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# taz.de -- Essener SPD und Flüchtlinge: Angst vor Gettoisierung
> Der arme Norden der Stadt Essen soll die meisten Flüchtlinge aufnehmen.
> Das passt den Genossen dort nicht. Am Samstag ist Parteitag.
Bild: Mehrere SPD-Ortsvereine hatten zu einem Protestmarsch aufgerufen
Essen taz | Der Karnaper Markt ist menschenleer. Der zentrale Platz im
Essener Norden wirkt trostlos am Freitagabend: eine Sparkasse, zwei
Supermärkte, ein Blumengeschäft. „Früher mussten wir zum Einkaufen sogar in
die Innenstadt fahren“, erzählt der 45-jährige Stephan Duda, seit zwei
Jahren Vorsitzender des ansässigen SPD-Ortsvereins und gerade wieder im Amt
bestätigt.
Weil das einzige Café schon geschlossen hat, kommen er und SPD-Ratsherr
Guido Reil zum Interview in die Supermarktbäckerei. Die beiden Männer
trugen wesentlich dazu bei, dass die Essener Sozialdemokraten seit Monaten
überregional für Schlagzeilen sorgen.
[1][Reil eckte zu Jahresanfang mit integrationskritischen Aussagen an].
Daraufhin riefen Duda und zwei weitere SPD-Ortsvereine zum Protest gegen
neue Flüchtlingsunterkünfte auf. Ihr Slogan: „Genug ist genug – Der Norden
ist voll.“ So etwas hätte man bislang eher der AfD zugetraut. Die Demo
wurde schließlich abgesagt, weil die Landesparteispitze Druck machte.
Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) verurteilte die Aktion
entschieden und schickte Generalsekretär André Stinka, um die Essener
Genossen zur Räson zu bringen.
„Das war sehr provokant, da bin ich über die Grenze geschossen“, räumt
Stephan Duda rückblickend ein. In der rechten Ecke – nein, dort wolle er
dann doch nicht stehen. Aber er hätte sich gewünscht, dass die Parteispitze
mit ihm mal über die Beweggründe gesprochen hätte, anstatt nur Rüffel zu
verteilen. Der Protest sei im Kern berechtigt.
## Nord-Süd-Grenze
Worauf Duda hinaus will: Sechs von insgesamt sieben Großunterkünften für
Flüchtlinge hatte der Rat der Stadt Essen im Norden geplant. Der Norden
gilt als Brennpunkt: Die Arbeitslosenquote ist mehr als doppelt so hoch wie
im Landesdurchschnitt, 40 Prozent der Einwohner haben einen
Migrationshintergrund. Die Angst vor weiterer Gettoisierung treibt die
Menschen um. Im Stadtteil Altenessen etwa beherrschen seit Jahren
libanesische Familienclans die Straße. Die Polizei versucht vergeblich, die
Lage in den Griff zu bekommen. Der „arme“ Norden wirkt abgehängt. Wie ein
Grenzstreifen teilt die A40 ihn vom „reichen“ Süden ab.
Ende Februar entschied der Rat schließlich über die umstrittenen Standorte
für neue Flüchtlingsunterkünfte. Eine große Koalition stimmte dafür, dass
nicht sieben, sondern doppelt so viele Unterkünfte errichtet werden. Die
aber sollen kleiner sein und über die gesamte Stadt verteilt werden.
Die beiden SPD-Lokalpolitiker Duda und Reil sehen den Beschluss mit
gemischten Gefühlen: „Den schlimmsten Fall konnten wir abwenden. Es ist von
den Standorten nun etwas gerechter verteilt, aber die Hauptlast liegt noch
immer im Norden.“ Immerhin sei der Rat von Massenunterkünften abgerückt.
Duda hatte sich immer wieder für Unterkünfte mit maximal 200 Menschen
ausgesprochen, nun sollen aber etliche Standorte doppelt so viele Menschen
beherbergen.
Insgesamt muss Essen in diesem Jahr 8.000 Flüchtlinge aufnehmen. Thomas
Kufen (CDU), seit Herbst 2015 neuer Oberbürgermeister, sieht die Stadt „an
der absoluten Grenze der Belastbarkeit“. Im vergangenen Jahr hatte er vom
Land eine veränderte Flüchtlingszuweisung gefordert und die Überlastung
angezeigt. Schließlich wurden 2.000 Flüchtlinge weniger aufgenommen als
vorgesehen. Das muss er 2016 ausgleichen, der Druck steigt.
## „Humanitäre Verpflichtung“
Es gebe eine „humanitäre Verpflichtung“ zur Hilfe, da könne man bei den
Standorten nicht „allzu wählerisch sein“, meint der Oberbürgermeister.
Zugleich gälten Mietobergrenzen für die Unterbringung von Flüchtlingen: Bei
7,50 Euro pro Quadratmeter hat die Stadt keine großen Möglichkeiten, sie
muss in die billigeren Viertel ausweichen.
Thomas Kufen nervt die Nord-Süd-Debatte. „Wir sollten den Flüchtlingen
nicht die Probleme mancher Stadtteile in die Schuhe schieben.“ Der Norden
habe noch Entwicklungspotenzial, es gebe große ungenutzte Flächen –
Investoren willkommen. Deshalb will Kufen im Juni vor Ort eine
Wirtschaftskonferenz einberufen. An dem geplanten Millionenprojekt „Marina
Essen“, einem neuen Hafenviertel im Norden, hält er fest – ursprünglich
sollte es einer Massenunterkunft weichen.
In der Essener SPD rumort es derweil immer noch. Vor zwei Monaten kam aus
ihren Reihen der Beschluss, eine überparteiliche Bürgerinitiative zu
gründen, der inzwischen 300 Menschen angehören sollen: „Bewegte Bürger“
lehnt weitere Flüchtlingsunterkünfte im Essener Norden kategorisch ab.
Die Sozialdemokraten vom Karnaper Platz, Duda und Reil, proben auch weiter
den parteiinternen Aufstand. Mit Vertretern anderer Essener Ortsvereine
haben sie eine „Zukunftswerkstatt“ initiiert, um die Arbeit der SPD-Basis
zu stärken. Für den Bezirksparteitag haben sie einen Antrag eingereicht,
der bereits jetzt zu Aufregung führt: 16 Ortsvereinsvorstände fordern,
künftig alle hauptamtlichen SPD-Mitarbeiter aus dem Vorstand des Essener
Unterbezirks zu verbannen. Das böse Wort „Berufsverbot“ macht die Runde.
André Stinka, Generalsekretär der NRW-SPD, weist den Vorschlag von sich,
auch weil er mit den Parteistatuten unvereinbar sei.
## Zeit der Zechen ist ausgelaufen
Aktuell warten alle auf den kommenden Samstag. An diesem Tag wählt der
Unterbezirk einen neuen Vorsitzenden, nachdem Essens SPD-Chefin Britta
Altenkamp im Februar hingeworfen hatte. Angeblich aus Zeitnot, doch die
51-Jährige war hochumstritten, da sie dem früheren SPD-Oberbürgermeister
ihre Unterstützung für eine weitere Amtszeit verweigert hatte.
Möglicher Nachfolger ist der 48-jährige NRW-Justizminister Thomas
Kutschaty. Er wurde im Essener Norden geboren. Duda und Reil trauen ihm zu,
die parteiinternen Wogen zu glätten. Asylstandorte auch im Süden der Stadt
zu finden, so Kutschaty schon vor Monaten zur Westdeutschen Allgemeinen
Zeitung, dürfe nicht daran scheitern, „dass man dort über die besten
Anwälte verfügt“.
Auf dem Rückweg durch Karnap noch ein Stopp am Matthias-Stinnes-Stadion, wo
heute ein Zeltdorf mit 400 Flüchtlingen steht. Alles wirkt seltsam
anachronistisch. Früher, als es das Bergwerk noch gab, „da hat auch
Integration funktioniert“, erzählt Sozialdemokrat Reil, der auf Prosper
Haniel arbeitet, der letzten Steinkohlezeche Nordrhein-Westfalens. Der
Bergbau hatte in den 70er und 80er Jahren eine große Integrationskraft.
Aber die Zeit der Zechen ist fast abgelaufen. „Die Arbeitsplätze, die es
heute für die Zuwanderer gibt, sind im Niedriglohnbereich“, so Reil. Dort
werde ein Verdrängungswettbewerb stattfinden, prognostiziert er: „Die
Menschen hier haben Angst, dass ihnen nichts bleibt.“
6 May 2016
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## AUTOREN
Claudia Hennen
## TAGS
Essen
SPD
Schwerpunkt Flucht
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Schwerpunkt AfD
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Unterbringung von Geflüchteten
SPD
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