Bilder, hier ist der Ort,
hier ist der tödliche Frieden, hier sind die Dinge in Schachteln, mit denen
Menschen einander daran erinnern, was menschliche Erinnerungen sind.
Wir bekommen, weil die Androidin Suzuki neugierig ist, die Dinge in den
Schachteln zu sehen: ein toter Schmetterling, ein Filmstreifen, Reste,
Überreste; alles ganz analog, wie überhaupt angesichts der in der
Zukunftswelt real existierenden Teleportation das Postschiff (und sicher
auch der Film insgesamt) ein etwas nostalgisches Gefährt ist. Das dann, auf
allerdings ganz unaufdringliche Weise, um sich selbst und seine eigene
Geschichte zu kreisen beginnt. So entdeckt Suzuki ein altes Tonbandgerät
(auch sehr analog), auf dem sie sich ihre eigenen Aufzeichnungen aus
früheren Jahren der Reise abzuspielen beginnt.
## Altmodische Glühlampen
Aber auch die mit flüsternder Frauenstimme sprechende Kommandozentrale des
Schiffs hat mit handelsüblichen und filmhistorisch vertrauten
Technikfantasien der Science-Fiction wenig zu tun: Sie sieht wie ein
altertümliches Röhrenradio aus, sie signalisiert nicht mit LED-Blinken,
sondern mit Glühlampen-Flackern.
Ein bisschen ein Wunder ist es, dass die Navigation funktioniert und das
Schiff überhaupt periodisch die Fukushima-Planeten sowie die Paketempfänger
erreicht. Denn der sanfte Bordcomputer ist ein wenig verpeilt, oder
jedenfalls in den Anblick der weißen Deckenleuchte verliebt, in deren
Innerem gefangene Falter leise flatternde und flackernde
Schwarz-Weiß-Kontraste erzeugen. Der Computer verwechselt das mit dem
Sternenhimmel. Trotzdem kommt alles an.
Mit Realismus hatte Sion Sono noch nie was am Hut. Darin bleibt er sich
treu, nur dass er alles, was in seinen Filmen sonst überbordet und aus den
Fugen geht, diesmal in Understatement und Ruhe und Flüstern zurücknimmt.
Statt Überfülle nun Leere. Aber diese Leere hat eine Schönheit eigener Art.
Am eindrücklichsten in der finalen Sequenz. Ein Scherenschnittkorridor vor
milchigen Wänden. Wir blicken auf die Menschen dahinter wie der
Bordcomputer auf die Falter im Licht. Ein Blick, der auf Distanz bleiben
muss. Es ist dieser posthumane Blick, den „The Whispering Star“ schmerzlich
schön inszeniert.
27 May 2016
## AUTOREN
Ekkehard Knörer
## TAGS
Science-Fiction
Fukushima
Trash
Kino
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