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# taz.de -- Experiment zum Auftakt: Sinnbilder auf Gegenwartssuche
> Zur Eröffnung des Internationalen Musikfestes Hamburg hat der als
> Provokateur geltende Regisseur Romeo Castellucci Bachs Matthäus-Passion
> inszeniert.
Bild: Castellucci komponiert Sinnbilder, die mit Bachs Matthäus-Passion verlin…
Der Schädel eines realen Mörders liegt auf dem Ausstellungspodest, während
der Sopran „Blute nur, du liebes Herz singt!“; es ist die Szene III mit dem
Titel „Judas“. Insgesamt reihen sich 18 solcher Kunst-Objekte oder
szenischen Kunst-Kommentare aneinander, als eine Art Strom der
Assoziationen zur Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach.
Der italienische Künstler Romeo Castellucci hat erdacht, was sich da unter
der Überschrift „La Passione“ in den Deichtorhallen Hamburg ereignet. Die
Koproduktion mit der Staatsoper Hamburg hat jetzt das [1][2. Internationale
Musikfest Hamburg] eröffnet. Viele hatten einen Theater-Skandal erwartet,
weil Castellucci als Bilderstürmer gilt, der gern provoziert. Stattdessen
mutete die Premiere eher kontemplativ an, manchmal auch ziemlich lau.
Musikalisch war noch Luft nach oben.
## Kontemplation in Weiß
Romeo Castellucci hat sich alles ausgedacht: die Bühne und die Kostüme, das
Licht und die Inszenierung. Nichts wird dem Zufall überlassen. Selbst der
Auftritt von Hamburgs Generalmusikdirektor Kent Nagano folgt einem genauen
Plan. Er tritt nach vorn an den Rand des Bühnenraumes, wo schon zwei Männer
mit Schüssel, Wasserkaraffe und Handtuch warten.
Der Maestro wäscht sich die Hände, bevor er zu dirigieren beginnt – im
Bühnenhintergrund sind die Musikerinnen und Musiker platziert. Alle tragen
weiße Kleider. Alle sitzen auf weißen Stühlen und Bänken. Der Boden, die
Wände, überall geradezu klinisches Weiß. Dazu passt das klare Licht, das
alles erhellt – die Bühnen wie den Zuschauerraum.
Auf jedem Sitzplatz wartet ein Heft – „Index“ überschrieben: eine Hilfe,…
grundsätzlich zu verstehen, was da auf der Bühne passiert. Wie im
Kunstmuseum gibt es Hinweise zur Herkunft und zur Machart der
Installationsgegenstände. Das Essen, das zur Abendmahlsmusik auf die Bühne
rollt, entspricht der letzten Mahlzeit eines Hospiz-Bewohners – bei der
Premiere: Rotbarsch und Wasser. Dann scheint ein ausrangierter Reisebus
über die Bühne zu schweben: Er liegt auf der Seite und stammt aus Bayern.
Dazu das Stichwort „Ecclesia“ – was so viel bedeutet wie Kirche, Gemeinde
oder auch Volksversammlung. Und der Sopran singt: „Ich will dir mein Herze
schenken“.
## Emblematische Bilder
Es passiert eigentlich immer etwas: Ein Umbaukomparse packt umständlich ein
ausgestopftes Lamm aus, Kunstblut sprudelt, Reinigungsfachkräfte rücken an.
Ringer kämpfen miteinander, wenn es um die Einsamkeit von Jesus in
Gethsemane geht. Später lässt sich eine ehemalige Nonne in einen Sarkophag
verfrachten. Und immer wieder stehen chemische Prozesse im Zentrum: Aus dem
Blut des Jesus-Sängers wird Eisen gewonnen, um daraus Nägel wie für eine
Kreuzigung zu gewinnen. Oder Stacheldraht verwandelt sich in eine goldene
Dornenkrone.
Manches ist spannender anzuschauen und weckt mehr Gedanken, manches
weniger. Spürbar ist, wie sehr Romeo Castellucci hier wie barocke
Emblematik Sinnbilder komponieren will – verlinkt mit Bachs
Matthäus-Passion. Was manchmal auch unfreiwillig oder bewusst komisch ist.
So etwa, wenn ein beinamputierter Komparse seine Beinstumpen zur Textzeile
„Ruht, ihr ausgesognen Glieder!“ ins Licht hält.
## Kunst trifft Realität
Hamburgs neuer Opernintendant Georges Delnon liebt zeitgenössische Kunst.
So hat er bereits an seiner vorherigen Wirkungsstätte in Basel den Kontakt
zum Kunstbetrieb gesucht und mit Romeo Castellucci ein szenisches Projekt
in Kooperation mit der Art Basel initiiert. Aufsehen erregte auch die
Produktion von Christoph Willibald Glucks Oper „Orpheus und Eurydike“ in
Wien, wo Romeo Castellucci die Eurydike mit einer Wachkoma-Patientin
besetzt hat. Das Publikum erhielt per Livestream Einblicke in das
Krankenzimmer der jungen Frau.
Castellucci strebt danach, Kunst und Realität aufeinandertreffen zu lassen.
Auch in „La Passione“. Dass sich gleich zwei echte medizinische Notfälle
während der Premiere ereigneten, war ein trauriger Zufall. Da die
Aufführung in einer der großen Deichtorhallen angesiedelt ist, also für die
Rettungskräfte kein Rückzugsort gegeben ist, mischte sich zeitweilig das
Piepen der EKG-Geräte in die Tonspur der Matthäus-Passion. Beklemmend.
## Musikalisch erstaunlich soft
Musikalisch blieb der Abend unter Leitung von Kent Nagano jedoch
erstaunlich soft. Sowohl der Klang des schlanker besetzten Philharmonischen
Staatsorchesters Hamburg als auch der der Gesangsstimmen kommen aus
akustischen Gründen über Lautsprecherboxen zum Publikum. Die Streicher
spielen mit Barockbögen.
Alte-Musik-Spezialisten wie die Gambistin Simone Eckert und der Lautenist
Joachim Held sorgen für Originalklang-Farben. Die Partie des Evangelisten
ist mit dem britischen Tenor Ian Bostridge prominent besetzt. Leider hatte
Bostridge am Premierenabend zunehmend Probleme mit höheren Tönen, was seine
Rezitative oft unfreiwillig verzerrt klingen ließ.
Die Solistinnen Hayoung Lee (Sopran 1), Christina Gansch (Sopran 2) und
Dorottya Láng glichen dies mit eindringlichem Gesang aus. Blasser blieben
ihre Kollegen, der Tenor Bernard Richter und der Bass Philippe Sly.
Letzterer hatte alle Bass-Partien zu singen – also neben Jesus auch Judas
und Pilatus. Das passt nicht – hier wäre eine Extra-Stimme für den
Jesus-Part wünschenswert gewesen. Hervorragend: die
Audi-Jugendchorakademie. Erstaunlich, wie präzise und ausdrucksstark die
jungen Sängerinnen und Sänger die Aufführung trugen.
Vier Wochen lang – bis zum 22. Mai – bietet das 2. Internationale Musikfest
Hamburg jetzt einen Reigen vielversprechender Konzerte zum Thema
„Freiheit“. Auch wenn der Auftakt nicht wirklich das erhoffte Gewicht
hatte: Es ist gut, dass es solche Experimente gibt.
23 Apr 2016
## LINKS
[1] http://www.musikfest-hamburg.de
## AUTOREN
Dagmar Penzlin
## TAGS
Oper
Oper
Festival
Musik
Elbphilharmonie
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