# taz.de -- Sonderpädagogik und Nationalsozialismus: Behinderte Aufklärung | |
> Kinder aus armen Familien müssen häufiger auf die Sonderschule: Liegt das | |
> daran, dass die Schulform ein Nazi-Erbe ist? Die Frage sorgt für Streit. | |
Bild: Schwerer Vorwurf: Die Sonderpädagogik soll Wurzeln in der NS-Zeit haben | |
Ina Schröder schweigt. Sie macht das nach jeder Frage, die man ihr zu ihrem | |
Vater stellt. Sie kneift die Augen zu und versucht sich zu erinnern. Über | |
ihren Vater zu sprechen fällt ihr schwer, deshalb ist Ihr Name ein | |
Pseudonym. | |
Ihr Vater, Karl Tornow, gilt heute als einer der einflussreichsten | |
Sonderpädagogen der NS-Zeit. Er war Propagandachef der Sonderschulen, | |
Berater des rassenpolitischen Amts, prägte die Lehre der völkischen | |
Sonderpädagogik, die für die Zwangssterilisation von hunderttausenden | |
„Behinderten“ mitverantwortlich war. | |
Bis vor einigen Jahren wusste seine Tochter kaum etwas über seine | |
Vergangenheit. Sie ist das jüngste Kind aus zweiter Ehe, wird nach dem | |
Krieg geboren. Ihr Vater hat längst ein neues Leben begonnen, sein | |
Entnazifizierungsverfahren weist ihn als Benachteiligten des Naziregimes | |
aus. Er gilt als unbelastet. | |
Tornow hat die Sonderpädagogik aufgegeben und eine Ausbildung zum | |
Psychotherapeuten gemacht. Seine Tochter erinnert sich an ihn als einen | |
Mann, für den die Menschen im Mittelpunkt stehen, bei der Arbeit, privat. | |
Daran, wie sie und ihr Bruder als Kinder auf seinem Schoss sitzen. Wie er | |
Kasperletheater aufführt, das er noch aus seiner eigenen Kindheit kennt. Er | |
bringt ihnen bei, Fliegen mit der Hand zu fangen, um sie in die Freiheit zu | |
entlassen. | |
## „Warum lebe ich überhaupt?“ | |
1975 beginnt sein öffentlicher Fall. Ein Sonderpädagoge thematisiert in | |
einem Fachmagazin sein Unterrichtsbuch „Erbe und Schicksal. Von | |
geschädigten Menschen, Erbkrankheiten und deren Bekämpfung“. Tornow hat es | |
1934 mit einem Kollegen verfasst. Es richtet sich an „behinderte“ Kinder, | |
hetzt gegen „Asoziale“, gegen „blöde Männer mit Spalthänden“, „Idi… | |
„Trinker“, „Schwachsinnige“. | |
Die Lektion, die Schüler lernen: Wer „erbkrank“ ist, der muss sich zum | |
Volkswohl sterilisieren lassen. Sie bekommen Fragen mit wie: „Warum lebe | |
ich überhaupt?“ Die Antwort können sie nachlesen: „Es wäre besser, ich | |
hätte niemals das Leben kennengelernt und wäre niemals geboren worden.“ | |
Tornow wird von den Sonderpädagogen der Nachkriegszeit als skrupelloser | |
NS-Funktionär gebrandmarkt. | |
Seine Tochter liest das Buch zum ersten Mal nach seinem Tod in den 1980er | |
Jahren. Sie und ihr Bruder räumen sein Haus aus, tragen den Nachlass | |
zusammen. Sie finden Schriften von ihm aus der NS-Zeit. „Erbe und | |
Schicksal“, Aufsätze über die völkische Sonderpädagogik, politische | |
Dokumente, Fibeln, Elternbroschüren. Es dauert fast zwanzig weitere Jahre, | |
bis Schröder mehr über die Vergangenheit ihres Vaters erfährt. | |
Die Erziehungswissenschaftlerin Dagmar Hänsel kontaktiert sie. Sie will den | |
Nachlass sichten. Hänsel forscht seit Jahren zur Geschichte der | |
Sonderpädagogik in der NS-Zeit, auch zu Karl Tornow. Sie hat Quellen über | |
ihn zusammengetragen, einige davon galten als verschollen, andere wurden | |
versteckt. Für sie ist klar, Tornow war mehr als bloß ein einfacher | |
NS-Funktionär. 2008 veröffentlicht sie ein Buch über ihn: „Karl Tornow als | |
Wegbereiter der sonderpädagogischen Profession. Die Grundlegung des | |
Bestehenden in der NS-Zeit“. | |
Es ist ein schwerer Vorwurf: Die Sonderpädagogik soll Wurzeln in der | |
NS-Zeit haben, die bis heute wirken. Und nicht nur das: Hänsel sagt auch, | |
dass sich die Sonderpädagogik bis heute nicht ausreichend mit dieser | |
Vergangenheit beschäftigt habe. Der Verband der Sonderpädagogik und | |
zahlreiche Forscher weisen das zurück. Sie werfen Hänsel vor, die | |
Geschichte für ihre Kritik an der Sonderschulpädagogik zu | |
instrumentalisieren. | |
## Sozial schwach ist gleich behindert | |
Dagmar Hänsel sagt, das deutsche Sonderschulsystem sei international | |
einzigartig. Diese Bedeutung habe es durch den Nationalsozialismus erlangt. | |
Die Hilfsschule als die Sonderschulform, die Lernschwache unterrichtet, | |
oder wie es damals hieß, „Geistigschwache“ und „angeboren Schwachsinnige… | |
sei im Nationalsozialismus zum Zentrum des deutschen Sonderschulsystems | |
geworden. Und bis heute geblieben. | |
Ihre Nachfolgerin, die Förderschule mit Schwerpunkt Lernen, stellt heute | |
fast die Hälfte aller Sonderschulen in Deutschland. Ihre Vertreter sind in | |
Wissenschaft und Politik die wichtigsten Stimmen unter Sonderpädagogen. | |
Dabei ist die Förderschule mit Schwerpunkt Lernen höchst umstritten. Die | |
meisten Kinder, die sie besuchen, stammen aus armen Familien, haben häufig | |
einen Migrationshintergrund. Weniger als ein Viertel erlangt einen | |
Hauptschlussabschluss. „Kinder aus sozial schwachen Familien werden in | |
Deutschland bis heute für behindert erklärt und aus der allgemeinen Schule | |
ausgewiesen“, sagt Hänsel. Einer der Leute, der diese Entwicklung massiv | |
vorantrieb, war Karl Tornow. | |
Die Hilfsschule steckt zu Beginn der NS-Zeit in einem Dilemma. Sie | |
definiert ihre Schülerschaft als „angeboren schwachsinnig“, was die | |
Nationalsozialisten in ihren Vorstellungen mit „erbkrank“ gleichsetzen. | |
Wenn aber alle Schüler der Hilfsschule „erbkrank“ sind, wozu soll man die | |
Hilfsschule dann erhalten? Welche Eltern würden ihr Kind freiwillig auf | |
diese Schule schicken? Karl Tornow löst dieses Problem. | |
Er führt den Begriff der „Behinderung“ ein. Er definiert Hilfsschulkinder | |
als Kinder, „die ein bisschen zurück sind“. „Beim einen ist es das Lesen, | |
beim anderen das Schreiben, beim dritten das Erzählen, beim vierten das | |
Diktat oder das Auswendiglernen. Der fünfte ist unruhig, passt nicht auf, | |
er kann nicht stillsitzen. Der sechste ist langsam und pomadig, nichts kann | |
ihn aus der Ruhe bringen.“ | |
Tornow betont, dass diese Hilfsschüler nicht zwangsweise „erbkrank“ seien. | |
Er grenzt sie von „Schwachsinnigen“ ab, die in die Anstalt gehörten. Den | |
Nationalsozialisten gegenüber legitimiert er die Hilfsschule, weil sie die | |
„schwachen Kinder“ aus der Volksschule fernhalte und gleichzeitig ein | |
Sammelbecken für „potenziell erbkranke Kinder“ sei, die man sterilisieren | |
könne. | |
Heutige Schätzungen gehen davon aus, dass die Hälfte der Hilfsschüler im | |
Dritten Reich sterilisiert wird. | |
## Problematische Aufarbeitung | |
1934 führt Tornow erstmals in Deutschland den Begriff Sonderpädagogik als | |
zentralen Fachbegriff ein. In einer Rede erklärt er, dass es bei der Arbeit | |
der Sonderpädagogen nicht auf die einzelne Schädigung eines Kindes ankomme, | |
ob es blind, taub oder langsam sei, sondern darauf, ob die Gefahr bestehe, | |
dass jemand „behindert“ sei, sich unter „Benutzung der üblichen Bildungs- | |
und Erziehungseinrichtungen“ zum „vollwertigen und lebenstüchtigen Mitglied | |
des deutschen Staates“ zu entwickeln. „Der Begriff der Besonderung“, | |
erklärt Tornow, habe den Vorteil, dass eine Abweichung vom Üblichen | |
mitgedacht werde, „ohne daß sich wie beim Heilen eine Sinngebung auf | |
Krankes, Anormales, Defekthaftes, und wie die gefühltsbetonten Dinge alle | |
heißen, einschleicht.“ | |
Für Hänsel begründet Tornow damit das berufliche Selbstverständnis der | |
Sonderpädagogen, das bis heute gilt. Doch davon wolle man heute nichts | |
wissen: „In kaum einer Überblicksdarstellung der Sonderpädagogik und in | |
keiner Begriffsgeschichte finden sie auf diese Ursprünge einen Hinweis.“ | |
Auch zu anderen zentralen NS-Sonderpädagogen läge bis heute keine | |
nennenswerte Forschung vor. | |
Das Problem mit der Aufarbeitung sei, dass die offizielle | |
Geschichtsschreibung der Sonderpädagogik seit der Nachkriegszeit vom | |
Verband Sonderpädagogik und ihm nahestehenden Sonderpädagogen bestimmt | |
werde, behauptet Hänsel. „Kein Historiker oder Erziehungswissenschaftler | |
hat sich bisher eingehend mit dem Thema beschäftigt. Es ist eine komplett | |
interne Sache.“ Bis jetzt. | |
Der Verband Sonderpädagogik gründet sich nach 1945, zunächst unter dem | |
Namen Verband deutscher Hilfsschulen. Er hat das erklärte Ziel, das | |
Hilfsschulsystem in Deutschland auszubauen und das Sonderschulsystem | |
auszudifferenzieren. Zwar bezieht sich der neue Verband auf den 1933 | |
aufgelösten Hilfsschulverband der Weimarer Republik, doch viele seiner | |
führenden Vertreter waren in den Nationalsozialismus verstrickt. | |
Gustav Lesemann, der bis zu seinem Tod 1973 als „Vater der Sonderpädagogik“ | |
gilt und Ehrenvorsitzender des Verbands ist, äußert sich 1931: „Solange man | |
sich nicht entschließen kann, zur Zwangsuntersuchung vor der Ehe, zur | |
Sterilisierung tiefstehender Schwachsinniger zu greifen, bleibt die | |
Erziehung so ziemlich der einzige Weg der Fruchtbarkeitsauslese.“ | |
Während des Nationalsozialismus kritisiert er sogar die angeblich zu lasche | |
Anwendung des Gesetzes zur Verhütung „erbkranken“ Nachwuchses: „Ich | |
persönlich stehe auf dem Standpunkt, daß man hier und da ruhig einmal einen | |
Zweifelsfall mehr sterilisieren soll, anstatt etwa (…) viele durchrutschen | |
zu lassen, die in Wirklichkeit sterilisiert werden müßten.“ Noch heute ist | |
eine Förderschule in Baden-Württemberg nach ihm benannt. | |
## Er machte sich zum Anwalt dieser Kinder | |
Es sind nicht nur personelle Kontinuitäten, die den Verband Sonderpädagogik | |
in der Nachkriegszeit prägen. Man baut auch auf den Ideen aus der NS-Zeit | |
auf. Man orientiert sich an den Unterrichtsrichtlinien, die Tornow 1942 für | |
das Dritte Reich entwickelt hat, man nutzt die Ausbildungskonzepte für | |
Sonderschullehrer, Unterrichtmaterialien, Elternbroschüren. | |
1960 plant die Kultusministerkonferenz die Zukunft der Sonderpädagogik. | |
Zwei Jahre lang wird beraten, verschiedene Mitglieder des Verbands | |
Sonderpädagogik sind beteiligt. Ein Gutachten legt die spätere, | |
international beinahe einzigartige Struktur der deutschen Sonderpädagogik | |
vor: Insgesamt dreizehn verschiedene Sonderschultypen werden aufgelistet. | |
In der Einführung zum Gutachten heißt es: „Das Ansehen der Sonderschulen in | |
der Öffentlichkeit muss gehoben werden. Das deutsche Volk hat gegenüber den | |
Menschen, die durch Leiden oder Gebrechen benachteiligt sind, eine | |
geschichtliche Schuld abzutragen.“ Das diese geschichtliche Schuld die | |
Sonderschulen selbst mittragen, bleibt unbekannt. Hilfsschullehrer | |
schweigen entweder, oder sie behaupten, dass die Hilfsschule in der NS-Zeit | |
bedroht gewesen sei, dass sie versucht hätten, sie zu retten. Wie Karl | |
Tornow. | |
Noch 1943 notiert er: „Wohl kaum eine Schulart hat durch die | |
nationalsozialistische Revolution eine solche innere und äußere | |
Umgestaltung erfahren wie die deutschen Sonderschulen.“ In seiner | |
Entnazifizierungsakte klingt das anders: „Die Partei war ein | |
ausgesprochener Gegner der Heilpädagogik.“ Sie habe nicht nur die | |
„behinderten“ Kinder sterilisieren und vernichten wollen, sondern auch die | |
Hilfsschule selbst. „Ich machte mich zum Anwalt dieser Kinder“, schreibt | |
Tornow. | |
„Sonderpädagogen legitimieren sich bis heute moralisch als Anwälte für das | |
Lebensrecht behinderter Menschen“, sagt die Erziehungswissenschaftlerin | |
Hänsel. „Aber die Sonderpädagogik – besonders die Lernbehindertenpädagog… | |
– hat sich ihren fundamentalen Ausbau in der Nachkriegszeit auf dem Rücken | |
ihrer NS-Opfer erschlichen.“ | |
## Keine Hinweise auf der Webseite des Verbands | |
Der Verband hält sich mit Informationen zu seiner NS-Geschichte eher | |
bedeckt. Auf der Internetseite findet man keinerlei Hinweise. Wer auf | |
Wikipedia nachschaut, findet lediglich einen kurzen Passus, in dem steht: | |
„Der Verband gründete sich 1898 als Verband deutscher Hilfsschulen. 1955 | |
erfolgte die Umbenennung in Verband deutscher Sonderschulen, im Jahre 2008 | |
in Verband Sonderpädagogik.“ Auf Nachfrage wird man auf die zwanzig Jahre | |
alte Verbandschronik verwiesen. Der NS-Geschichte widmen sich die Chronik | |
knapp dreißig von fast dreihundert Seiten. Tornow wird kurz abgehandelt. | |
Selbst seine biografischen Daten sind falsch. | |
Eine der Autorinnen ist die ehemalige Hilfsschullehrerin und | |
Sonderpädagogin Sieglind Ellger-Rüttgardt. Sie unterrichtete jahrelang an | |
der Humboldt-Universität in Berlin und gilt als Koryphäe der | |
sonderpädagogischen Geschichtsschreibung. Dass es keine tiefgehende | |
Beschäftigung mit Tornow gab, erklärt Ellger-Rüttgardt damit, dass dieser | |
nach 1945 keine Rolle mehr gespielt habe. Den Vorwurf der mangelnden | |
Aufarbeitung weist sie zurück. | |
„In den 70er Jahren haben Sonderpädagogen angefangen, sich kritisch mit der | |
NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen“, sagt sie. Man habe den Mythos von | |
der „Rettung der Hilfsschule“ widerlegt, Verstrickungen von Sonderpädagogen | |
wie Gustav Lesemann und die Verbrechen an „Behinderten“ aufgedeckt. Dabei | |
seien auch Kontinuitäten in der Vor- und der Nachkriegszeit thematisiert | |
worden. Hänsel gehe zu weit, wenn sie diese bis in die Gegenwart ziehe. | |
„Sie instrumentalisiert die Geschichte, um damit die Sonderpädagogik | |
anzugreifen.“ | |
Hänsel hält dagegen. Bereits in den 1980er Jahren hätte man kritische | |
Sonderpädagogen auf ähnliche Weise abgespeist. Einer forderte damals, dass | |
die Erfahrung der jüngeren Vergangenheit, eine nichtaussondernde Erziehung | |
notwendig mache. Ellger-Rüttgardts Antwort darauf lautete: Geschichte sei | |
kein Steinbruch, den man für passende Argumente in der Gegenwart | |
missbrauchen dürfe. Eine wissenschaftliche Karriere machte aber keiner der | |
Kritiker. | |
„Die heutigen, angeblich kritischen Darstellungen der offiziellen | |
Geschichtsschreibung haben sich nur geringfügig verändert“, sagt Hänsel. | |
Die Sonderpädagogen werden weiterhin oft als Opfer des Nationalsozialismus | |
dargestellt, ein Text spricht gar von der „Opferqualität auch der Täter.“ | |
Auch Ellger-Rüttgardt behaupte immer noch, die Hilfsschule sei bis 1935 | |
bedroht gewesen. Dafür gäbe es keinerlei aussagekräftige Beweise. Leute wie | |
Tornow deute sie zu NS-Funktionären um und stelle sie außerhalb der | |
Hilfsschullehrerschaft. „Das ist keine kritische Aufarbeitung, das ist | |
Geschichtsfälschung“, sagt Hänsel. „Mit Quellen wird nur selektiv, oft gar | |
nicht gearbeitet.“ | |
## Eugenische Ideen des NS-Staates propagieren | |
Ähnlich sieht das auch der Sonderpädagoge Werner Brill, der jahrelang | |
Ellger-Rüttgardts Assistent war. 2010 legt er eine Habilitation über die | |
NS-Zeit vor. Er greift seine Kollegen scharf an: „Vieles ist geprägt durch | |
ideologische Denkmuster, durch standespolitische Interessen, durch | |
Rücksichtnahmen und durch politische Lagerbildung. | |
Noch immer kann z. B. keine Monographie zum Thema ‚Sonderschule im | |
NS-Staat‘ mit gutem Gewissen empfohlen werden.“ Ein durchgängiges Phänomen | |
sei die „unkritische Übernahme von Positionen anderer“, ohne dass „deren | |
Darstellungen hinterfragt werden. Aus Meinungen werden Fakten.“ Oft werde | |
auf Nachweise verzichtet. Besonders problematisch sei, dass die Geschichte | |
der NS-Zeit beinahe ausschließlich von ehemaligen Hilfsschullehrern und | |
nicht von Externen geschrieben werde. | |
Brill zeigt durch eine umfassende Recherche in regionalen Archiven und im | |
Bundesarchiv in Berlin, dass Hilfs- und Sonderschullehrer massiv die | |
eugenischen Ideen des NS-Staates stützen, propagieren und umsetzen – und | |
das aus freien Stücken. Der Verband der Sonderschulen in Berlin und | |
Brandenburg richtet sich, im Namen des Verbandes der Hilfsschulen | |
Deutschlands, bereits im Januar 1933 an das Ministerium für Wissenschaft, | |
Kunst und Volksbildung und bittet, die Durchführung einer Befragungsaktion | |
über die „Vererbung des Schwachsinns“ zu genehmigen. Personenbezogene Daten | |
über ehemalige Hilfsschüler und ihre Eltern sollen erhoben werden, über | |
vermeintliche Krankheiten und Schädigungen ihrer Eltern, Großeltern, | |
Kinder. Die Nationalsozialisten lehnen dieses Vorhaben ab. | |
Brills Habilitation fällt beinahe durch. Von drei Gutachtern stimmt einer | |
dagegen. Brill hat vor einigen Monaten Akteneinsicht genommen und gesehen, | |
dass das Veto vom Sonderpädagoge Clemens Hillenbrand stammt, der | |
Schriftleiter des Verbands ist. Brill berichtet, er sei Hillenbrand vorher | |
im Rahmen einer Probevorlesung für eine Professur begegnet. Brill hatte in | |
seiner Probevorlesung die Forschungspraxis von sonderpädagogischen | |
Historikern wie Ellger-Rüttgardt kritisiert. Hillenbrand habe ihm zu | |
verstehen gegeben, dass man diese Personen aufgrund ihrer großen Verdienste | |
für die Sonderpädagogik nicht auf solche Weise kritisieren dürfe. Auf | |
Nachfrage der taz erklärte Hillenbrand, er dürfe sich zu den Vorwürfen aus | |
juristischen Gründen nicht äußern. | |
## Ein AfDler ist Referent des Verbands | |
Ein externes Gutachten rettet Brills Habilitation. Es würdigt die Arbeit | |
als wichtige Pionierleistung. Besprochen wird die Studie von fast | |
niemandem, obwohl Brill Exemplare an alle wichtigen Sonderpädagogen | |
schickt. „Man versucht, es unter den Teppich zu kehren“, sagt er. | |
Kritischen Nachwuchs gebe es heute nur noch wenig, die Geschichte der | |
Sonderpädagogik sei kein verbindliches Fach im Studium. Viele angehende | |
Sonderpädagogen wüssten kaum etwas über die Vergangenheit ihrer Disziplin. | |
Brill biete jedes Semester ein Seminar zum Nationalsozialismus an. Seine | |
Studenten seien oft entsetzt über die Situation in der Forschung. „Ich | |
erkläre ihnen jedes Jahr aufs Neue: Was in unserer Disziplin gefordert | |
wird, um erfolgreich zu sein, ist ein Papageientum des Geistes, das den | |
Stillstand manifestiert.“ | |
Der Verband Sonderpädagogik reagiert nun auf die Kritik. Er hat | |
angekündigt, auf seinem nächsten Bundeskongress auch die Rolle der | |
Sonderpädagogik im Dritten Reich zu diskutieren, er findet am kommenden | |
Wochenende in Weimar statt. Als Vortragende hat man Dagmar Hänsel | |
eingeladen. Sie ist gespannt, aber auch skeptisch: „Ich publiziere seit | |
Jahren, und es ist nie etwas passiert. Wahrscheinlich will man sich den | |
Anschein geben, als setze man sich mit der Kritik auseinander – und dann | |
weitermachen wie bisher.“ | |
Hänsel hat Gründe für ihre Skepsis. Als einziger Nachwuchswissenschaftler | |
wurde Frank Brodehl eingeladen. Brodehl ist Taubstummenlehrer und im | |
Landesvorstand der AfD in Schleswig-Holstein. Er ist vor Kurzem zum | |
stellvertretenden Referenten des Verbands für den Schwerpunkt Hören ernannt | |
worden, nachdem er letztes Jahr eine Dissertation zur NS-Geschichte | |
vorgelegt hat. Sie trägt den Titel: „Widerstand, Anpassung, | |
Pflichterfüllung? Zur Konfrontation der Taubstummenpädagogik mit dem Gesetz | |
zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933.“ Doktorvater ist | |
der Verbandsschriftleiter Clemens Hillenbrand. | |
## Schmale und einseitige Quellenbasis | |
Brodehl analysiert drei Taubstummenschulen in Schleswig-Holstein und nimmt | |
die Taubstummenlehrer in Schutz: „Dem (…) verführerischen Gedanken, dass | |
fortan kein Kind mehr mit einer Erbkrankheit geboren werden sollte, konnte | |
nach der Gleichschaltung des Berufsverbandes kein Widerspruch mehr | |
entgegengebracht werden; das enge Netz der Propaganda hätte – wenn | |
überhaupt – nur durch einen organisierten Widerstand auf breiter Basis | |
zerrissen werden können.“ | |
Brodehl stellt sich damit gegen das Werk von Horst Biesold. Dieser hatte in | |
„Klagende Hände“ in den 1980er Jahren ein Tabuthema, die Sterilisierung und | |
Ermordung von Taubstummen im Nationalsozialismus, als Erster öffentlich | |
gemacht – gegen den Widerstand seiner Kollegen, die ihm Quellenmaterial | |
verweigerten und sich öffentlich von ihm distanzierten. Biesold führte mit | |
über 1.200 sterilisierten Taubstummen Interviews, sein Werk wurde vom | |
United States Holocaust Museum in den USA gewürdigt. | |
Brodehl wirft Biesold vor, aus „Entrüstung und Zorn“ die | |
Taubstummenpädagogik pauschal anzuklagen: Seine Quellenbasis sei „schmal“ | |
und „einseitig“, es gebe „Spekulationen“, „Fehlinterpretationen“ und | |
„Übertreibungen“. | |
Brodehls Studie wird vom Verband hochgelobt. Auch Ellger-Rüttgardt nennt | |
sie auf der Verbandsseite einen „wichtigen Beitrag zur sonderpädagogischen | |
Geschichtsschreibung“, gestützt auf „umfangreiches Quellenmaterial“. Es | |
verbiete sich ein „pauschalierender, Gewissheit vortäuschender | |
Schwarz-Weiß-Blick auf die Geschichte“. | |
Die Debatte am nächsten Wochenende dürfte hitzig werden. | |
17 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Giacomo Maihofer | |
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