# taz.de -- Kirchen und Kultstätten in Armenien: Durch die „Schlucht des Wei… | |
> Tradition wird groß geschrieben in Armenien. Hier finden sich uralte | |
> Kirchen und ein weit zurückreichender Weinanbau. | |
Bild: Das armenische Kloster Geghard gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe | |
Wo wohl der zweite Schuh geblieben ist? Der erste erhielt eine eigene | |
Vitrine im armenischen Nationalmuseum: ein kalbslederner Mokassin Größe 37, | |
mit Stroh gefüttert und 5.500 Jahre alt – das älteste erhaltene Schuhwerk | |
der Menschheit. Der zweite aber könnte sich noch hier am Einstieg zur | |
Areni-Höhle verbergen, unter dem Felsüberhang mit seinen Vogelnestern und | |
Fledermauskojen. Gehörte er dem Höhlenmeister? Denn ein solcher Wächter war | |
unerlässlich, lagerten in diesem kühlen Labyrinth doch Hektoliter von Wein. | |
Erst kürzlich legten Archäologen ganze Batterien von tönernen Bottichen | |
frei, dazu Krüge, Kelterbecken, Lagerräume. Es handelt sich um die älteste | |
Weinkellerei der Welt, gegründet vor 6.100 Jahren. Solch schwindelerregende | |
historische Tiefen begegnen einem in Armenien allenthalben. Es ist das | |
ideale Revier für Zeitreisen. Seit Jahrtausenden dient das Land an der | |
Südseite des Kaukasus als Drehscheibe zwischen Orient und Okzident. | |
Schon der Name der Provinz, Wajoz Dsor, bedeutet schlichtweg „Schlucht des | |
Weines“. Eine zerklüftete Karl-May-Landschaft mit fleischfarbenen Klippen | |
und engen Felsenpforten, garniert mit steinalten Kirchen, die wie | |
Adlerhorste auf schwer einnehmbaren Felsenkanzeln sitzen. Die Sonnenhänge | |
sind von Weinreben bestanden. Die vorherrschende Areni-Traube erwies sich | |
als direkter Nachfahr der Trauben aus der Höhle. | |
Die Legende führt sie auf keinen Geringeren als Noah zurück. Nachdem die | |
Arche am Berg Ararat gestrandet war, pflanzte er als Erstes einen | |
Weinstock. Der mächtige Vulkan erhebt sich siebzig Kilometer weiter | |
westlich; so ganz fiktiv ist diese biblische Geschichte also nicht. Auch | |
die vier Flüsse des Garten Eden werden oft im armenischen Hochland | |
verortet. | |
## Wein in Cola-Flaschen | |
Das Wort „Paradies“ stammt aus dem Persischen – und Areni liegt an der | |
Route zur iranischen Grenze. Zehntausende Besucher aus dem Nachbarland | |
fahren jährlich hier durch. Die meisten decken sich entlang der Strecke mit | |
großen Cola-Flaschen ein, in denen ein Trank schwappt, der kaum wie Cola | |
aussieht. | |
Die „Schlucht des Weines“ war vielleicht noch nicht das Paradies, doch | |
zumindest sein Vorhof. Solche kulturgeschichtlichen Bezüge haben die drei | |
Kompagnons der Trinity Canyon Vineyards dazu bewogen, ihre Weine schlicht | |
unter dem Label „6100“ zu vermarkten. Kellermeister Artem Parseghjan hat | |
sein Metier im Rheingau erlernt. | |
„Die Bauern hier verfügen über gute Rebstöcke. Aber sie behandeln sie wie | |
Obst, gehen auf hohe Erträge aus und nicht auf Qualität.“ Ausgerechnet aus | |
der ältesten Sorte der Welt komponiert Parseghjan einen modernen, trockenen | |
Rotwein mit Aromen von Zimt und Nelken, gereift in Eichenfässern. Für | |
nächstes Jahr plant er gar Revolutionäres: „Deutschland hat mir die Welt | |
des Weißweins eröffnet. Auch bei uns wäre da viel möglich, es wurde nur nie | |
wirklich versucht.“ | |
Das Thema Wein begegnet einem hier auf Schritt und Tritt. In den Kirchen | |
der Umgebung ist Jesus häufig mit dem Weinstock dargestellt, und etliche | |
der aufwendig gemeißelten Grabsteine zeigen die Verblichenen bei der Arbeit | |
im Weinberg oder beimGenuss eines Schoppens. Beim Winzerfest in Areni | |
stapfen Mädchen barfüßig durch große Weinbütten – nicht anders als ihre | |
Vorfahrinnen in der Höhle, die auch als Kult- und Grabstätte genutzt wurde; | |
der Weingenuss diente von Anfang an auch rituellen Zwecken. | |
## Das Kloster zur Heiligen Lanze | |
An derartigen Kultplätzen entstanden später Felsenkirchen. Wie etwa | |
Geghard, das fünfzig Kilometer weiter nördlich liegt, jenseits eines wilden | |
und weglosen Gebirgszuges, durch den Bären, Wölfe und Wildziegen streifen, | |
vereinzelt auch noch Leoparden. Nur in wenigen Kirchen durften zu | |
Sowjetzeiten überhaupt Gottesdienste abgehalten werden, Geghard war eine | |
davon. Das Kloster zur Heiligen Lanze, in dem ein Spieß gehütet wurde, mit | |
dem Jesus am Kreuz durchbohrt worden sein soll. Vielleicht war dieser | |
Gralsort ja eine Art Geheimwaffe der armenischen Kirche. Denn seine | |
suggestive Kraft wirkt so stark, dass selbst Atheisten schwach werden | |
können. Spiritualität braucht man hier nicht zu suchen – sie ist gegeben. | |
Als wolle es mit ihm verschmelzen, schmiegt sich das Kloster an die Hänge | |
eines Felsenkessels. Trutzige Wohn- und Wirtschaftsgebäude umfassen die | |
Kirche, deren Turmspitze wie ein Zündhütchen aussieht. Doch all das sind | |
nur Vorbauten – die eigentliche Kirche ruht im Berg. Er wurde in mühevoller | |
Handarbeit ausgehöhlt, wobei die Grabung von oben her erfolgte. Durch diese | |
Deckenöffnung sickert das Licht bis auf den Grund der Höhle. Die mystische | |
Wirkung wird durch die phänomenale Akustik noch verstärkt. Wenn das | |
Ensemble Garni geistliche Gesänge anstimmt, fluten sie den runden Raum und | |
scheinen dann zum Licht hin zu entschweben. Die frühesten sind fast so alt | |
wie das Kloster: 1.600 Jahre. | |
Armenier besitzen ein anderes Zeitmaß. Eine „junge Kirche“ ist ihnen eine | |
aus dem 14. Jahrhundert, die Kugelgestalt der Erde wurde hier „erst“ im 5. | |
Jahrhundert erkannt, und wenn Städte ihr Alter belegen wollen, so ziehen | |
sie weder mittelalterliche Urkunden noch römische Chronisten heran, sondern | |
assyrische Keilschrifttafeln, die im Falle Eriwans eine fast | |
dreitausendjährige Geschichte belegen. Womit es eine der ältesten noch | |
bestehenden Städte der Welt ist. | |
## Das Wunderland der rosa Elefanten | |
Und doch ist es eine junge Stadt, in der junge Leute den Ton angeben. | |
Angefangen mit den Kindern, die freilich keinen Blick haben für die | |
schimmernde Hoheit des Ararat, die patriotischen Denkmäler und die reich | |
bestückten Museen. Vielmehr streben sie alle, wie ferngesteuert, ein und | |
dasselbe Ziel an: Grand Candy, das Wunderland des rosa Elefanten. Ein | |
großer Süßwarenhersteller, der seit den dreißiger Jahren die halbe UdSSR | |
mit Naschwerk versorgte, betreibt am einstigen Leninprospekt ein | |
nostalgisches Café, das in allen Bonbonfarben leuchtet. | |
Während die Kunden sich unten an Kiosken und Automaten drängen, dreht über | |
ihren Köpfen eine frei hängende Spielzeugeisenbahn töffelnd ihre Runden. | |
Eine wahr gewordene Kindergeschichte, ein Glückstraum aus Kakao, Konfekt | |
und Karamell. | |
Eriwans internationales Flair rührt weniger von den Touristen als von den | |
Auslandsarmeniern her, die aus aller Welt auf Besuch kommen, angezogen vom | |
Mythos des Mutterlandes, von vielversprechenden Geschäften, von einer | |
rauschenden Hochzeit oder vom regen Nachtleben. Sie waren es auch, die den | |
Jazz in den Kaukasus brachten, direkt aus San Francisco und New Orleans, | |
und das schon vor achtzig Jahren. | |
Bis heute pulsiert in Eriwan eine höchst lebendige Jazzszene, und jede | |
Nacht steht ein halbes Dutzend Clubs zur Auswahl. Die Weine in diesen | |
kuscheligen Großstadthöhlen stammen, wie es sich gehört, aus Wajoz Dsor. | |
Mit dieser prähistorischen Errungenschaft prosten die Gäste sich dann im | |
Hier und Heute zu: Kenats’t – auf das Leben! | |
9 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Stefan Schomann | |
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