# taz.de -- Papst Franziskus erhält Karlspreis: Der erhobene Zeigefinger ist �… | |
> Für seine Verdienste um die europäische Einigung erhält der Papst den | |
> Aachener Karlspreis. Die halbe Stadt pilgert dafür nach Rom. Unser Autor | |
> ist mit dabei. | |
Bild: Aus der Verleihungs-Kleiderordnung: „Bitte nicht komplett in weiß klei… | |
VATIKANSTADT taz | Jetzt. Da, die Tür öffnet sich. Da kommt er. Jorge Mario | |
Bergoglio, 79, alias Papst Franziskus. Freitagmittag 12.05 Uhr. | |
Augenblicklich wird Ruhe zu einer atemlosen Stille. Ist es seine Aura? Die | |
weiß strahlende, alles absorbierende Heiligkeit? Es folgt ein schüchterner | |
Applaus. | |
450 festlich gekleidete AachenerInnen recken in der Sala Regia des | |
Apostolischen Palasts die Hälse zu ihm. Die Kameras von ZDF, WDR und BR | |
recken ihre Objektive. Der Aachener Domchor singt „Gloriosa dicta sunt“ – | |
Herrliches sagt man dir nach. Der Domchor ist der älteste deutsche | |
Knabenchor, den Karl der Große himself einstens gegründet hat. Vorher waren | |
die Kinder nicht aufgeregt, sagt Chorleiter Berthold Botzet, aber wehe, | |
wenn man den Vatikan betritt: „Da hat man sofort das Gefühl, in einer | |
Sekunde um 600 Jahre zurücktransportiert zu sein.“ | |
1215 Jahre und ein paar Wimpernschläge ist es her, da war Aachens bis heute | |
tief verehrter Kriegsherr Karl der Große Sachsenschlächter, an gleicher | |
Stätte von Papst Leo III. zum Kaiser gekrönt worden. Um nunmehr höchst | |
autorisiert Europa mit dem Schwert zu einen. Jetzt sind die Aachener wieder | |
da und bringen dem Papst ein Geschenk, im Namen ihres größten Sohnes: den | |
Karlspreis. Für die Einheit Europas. Den wichtigsten politischen Preis des | |
Kontinents. An Franziskus, die „moralische Instanz“. Quasi als weltliche | |
Gegenkrönung. | |
Eskortiert werden die Aachener von Kanzlerin Merkel, dem EU-Triumvirat | |
Tusk, Juncker, Martin Schulz, dem spanischen König, dem italienischen | |
Staatspräsidenten. | |
## Eine politische Ohrfeige | |
Aber ein Argentinier für Europa? Franziskus mischt sich bekanntlich ein. Er | |
sprach eindringlich vor dem EU-Parlament, war zuletzt auf Lesbos, um zu | |
sehen, was Europas groteske Flüchtlingspolitik anrichtet. Der Preis an | |
einen Südamerikaner gilt auch als politische Ohrfeige an einen Kontinent, | |
dessen Repräsentanten derzeit in Reihe versagen. Und niemand preiswürdig | |
wäre. | |
Der Pontifex möge Lösungen andenken, sagen sie alle, Europa wachrütteln, | |
mahnen. Er solle, so der Karlspreisvorsitzende Jürgen Linden, „ins Gewissen | |
reden“, man erwarte „einen Impuls, ein Signal aus Rom“. Franziskus sei | |
schließlich „eine Autorität gegenüber der Politik“. Ob die das weiß –… | |
Polen, Ungarn, Österreich? Und: braucht man die überhaupt? | |
Offenbar ja. Aachens Oberbürgermeister Marcel Philipp hält seine Laudatio. | |
Er sei „in tiefer Sorge um den Zusammenhalt Europas. Wir empfinden | |
Hilflosigkeit.“ Europa sei am Rand der Dekadenz, von Verfall bedroht: „Die | |
Erosion des Fundaments ist beängstigend“. Franziskus hilft: Als Papst gucke | |
man doch „ohne Wohlstandsschleier“. In den Festreden wird beschworen, | |
gemahnt, von Visionen und Visionären gesprochen, von Moral, Solidarität, | |
Würde, Respekt. Der erhobene Zeigefinger ist überall. | |
Martin Schulz sieht „Europas gemeinsame Wertebasis ins Wanken geraten“. Man | |
stehe „vor einer epochalen Herausforderung.“ Jean-Claude Juncker sagt | |
flehentlich: „Also, ihr alten Europäer, wacht auf! Hört die Stimme von | |
Papst Franziskus!“ Vor dessen Rede hebt der Domchor an: „Jubilate Deo“. M… | |
„hingezaubertem, verzücktem Klang“, wie der Chorleiter verlangt hatte, | |
„ganz, ganz fein mit meditativem Charakter“. | |
## Alles dauert, dauert | |
Sonst winken Päpste bei weltlichen Ehrungen meist ab. Franziskus’ deutscher | |
Berater in Rom, Kurienkardinal Walter Kasper, hatte dem Papst „das Anliegen | |
dieser Auszeichnung erläutert“, sagt er. „Ich war der Briefträger.“ Sp�… | |
erklärte Franziskus sein Ja: „Das liegt an der Dickköpfigkeit von Kardinal | |
Kasper.“ Eine der Organisatorinnen der Stadt Aachen stöhnte ein paar Tage | |
vor dem Event: „Die machen mich wahnsinnig im Vatikan. Alles dauert, | |
dauert. Die rechnen nicht in Tagen, die sind in Ewigkeiten unterwegs.“ | |
Neben den 450 Ehrengästen bei der Preisverleihung haben sich auch | |
Privatleute nach Rom aufgemacht. Nicht beim Festakt, aber nach Rom | |
angereist sind beispielsweise zwölf Schüler einer Gymnasialklasse 10 und | |
ihre Lehrerin. Gleich 60 Theologie-Studierende waren per 20-stündiger | |
Busreise für vier Tage angereist. Da es die Chance gab, über die Warteliste | |
in die Hauptveranstaltung zu rutschen, hatte man „vorher eine Liste | |
ausgelost“, sagt der Religionspädagoge Guido Meyer. Deshalb musste auf | |
Verdacht festliche Kleidung ins Gepäck. Fünf schafften es schließlich | |
sogar. Habemus papam. | |
Der Dresscode schrieb für Herren einen festlichen dunklen Anzug vor und für | |
die Damen: „Dunkler Hosenanzug ist möglich; wenn Kostüm oder Kleid getragen | |
wird, dann sollte dieses beim Sitzen eine Handbreit über das Knie gehen. | |
Bitte Schultern bedecken. Ein Hut oder Schleier ist nicht erforderlich.“ | |
Das Protokoll verlangte ferner: „Nicht komplett in Weiß kleiden.“ Denn wei… | |
ist nur der Heilige Vater. | |
Die Prozession der vielen Aachener wirkte wie die Reisen Tausender | |
Fußballfans, die ohne Chance auf eine Eintrittskarte ihren Lieblingen bei | |
einem wichtigen Endspiel nah sein wollen. Und das Spiel im Fernseher | |
unbedingt zwei Kilometer vom Rasen entfernt sehen wollen statt 2.000. | |
Gestern am frühen Morgen kamen manche zumindest in die Karlsmesse im | |
Petersdom– um sozusagen das Vorspiel fürs große Finale live zu erleben. | |
## Geistlicher Appell | |
Dann sprach Seine Heiligkeit. 31 Minuten lang – auf Italienisch. „… | |
multilaterale … poco a poco …“ Es gibt im Saal keine Übersetzung. Im | |
Fernsehen wissen alle simultan Bescheid, die Festgesellschaft ahnt nicht, | |
ob Europa die richtigen Signale bekommt. „… generositá … Adenauer … | |
generale …“ Die Unruhe im Saal wächst. Gleichzeitig nicken Dutzende ein. �… | |
una cultura … grazie!“ Europa 2016: Man versteht sich nicht. | |
Der Papst stellte selbst Fragen: „Was ist mit dir los, humanistisches | |
Europa, du Verfechterin der Menschenrechte, der Demokratie und der | |
Freiheit? Was ist mit dir los, Europa, du Heimat von Dichtern, Philosophen, | |
Künstlern, Musikern, Literaten? Was ist mit dir los, Europa, du Mutter von | |
Völkern und Nationen, Mutter großer Männer und Frauen, die die Würde ihrer | |
Brüder und Schwestern zu verteidigen und dafür ihr Leben hinzugeben | |
wussten?“ Und wie weiter? „Wenn es ein Wort gibt, das wir bis zur | |
Erschöpfung wiederholen müssen, dann lautet es ‚Dialog‘.“ Martin Schulz | |
sagte nachher, ihm habe gefallen, wie sehr der Papst den „gegenwärtigen | |
Zynismus in Europa angegriffen“ habe. Angela Merkel fühlte „Ermutigung“. | |
Der Pontifex hatte angeregt, „Brücken zu bauen und Mauern einzureißen“. | |
Eine genaue Exegese seiner fußnotengespickten Rede wird noch dauern. Aber | |
was sollte der Vatikan konkret tun? Mit der Schweizergarde den | |
mazedonischen Grenzzaun einreißen? Alle Polen kollektiv exkommunizieren? | |
Glorios adicta sunt – gerade dem Papst sagt man Herrliches nach. | |
Etwa 40 ausgewählte Gäste durften nach der Verleihung die päpstliche Hand | |
schütteln. Alle offenkundig ergriffen. Wie war es? Berührend, einmalig, | |
sagten sie nachher. „Wenn man den Papst berührt“, so Chorleiter Botzet, | |
„ist man schon beseelt.“ | |
6 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Bernd Müllender | |
## TAGS | |
Papst Franziskus | |
Aachen | |
Karlspreis | |
Europa | |
Aachen | |
Papst Franziskus | |
Lesbos | |
Papst Franziskus | |
Papst Franziskus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Deutschlands erstes Weltkulturerbe: Aachen, Karl und Karlchen | |
Vor 40 Jahren wurde der Aachener Dom Karls des Großen Weltkulturerbe. Karl | |
ist Kult in der Stadt. Er bescherte Aachen 1.200 Jahre Wohlstand. | |
Kommentar Papst über Homosexuelle: Folgenloses Geplauder | |
Die Forderung des Papstes nach mehr Respekt vor Homosexuellen ist ein alter | |
Hut. Konkrete Konsequenzen für seine Kirche zieht er nicht. | |
Papstbesuch bei Flüchtlingen auf Lesbos: Tränen und Solidarität | |
Franziskus mahnt zur Menschlichkeit, während wieder neue Geflüchtete die | |
griechischen Inseln erreichen. Zwölf Menschen erhalten Asyl vom Vatikan. | |
Papst zu Ehe und Familie: Ein Himmelreich für Heteros | |
Papst Franziskus veröffentlicht sein Schreiben zum Familienbild und zur | |
Sexualmoral. Sex wird sehr positiv gezeichnet – solange er hetero ist. | |
Osterbotschaft des Papstes: „Moralische Abgründe“ | |
Papst Franziskus verurteilt in seiner Ansprache in Rom den Terrorismus. Er | |
erinnert an das Schicksal der Flüchtlinge und kritisiert die Ausbeutung der | |
Erde. |