| # taz.de -- Publizist Roger Willemsen ist tot: Der Mann des Bildungsfernsehens | |
| > Er war der belesenste TV-Moderator der letzten 20 Jahre, ein Idol des | |
| > Bildungsbürgertums. Am Sonntag ist Roger Willemsen gestorben. | |
| Bild: Ein Mann der elaborierten Auseinandersetzung auf beinahe allen Quatschsof… | |
| BERLIN taz | Die taz kam ja auch in den, so muss man es neidlos sagen, | |
| Genuss seiner wirklich sehr virtuosen Art, sehr Hässliches sehr schön | |
| formulieren zu können. Als die Kolleg*innen der sonntaz vor gut sechs | |
| Jahren Roger Willemsen fragten, ob er sich am „Streit der Woche“ mit einer | |
| kurzen Einlassung beteiligen würde, zierte er sich nicht lange – und das | |
| Zieren war ihm öfters ja angelegen –, denn das Objekt, dem er einige | |
| garstige Sätze widmen sollte, lag ihm schon lange wie ein mieser Stein auf | |
| der Seele. | |
| So [1][schrieb er] denn zur Show „Germany‘s Next Top-Model“ und ihrer | |
| Präzeptorin Heidi Klum: | |
| „Eine unschöne Frau mit laubgesägtem Gouvernanten-Profil bringt kleine | |
| Mädchen zum Weinen, indem sie ihre orthodoxe, hochgerüstete Belanglosigkeit | |
| zum Maßstab humaner Seinserfüllung hochschwindelt, über ‚Persönlichkeit‘ | |
| redet, sich aber kaum mehr erinnern kann, was das ist, und sollte diese je | |
| zum Vorschein kommen, sie mit Rauswurf bestraft. Der Exzess der Nichtigkeit | |
| aber erreicht seinen Höhepunkt, wo Heidi Nazionale mit Knallchargen-Pathos | |
| und einer Pause, in der man die Leere ihres Kopfes wabern hört, ihre | |
| gestrenge ‚Entscheidung‘ mitteilt, und wertes von unwertem Leben scheidet. | |
| Da möchte man dann elegant und stilsicher, wie der Dichter sagt, sechs | |
| Sorten Scheiße aus ihr rausprügeln – wenn es bloß nicht so frauenfeindlich | |
| wäre.“ | |
| Die Passage sei hier in Gänze zitiert, kein Wort ist überflüssig – auch | |
| wenn die leicht dünkelhafte Allüre, die dem Mann des Bildungsbürgertums ja | |
| immer eigen war, im Verhältnis zur Trashkultur immer etwas zu mokant, zu | |
| selbstsicher, zu gewiss in eigener (Klassen-)Sache wirkte. | |
| Es ist traurig und wahr zugleich, denn Roger Willemsen, der belesenste | |
| unter allen TV-Figuren der vergangenen 20 Jahre, der Mann der Literatur, | |
| des Talks und der elaborierten Auseinandersetzung auf beinahe allen | |
| Quatschsofas der Republik, kann bei der nächsten Staffel der | |
| Heidi-Klum-Dressur- und Zuchtshow nicht mehr zugucken – lebte er aber, | |
| dürfte er ein wenig seufzen, denn nichts scheint sich an dem Befund zu | |
| dieser dunklen Meisterin der Körperformatierung geändert zu haben. | |
| Willemsen, erschütternd junge 60 Jahre alt erst, ist gestern an den Folgen | |
| seiner Krebserkrankung gestorben. | |
| ## Niemand hatte so interessante Gäste | |
| Er kam in die deutsche Öffentlichkeit zufällig – der Autor des irgendwie | |
| Marxistische-Gruppe-Sound-geprägten Buches „Kopf oder Adler“ (1990), ein | |
| jugendliches Statement gegen die entsetzliche Welt der deutschen Wendezeit, | |
| gegen miese Kleinbürger und geschmacklose Geilheit auf die D-Mark, auf | |
| schmutzige Polithälse und schmierige Politiken war nicht die erste Wahl, | |
| als der Privatsender „Premiere“ 1991 die Talkshow „0137“ ins Leben rief. | |
| Willemsen freilich, ein Mann mit Interesse für Themen wie die Abruzzen, | |
| Audrey Hepburn, Robert Musil, Giacomo Casanova, nutzte diesen steten | |
| Zweiertalk, gehalten in einem kühlen, fast undekorierten Studio zu | |
| Sternstunden der Sprech- und Fragekunst. Niemand hatte so illustre, | |
| interessante Gäste: Exgefangene der RAF, Jassir Arafat, einen entflohenen | |
| Bankräuber, die Frau vom „Frühstück bei Tiffany“. | |
| Klar, dafür bekam er die einschlägigen Branchenpreise. Und schließlich die | |
| Gunst des ZDF, bei dem er seinen Talk fortsetzte. Seine Gäste waren durch | |
| die Bank keine unterschichtskompatiblen Zeitgenoss*innen, sondern Leute, | |
| die auch den abituriellen Zirkeln der Republik mundeten. Willemsen war ein | |
| Idol der bildungsbürgerlichen Kreise, er schaffte es, diesen das Gefühl zu | |
| geben, Fernsehen könne ein Medium des gehobenen Anspruchs und des guten | |
| Geschmacks sein. | |
| ## Viel Lob, auch falsches | |
| Dem Fernsehen war er, ob beim schweizerischen SRG oder dem WDR für eine | |
| Literatursendung, immer treu. In den vergangenen Jahren war Willemsen mehr | |
| schreibend tätig. Erhielt auch viel Lob, gelegentlich auch falsches. 2006 | |
| veröffentliche er seine „Afghanische Reise“, 2009 „Bangkok Noir“, vor … | |
| Jahren „Momentum“ und 2013 „Es war einmal oder nicht – Afghanische Kind… | |
| und ihre Welt“. | |
| Bücher, die allesamt die Horizonte eröffneten, die er noch in „Kopf oder | |
| Adler“ verspottete: Geschrieben jetzt für Menschen, für die Weltläufigkeit | |
| ein Must ist und Provinzialität ein Graus, solche also, die auf den | |
| Treibstoff der entgrenzten Welt, den Modus der Kritik an allem, viel gaben. | |
| Willemsen gab all seinen Leser*innen – vor allem solchen weiblichen | |
| Geschlechts – das Gefühl, sie zu verstehen, ihre Sorgen, Nöte und helfenden | |
| Bedürfnisse. Das fragwürdige [2][Buch „Das Hohe Haus: Ein Jahr im | |
| Parlament“] enthüllte freilich eine immer leicht übersehene Seite dieses | |
| Stilisten und Künstlers in allen Deutungsdisziplinen. Sein Ressentiment | |
| verfahrenstechnischen Abläufen gegenüber. Im Bundestag als oberflächelnder | |
| Beobachter wollte er die große Politoperette erkennen – und ward | |
| enttäuscht, weil er das Bohren dicker Bretter für abstoßend hielt. | |
| Willemsen wusste viel zu lesen. Und zu schenken. Der taz eben diese kleine | |
| feine Sottise gegen den Wahn, dass nur weibliche Hungerhaken okay seien. | |
| Dass er deren erbarmungsloser Zuchtmeisterin tüchtig einen überbügelte, | |
| wird auf ewig bleiben. | |
| 8 Feb 2016 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
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