| # taz.de -- Ausstellung in der Fondation Cartier: Licht und Schatten im tropisc… | |
| > Die Ausstellung „Clair Obscure“ zeigt eine absolut sehenswerte | |
| > Retrospektive des kolumbianischen Fotografen Fernell Franco. | |
| Bild: Fernell Franco, Série Billares, 1985. Koloriert vom Künstler | |
| Dass die Pariser Fondation Cartier den kolumbianischen Fotografen Fernell | |
| Franco (1942–2006) im fensterlosen Kellergeschoss ihres Hauses am Boulevard | |
| Raspail zeigt und nicht im Erdgeschoss, dessen lichte Glasfassade ins noch | |
| immer winterlich struppige Grün des umgebenden Gartens schaut, ist stimmig. | |
| Denn Fernell Franco hat in seinem Werk die Dunkelheit gesucht, den | |
| Schatten; Schutz vor dem grellen Sonnenlicht, das in der Stadt Cali | |
| herrscht. | |
| Cali. Fällt uns da mehr ein als das Cali-Kartell? Eher nicht, wenn wir | |
| ehrlich sind, und schon gar nicht die Cali-Gruppe, zu der der Filmemacher | |
| Luis Carlos Ospina, der Autor Andrés Caidcedo, die Künstler Ever Astudillo, | |
| Oscar Muñoz und eben Fernell Franco gehörten. Sie bildete sich während der | |
| 1970er Jahre, als die tropische Stadt eine kulturelle Blütezeit erlebte, | |
| während der sich Fernell Franco zu einem Fotografen von eigener | |
| künstlerischer Statur entwickelte. | |
| Die aufkommenden Drogenkartelle setzten der Stadt zu, die Francos Eltern | |
| noch Schutz geboten hatten, als sie vor der Gewalt auf dem Land durch den | |
| 1948 ausgebrochenen Bürgerkrieg zwischen Konservativen und Liberalen nach | |
| Cali geflüchtet waren. Fernell erlebte den Verlust der Natur als | |
| traumatisch. War die Sonne hier nicht weniger grell, so war sie doch | |
| beständiger. Anders in der Stadt, wo Licht und Schatten hart gegeneinander | |
| standen und man von einer momentanen Blindheit in die andere stolperte. | |
| Kolumbien war in den 1970er Jahren ein wichtiger Zuckerexporteur, da Kuba | |
| nicht mehr in die USA liefern durfte und Cali, das ein rasantes | |
| wirtschaftliches Wachstum verzeichnete, eine moderne Metropole mit der | |
| entsprechenden kulturellen Infrastruktur aus Zeitungsverlagen, | |
| Werbeagenturen, Galerien, Kinos, dem Teatro Experimental de Cali und | |
| verschiedenen Universitäten. | |
| Mit der Fotografie kam Fernell Franco schon mit zwölf Jahren in Berührung; | |
| da fing er als Fahrradkurier an, für ein Fotostudio Botengänge zu machen. | |
| Wenig später versuchte er sich als fotocinero, was meint, dass er Fußgänger | |
| stoppte, um ihr Porträt zu machen und es ihnen zu verkaufen. Als fotocinero | |
| arbeitete er mit einer Leica, die er dann durch eine Rolleiflex ersetzte, | |
| als er bei der Zeitung El País als Fotograf anheuerte. Er reiste viel, aber | |
| erst, als er einen Halbtagsjob bei der Werbeagentur Nicholls Publicidad | |
| antritt, entwickelte er eigene Projekte. | |
| ## Beispielhaft war das Kino | |
| Eines der ersten bildet 1971 eine Reihe von Bildern von Prostituierten aus | |
| der nahe Cali gelegenen Hafenstadt Buenaventura. Anders, als man es von | |
| einem Fotojournalisten erwarten würde, handelt es sich nicht um eine | |
| Reportage, sondern um eine Bildsequenz, deren Referenzmodell nicht der | |
| fotografische Dokumentarismus, sondern das Kino, der Film ist; genauer | |
| gesagt, der italienische Neorealismus, der bei Fernell Franco großen | |
| Eindruck hinterlassen hatte. | |
| Unbeeindruckt von der Armut der Prostituierten entdeckt er deren Anmut. | |
| Sichtlich möchte der Fotograf die unbefangen halbnackten Frauen in ihrem | |
| Über(lebens)mut nicht aus-, sondern vorstellen. Sein Blick ist weder ein | |
| soziologischer noch ein ästhetischer, sondern ein freundschaftlicher, der | |
| die Betrachter und Betrachterinnen mit den Frauen bekannt macht, mit ihrem | |
| ärmlichen, ja erbärmlichen Alltag, den Franco in seinen Aufnahmen nicht | |
| beschönigt, aber auch nicht dramatisiert. | |
| Eine vielleicht noch deutlicher dem neorealistischen Kino, namentlich | |
| Vittorio De Sicas „Ladri di biciclette“ („Fahrraddiebe“,) geschuldete S… | |
| war „Bicicletas“ mit melancholischen Aufnahmen abgestellter Fahrräder im | |
| Stadtbild und schattenhaften Fahrradfahrern. Gilt, was der kolumbianische | |
| Kritiker und Essayist Santiago Mutis über Fernell Franco sagt: Er | |
| fotografiere nicht so sehr, was er sehe, als vielmehr das, was er | |
| wiedererkenne, womit er Erfahrung habe, dann ist die Serie „Bicicletas“ | |
| Ausgangspunkt für alle seine Serien, obwohl er sie erst Mitte der 1970er | |
| Jahre in Angriff nahm. | |
| Denn auf dem Fahrrad hatte er Cali entdeckt und gesehen, was andere nicht | |
| sahen: das betriebsame Straßenleben mit seinen zweifelhaften Helden und | |
| Königinnen in „Galladas“ (1970), traurige Plätze und vergessene Architekt… | |
| in „Aceras“ (1978), bis er in die Innenräume der Stadt vordrang in | |
| „Interiores“ (1976), darunter die Billardhallen in „Billares“ (1985). | |
| Angelegentlich suchte er die Atmosphäre der gewöhnlichen Wohn- und die | |
| Vergnügungsviertel mit ihren Bars und den vom Salsa beherrschten Tanzdielen | |
| noch einmal einzufangen, die dem Untergang geweiht waren. Zwar fielen sie | |
| vor allem der ökonomischen Modernisierung und nicht so sehr den | |
| Bombenanschlägen der Drogenbanden zum Opfer, doch trug der Krieg zwischen | |
| dem Cali- und dem Medellín-Kartell wesentlich zum Ruin und Niedergang von | |
| Cali und Buenaventura bei, wie in „Demoliciones“ (1988) und „Pacifico“ | |
| (1988) zu sehen. | |
| ## Farbe als Zeichen des Widerstands | |
| Als eine der wenigen Serien in Farbe mochte „Color popular“ (1980) ein | |
| Zeichen des Widerstands gegen den Untergang sein. Anders als die | |
| rußschwarzen Wandfragmente und Ruinen des teuflischen Zerstörungswerks von | |
| Kapital und Kartellen, wie sie „Demoliciones“ zeigt, bedarf es der Farbe, | |
| um der Rumba, also der Partystimmung und der spezifisch urbanen Energie der | |
| volkstümlich dekorierten Friseurläden, Cafés und Tanzdielen, habhaft zu | |
| werden. | |
| Und nichts wollte Fernell Franco mehr, als seine Bilder lebendig zu halten. | |
| Dafür verzichtete er teilweise sogar darauf, seine Abzüge zu fixieren, | |
| damit sie sich − im wahrsten Sinne des Wortes − weiterentwickeln konnten. | |
| Naturgemäß ins Dunkle hinein. | |
| Fernell Franco experimentierte ständig und versuchte die traditionellen | |
| fotografischen Verfahren zu überwinden, um das Erlebnis von Licht und | |
| Schatten − etwa mit dem Mittel der Solarisation − zu intensivieren und | |
| seine Serien, die er bis auf die „Prostitutas“ nie abschloss, filmisch zu | |
| akzentuieren. | |
| Dazu kombinierte er verschiedene Bildausschnitte des gleichen Motivs oder | |
| er zerschnitt die mehrfach entwickelten Abzüge und montierte die | |
| identischen Fragmente in Serie hintereinander; auch mit Bleistift, Airbrush | |
| und Acryl- und Ölfarben intervenierte er, um die Schwarz-Weiß-Abzüge zu | |
| kolorieren oder zu übermalen, wodurch seine Fotos begannen Gemälden und | |
| Druckgrafiken zu gleichen. | |
| Damit schuf Fernell Franco eine ganz einzigartige experimentelle | |
| Tropengeschichte, ohne jenen magischen Realismus, den zu dieser Zeit die | |
| ganze Welt in Südamerika fand; ein Werk, in dem der intensive künstlerische | |
| Diskurs in Cali mit den Freunden fortlebt, die eher keine Freunde von | |
| Macondo waren. | |
| ## Misstrauen gegen die Fotografie | |
| Gleichzeitig zeigt sich in ihm ein Misstrauen gegen die Fotografie, ein | |
| Verdacht ihres Ungenügens. Diese Idee lag dem nur vier Jahre älteren Daido | |
| Moriyama, der parallel zu Franco das Erdgeschoss der Fondation Cartier für | |
| sich hat, denkbar fern. | |
| Ihm waren im Tokio der 1960er und 70er Jahre alle Strömungen der | |
| internationalen Kunst geläufig, und deshalb war er sich sicher, dass die | |
| Fotografie ein ganz ausgezeichnetes Medium sei, ein eigenes verrücktes, | |
| poetisches, böses und wahrhaftiges Bild von der Welt zu entwickeln. „Dog | |
| and Mesh Tights“ bringt es als Raumprojektion in eine Art von filmischer | |
| Bewegung, wie sie sich Franco für seine Bilder gewünscht haben mochte, als | |
| visueller stream of consciousness von Mustern, Schatten, Schriften, Kabeln, | |
| Gesichtern und Werbung. | |
| 17 Apr 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Brigitte Werneburg | |
| ## TAGS | |
| Fotografie | |
| Fondation Cartier | |
| Kolumbien | |
| Kunst | |
| Kunst | |
| Kunst | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Ausstellung in München: Die Farc-Frauen | |
| Die Fotografin Ann-Christine Woehrl hat den Übergang kolumbianischer | |
| Ex-Guerilleras der Farc in den Alltag dokumentiert. | |
| Filmdoku über Peggy Guggenheim: Sie sammelte Männer und Kunst | |
| Peggy Guggenheim schuf eine der wichtigsten Kunstsammlungen des 20. | |
| Jahrhunderts. Eine Filmdoku Lisa Vreelands zeigt, wie sie das machte | |
| Traditionelles Berliner Gallery Weekend: Erinnerung ist Dunkelkammerarbeit | |
| Ein Plakat wirbt für Kunst. Aber ist es wirklich ein Plakat? Oder doch eine | |
| Skulptur? Martin Honert in der Galerie Johnen. | |
| Das neue AArtist-in-residence Programm: Atelier mit Aussicht | |
| Auf dem Dach des Auswärtigen Amts hat der erste AArtist-in-residence seine | |
| Arbeit aufgenommen. Pünktlich zum Gallery Weekend. | |
| Wolfgang Ullrichs Kritik am Kunstmarkt: Symptom einer Renormalisierung | |
| Das neue Buch des Kunsthistorikers Wolfgang Ullrich heißt „Siegerkunst“. Es | |
| fragt nach den Folgen der absurd hohen Kunstmarktpreise. |