# taz.de -- Stipendium der Studienstiftung: Inside Elite | |
> Kaum ein Stipendium ist so renommiert wie das der Studienstiftung des | |
> Deutschen Volkes. Den Auserwählten winken Rum, Ruhm, Reichtum. | |
Bild: Das Prozedere des Auswahlseminars gleicht dem von „Der Bachelor“ bei … | |
Vielleicht beginnt es hinter Dortmund. Ich sitze in einem dieser ganz alten | |
„InterCity“-Züge. Es riecht nach Kasernenschweiß. Der Zug fährt eine | |
Umleitungsstrecke, denn jemand droht, soweit ich das richtig verstanden | |
habe, die Stadt Essen in die Luft zu sprengen. Stattdessen also über Herne, | |
Wanne-Eickel, Gelsenkirchen. | |
Ich bin auf dem Weg zum Auswahlseminar der Studienstiftung des Deutschen | |
Volkes, zu dem ich nach meiner Bewerbung eingeladen wurde und nun um ein | |
lukratives Stipendium buhle. Ein Wochenende in einer Jugendherberge in | |
Düsseldorf habe ich vor mir, bei dem 50 Einsplusleuchten einem gründlich | |
orchestrierten Stresstest unterzogen werden. | |
Denen, die die Stiftung aufnimmt, winken Rum, Ruhm, Reichtum; obwohl, nein, | |
vielleicht auch nur ein 20-Euro-„Hugendubel“-Gutschein und eine Portion | |
Quallengelee im Aschenbecher, so sicher kann man sich da ja nie sein. Wer | |
aber zur Pressmasse der Verstoßenen gehört, muss, so hört man, fortan | |
lebenslänglich Praktika absolvieren. | |
In der glattkantig-modernen Jugendherbergs-Lobby steht plötzlich jemand vor | |
mir. Ihre Brille sitzt schief, und dann erzählt sie los. Vergangenes Jahr | |
habe sie es bei einem solchen Auswahlseminar geschafft und sei nun hier, um | |
den Bewerber*innen „die Angst zu nehmen“, wobei nicht ganz klar ist, ob vor | |
ihr oder vor wem sonst. | |
Sie teilt mir mit, dass wir ab jetzt Nummern trügen – ich die | |
Einunddreißig, eine Primzahl und zwischen dreißig und zweiunddreißig – und | |
breitet vor mir eine hyperkomplexe Matrix voller diffuser | |
Wanderungsbewegungen und Kaffeeflecken aus. Zwar hätten Letztere nichts zu | |
bedeuten, versucht sie zu scherzen und prustet mächtig elefantös los, aber | |
sicher bin ich mir da nicht. Ich lächle notdürftig. | |
Ich fühle mich beobachtet. Es ist so undurchschaubar: Alles könnte hier | |
etwas bedeuten, alles könnte wichtig sein, alles gezählt und in ein großes | |
Heft eingetragen werden, das dann mithilfe diffiziler Algorithmen | |
definitive Ergebnisse produziert. Dabei bin ich sogar zu doof, mir das | |
Nummernschild korrekt ranzuheften. Als ich auf die Teilnehmer*innenliste | |
schaue, entdecke ich Unheilvolles: fast nur Mediziner*innen und | |
Maschinenbauer*innen (und ich Depp dachte, alle Bauern hätten heute bereits | |
Maschinen). Das kann ja was werden! | |
Das Prozedere gleicht dem von „Der Bachelor“ auf RTL. Die Zeit scheint bei | |
beidem kreisförmig zu verlaufen – denn spätestens alle fünfzehn Minuten | |
beginnt die aktuelle Sequenz wieder von vorne. | |
## „Gruppendate“ vs. Powerdiskussion | |
Da: Ein brunzdummer, bronzestählerner Brustmuskelmann fährt mit ein paar | |
„Mädels“ zu einem „Gruppendate“ oder mit einer zum – na – „Einze… | |
sie „näher kennenzulernen“. Dazu kommt es aber gar nicht erst – der | |
Neubeginn (Schnitt, Werbung, neues „Kennenlernen“) lauert nämlich schon. | |
Hier: „Gruppengespräche“, also Powerdiskutieren mit fünf anderen Leuchten, | |
und „Einzelgespräche“ mit der Jury. Die W-Fragen der Bildungselite: Was | |
studierst du? Wo? Welches Semester? Auch 1,0? Wie hast du dich beworben? | |
Die Antworten vergisst man dabei selbstverständlich auf der Stelle. Im | |
Hamsterrad kreist hier ein Murmeltier. | |
Einführung mit Dr. Heribert Chärüsplostti, dem Leiter des Auswahlseminars. | |
Er ist sehr klein und alt, sieht mit seiner adretten Lockenfrisur und der | |
kleinen, rundlichen Trotzkibrille auf der Nase aus wie ein äußerst | |
strebsamer Teddybär. Neben mir sitzt Adalbert, ein Holzwirt und optisch die | |
Kreuzung aus ZDF- „Frontal 21“-Moderator Theo Koll und einer großen, dürr… | |
Spinne; ich muss an Kafkas Geschichte mit dem langem Dünnen denken. Die | |
achtköpfige Jury stellt sich vor und sagt, dass sie so gut wüsste, wie man | |
sich jetzt fühle. Danach gibt es Gebäck. Die Strukturen der Macht | |
verschleiert man hier, so gut es geht. | |
Beim ersten „Einzelgespräch“ ist die Jurorin ausgesprochen freundlich. | |
Lächelt mich an, lässt mich erzählen. Ich blubbere etwas über Journalismus | |
und „Idole“ – tock, hakt sie ein: „Wer denn?“. Hmm, schnell, sag was,… | |
zu lang warten … „Volker Weidermann“, sprudelt es heraus. Was habe ich da | |
gerade gesagt? Egal, los, weiter. Dong, klong, die Tür schließt sich. | |
Gespräch vorbei. Durchatmen. | |
„Mit Käse überbacken ist alles viel besser“, sagt der rundliche | |
Gesichtszwieback, der mir abends gegenübersitzt und „leider nur ’ne | |
Einskommadrei“ im Abitur hatte. Bevor ich durchdenken kann, ob das nicht | |
auch ein Geschäftsmodell für die taz sein könnte, schiebt er nach: „Ganz | |
toll finde ich auch Aioli. Das kann man zwar eigentlich nur guten Gewissens | |
essen, wenn man besoffen ist – aber manchmal, wenn ich um drei Uhr nachts | |
bei uns in der Pizzabude sitze, lasse ich mir das auf meine Pizza gießen.“ | |
Ich staune. | |
Wir kommen ins Gespräch. Er sagt: „Ich interessiere mich eigentlich für | |
alles. Ich lese zum Beispiel sehr gerne. Mein absoluter Lieblingsautor ist | |
Theodor Fontane. Außerdem bin ich bei den Jungen Liberalen.“ | |
## Fräulein Margarine von Jogurt | |
Gelbe Zuckerbrause pladdert in meinen Becher. Es ist 7.30 Uhr am nächsten | |
Morgen, und ich muss bei den bevorstehenden „Gruppengesprächen“ als Erster | |
referieren. Da: die Jurorin meiner Gruppe, Margarine von Jogurt, Juristin, | |
schreitet zum Getränkezapfer. Ihr wippender Kraftgang erinnert mich sofort | |
an die Gerichtsshows, die ich früher nach Schulschluss immer so gerne sah. | |
Ihr, wie Roger Willemsen einmal über „Heidi Klum“ schrieb, „laubgesägtes | |
Gouvernantenprofil“ verleiht ihr die zum Zapfen nötige Stabilität. Nichts | |
und niemand kann sie erschüttern. | |
Einer der fünf anderen der Gruppengesprächsgruppe sitzt mir gegenüber. Sein | |
Name ist Boris. Er studiert BWL, hat ein Unternehmen gegründet, organisiert | |
Konferenzen. Boris hat mir meine Haarfarbe geklaut, und sonst sollte ich | |
eigentlich auch so sein wie er, denke ich: groß, muskulös, | |
fortschrittsgläubig. Mit seiner helmutschmidthaften Sprechlangsamkeit wird | |
er später allen das Wort blockieren. | |
Gesünder als Schmidt lebt Boris in jedem Fall, denn er ist mit Perwoll | |
gewaschen und trägt mit seinen zwanzig Jahren immer noch Zahnspange (oder | |
ist das schon hipster?). Feinsäuberlich schneidet er daher sein Essen in | |
siebzehn – eine Primzahl – Teilchen und malmt mit seinen mächtigen Kiefern. | |
Ich überlege, ob ich ihm beim Einspeicheln helfen soll, sehe dann aber | |
seine bedrohlich behaarten Unterarme sich spannen. | |
Das Referat läuft besser als erwartet; bei den Diskussionen gebe ich den | |
Kapitalismuskritiker und führe alle erdenklichen Maschinenbaumängel auf die | |
Gesellschaft zurück. Ich fühle mich schmutzig. | |
## Verschissen | |
Nach dem Mittagessen das letzte „Einzelgespräch“: Der Juror ist | |
promovierter Physiker und Unternehmensberater, arbeitet sechzehn Stunden am | |
Tag, was, wenn er es mir sagen würde, auch an dem krähenhaften Nachvorne | |
seines Kopfes zu sehen wäre, der wegwill vom Rumpf. Wie wild beschießt er | |
mich mit Fragen, während ich mich nicht entscheiden kann, was dringender | |
ist: zuhören, antworten, Reflektiertheit simulieren? Okay: verschissen. | |
Das war’s dann wohl. Etwa zehn der fünfzig Seminarteilnehmer*innen erhalten | |
in den nächsten Tagen per Post zwar keine Rose wie beim „Bachelor“, aber | |
dafür einen „großen Umschlag“: Bewerbung erfolgreich. Mich hingegen | |
erwartet sicher nur ein Ablehnung bedeutender „kleiner Umschlag“ – oder | |
doch nicht? Die Gedanken spielen Spiegelsaal. Schaffen oder nicht schaffen? | |
Und wenn nicht: Woran lag es? Was habe ich falsch gemacht? Warum habe ich | |
versagt? | |
Auf dem Weg zum Bahnhof beruhigt mich der Gedanke an das wehende Schlagen | |
der Bäume in Cyprien Gaillards wundervollem Film „Nightlife“, den ich mir | |
nachmittags in der geleckt wirkenden NRW-Kunstsammlung anschaue; mit | |
Presseausweis, versteht sich. Ich fahre die nagelneue, hypergalaktische | |
Wehrhahn-U-Bahn rauf und runter, bis ich endlich mit dem erst abends | |
gehenden Zugbindungszug wegdengeln kann. Geschmeidig rauscht er durchs | |
Ruhrgebiet. Ich checke meine Mails. „Sie haben gewonnen!“ steht da. | |
14 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Adrian Schulz | |
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