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# taz.de -- Rückschrittliche Verordnung: Bauverwaltung errichtet Barrieren
> Die neue Berliner Bauordnung soll noch vor dem Sommer beschlossen werden.
> In Sachen Barrierefreiheit ist sie ein dramatischer Rückschritt, warnen
> Behindertenvertreter.
Bild: Merke: Nach links geht's nicht zur Barrierefreiheit
Mehr als 40.000 barrierefreie Wohnungen fehlen in Berlin, bis 2030 werden
es 180.000 sein. Außerdem ist nur jedes zweite öffentlich zugängliche
Gebäude in Berlin rollstuhlgerecht. Da kann man nur sagen: Zum Glück wird
gerade die Bauordnung überarbeitet. Am 1. Juni wird der Entwurf im
Bauausschuss beraten, noch vor der Sommerpause soll er vom Senat
beschlossen werden. Jetzt kommt der Haken: „Die überarbeitete Bauordnung
ist ein Rückschritt in Sachen Barrierefreiheit um 20 Jahre“, sagt Dominik
Peter, Vorsitzender des Berliner Behindertenverbands.
Drei große Kritikpunkte gibt es vonseiten der Behindertenvertreter am
aktuellen Bauordnungsentwurf: So wird die Trennung zwischen Besucher- und
Benutzerbereichen auf der einen und den sonstigen, für die Arbeitnehmer
vorgesehenen Gebäudebereichen auf der anderen Seite, wieder eingeführt.
Dabei war es eine große Errungenschaft der Berliner Bauordnung, dass diese
Trennung vor etwa 20 Jahren aufgehoben wurde. Konkret heißt das: Muss eine
neu gebaute Schule laut noch geltender Bauordnung in allen Bereichen
barrierefrei sein, gilt das mit dem neuen Entwurf zwar für die
Klassenzimmer, nicht aber für das Lehrerzimmer. Bei einem Bürogebäude
müssten Eingangshalle und Besuchertoiletten, nicht aber die Büros
barrierefrei sein. „Für die Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben
wäre das ein massiver Rückschritt“, sagt der Landesbehindertenbeauftragte
Jürgen Schneider.
Der zweite Kritikpunkt betrifft den Bau barrierefreier Wohnungen. Im
aktuellen Entwurf steht, dass bei Neubauten mit mehr als vier Geschossen
ein Drittel der Wohnungen barrierefrei gebaut sein müssen, ab 2020 die
Hälfte. „Das reicht bei weitem nicht“, so Schneider. Laut
Bevölkerungsprognose der Stadtentwicklungsverwaltung wird es bis 2030, also
in nicht einmal 15 Jahren, 850.000 Menschen über 65 in Berlin geben, davon
knapp 280.000 über 80. „Das Argument, man könne wegen einer Minderheit
nicht die Kosten für alle erhöhen, zieht angesichts solcher Zahlen einfach
nicht“, so der Landesbehindertenbeauftragte. Schon jetzt könnten viele der
Hochaltrigen ihre Wohnungen nicht mehr allein verlassen, ihre Bäder nicht
mehr benutzen, sagt der Landesbehindertenbeauftragte. Ein Umzug in eine
barrierefreie Wohnung scheitere für die Betroffenen regelmäßig am
Wohnungsmarkt.
## Nur 7,5 Prozent stufenfrei zugänglich
Eine Auswertung des Projekts Wheelmap und dem Portal Immobilienscout24
ergab, dass im Jahr 2015 nur 7,5 Prozent der angebotenen Berliner Wohnungen
stufenfrei zugänglich waren. Zudem seien diese Wohnungen rund 20 Prozent
teurer als vergleichbare nicht barrierefreie Wohnungen, so Raul
Krauthausen, Begründer von Wheelmap.
Besonders bitter ist für die Interessenvertreter aber die Tatsache, dass im
aktuellen Bauordnungsentwurf die Begleitung von Bauprozessen durch einen
Sachverständigen für Barrierefreiheit nicht verankert wurde. Und das obwohl
sich der Senat genau dazu vor einem Jahr in seinen „10
behindertenpolitischen Leitlinien“ verpflichtet hat. „Da werden wir
Aktivisten angehört, es wird ein Papier verabschiedet, dann kommt ein
Gesetz, und da steht das gar nicht drin“, beklagt Raul Krauthausen.
Ein Sachverständiger für Barrierefreiheit könnte, wie bei Brandschutz und
Statik üblich, in die Planung, den Bau und die Abnahme eines Neubaus
einbezogen werden. So würde, im Idealfall, schon von Anfang an die
Barrierefreiheit mitgedacht und umgesetzt. Das damit auch teure Folgekosten
vermieden werden könnten, zeigt das Beispiel des 2009 eröffneten Jacob- und
Wilhelm-Grimm-Zentrums. Die neu gebaute Bibliothek der Humboldt-Universität
hatte zwar diverse Architektenpreise abgeräumt, aber erst nach Eröffnung
war aufgefallen, dass die Vorgaben in Sachen Barrierefreiheit an allen
Ecken und Enden nicht erfüllt waren. Sogar die Handläufe an den Treppen
hatte man schlicht vergessen. 1,2 Millionen Euro kostete die Nachbesserung,
die außerhalb des laufenden Betriebs nachts stattfinden musste.
Sieben Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention sei es
leider noch immer nicht so, dass das Recht auf gleichberechtigten Zugang in
deutschen Rechtsnormen umgesetzt wird, beklagt Jürgen Schneider. Dass die
neue Bauordnung aber sogar ein Rückschritt im Vergleich zur bisherigen sei,
könne die Stadt teuer zu stehen kommen. Nicht nur, was ihren Ruf als
Vorreiterin in Deutschland betrifft. Die Kosten, die durch fehlende
Barrierefreiheit entstehen, beziffert eine Studie des Bundesamts für
Bauwesen und Raumordnung für Berlin auf 320 Millionen Euro im Jahr. Zum
Beispiel für Hilfeleistungen, weil ältere Menschen sich nicht mehr selbst
versorgen können in einem Umfeld voller Barrieren. „Man könnte auch sagen:
Was Stadtentwicklungssenator Geisel nicht angeht, kostet Sozialsenator
Czaja Millionen“, fasst Dominik Peter zusammen. Vom Senator für
Stadtentwicklung und Umwelt, Andreas Geisel (SPD), und seiner Verwaltung
war dazu keine Stellungnahme zu bekommen.
Durchschnittlich zehn Jahre gilt eine Bauordnung. Wenn der Neuentwurf so
beschlossen werde, dann heißt das nicht nur, dass in dieser Zeit weniger
barrierefreie Gebäude gebaut werden, prophezeien die Behindertenvertreter.
Sondern angesichts des aktuellen Baubooms auch, dass noch mehr Gebäude für
behinderte BerlinerInnen kaum zugänglich sind, und zwar für Jahrzehnte.
„Damit würden Barrieren in Beton gegossen“, so Krauthausen. Noch sei Zeit
zur Nachbesserung.
24 May 2016
## AUTOREN
Manuela Heim
## TAGS
Barrierefreiheit
Behindertenpolitik
Bauwirtschaft
Barrierefreiheit
Wohnungsmarkt
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Bundesteilhabegesetz
Barrierefreiheit
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