# taz.de -- Ständiger Gast im Talkshowzirkus: Lasst sie reden | |
> Steffen Bothe saß in den vergangenen 20 Jahren bei 800 Talkshows im | |
> Publikum. Ein seltsames Hobby? Oder die politischste Form des Amüsements? | |
Bild: Steffen Bothe beobachtet „Thadeusz und die Beobachter“ | |
Steffen Bothe ist ein Profi. Als sich in der zweiten Werbepause von Thomas | |
Gottschalks RTL-Sendung die ersten Studiozuschauer durch die engen Reihen | |
zur Toilette schieben, bleibt Bothe sitzen. Er schüttelt den Kopf und sagt: | |
„Das sind die sogenannten Nichtprofis“. Bothe sitzt seit 20 Jahren im | |
Publikum von Fernsehshows und musste noch kein einziges Mal auf die | |
Toilette, nicht einmal damals beim „Supertalent“, als die Aufzeichnung | |
sechs Stunden dauerte. Und das soll auch so bleiben. „Toi, toi, toi“, sagt | |
Bothe und klopft auf seinen Kopf. | |
Steffen Bothe ist 44 Jahre alt, er war 24, als er anfing, fast wöchentlich | |
in Talkshows zu gehen. Es ist sein Hobby. So wie andere ins Kino gehen. | |
Bothe schätzt, er sei schon in 800 Sendungen gewesen, locker. Das | |
Verzeichnis der Agentur, über die er die meisten seiner Tickets bestellt, | |
zählt allein 511 Einträge seit dem Jahr 2000. Seine Top 3: Eine | |
Silvestershow mit Dieter Thomas Heck, die im Mai aufgezeichnet wurde, | |
Weihnachten mit Hape Kerkeling und eine Griechenland-Sendung von Günther | |
Jauch, bei der der Strom ausfiel und Jauch 45 Minuten improvisierte. | |
Er war dabei, als in den Neunzigern der Nachmittagstalk erfunden wurde, | |
„Vera am Mittag“ und „Arabella“. Er erlebte die Gründung der | |
Talkshowrepublik mit Sabine Christiansen, saß sonntags bei Anne Will, bei | |
Jauch und wieder bei Will. Sendungen wurden konzipiert und verworfen. | |
Steffen Bothe blieb. Er hat viel zugehört. Vielleicht kann er mehr über die | |
Debatten in diesem Land erzählen als die Menschen, die sie moderieren. | |
Wir verabreden uns zu einem Marathon: Vier Talkshows in drei Tagen, | |
zusammen werden es 13,5 Stunden in Fernsehstudios. Ein Langstreckenlauf an | |
der Seite eines Profis. | |
## „Mensch Gottschalk. Das bewegt Deutschland“, RTL | |
Sonntagabend, 18.30 Uhr, Studio Berlin Adlershof. Steffen Bothe trägt ein | |
Hemd in warmem Orangegelb und wird zusammen mit 400 Zuschauern in ein | |
Studio in warmem Orangegelb geführt. Studio A, Bothe kennt es gut, er saß | |
hier früher öfter bei der Schlagersendung von Achim Mentzel. | |
Einmal wurde er zum Mitschunkeln an die Studiobar gesetzt und sollte vor | |
den Kameras tanzen. Also forderte er eine ältere Dame auf. Sie gehörte, wie | |
sich später herausstellte, zu einem Tanzverein auf Berlinausflug. Sie | |
führte. Bothe hat das nicht gestört. | |
Heute setzt er sich in die sechste Reihe. Meistens sitzt er hinten. „Da | |
sieht man meine Platte nicht so oft“, sagt er. Steffen Bothe hat ein rundes | |
Gesicht und eine Knubbelnase, alles an ihm ist ruhig und gelassen. | |
Vorn auf dem Podium steht eine hellgrüne Sofalandschaft, eingerahmt von | |
zwei dorischen Säulen. Wohnzimmeratmosphäre mit 400 Gästen. | |
Thomas Gottschalk hat zwar fast 4 Stunden Zeit zur Verfügung, behandelt | |
dabei aber geschätzte 15 Themen. Martin Schulz, der Präsident des | |
Europaparlaments, kommt auf die Bühne. Thema sind die multiplen Krisen | |
Europas. Aber es muss schnell gehen. | |
Herr Schulz, Europa hat viele Probleme, wie lösen wir die? Begrüßen wir | |
hier eine geflohene syrische Schwimmmeisterin, die ein leckes Schlepperboot | |
über die Ägäis gezogen hat. Hallo, schön, dass du hier in Berlin für | |
Olympia trainieren kannst. Zurück zu Ihnen, Herr Schulz, wollen Sie Kanzler | |
werden? Sind Sie Tänzer? Dann tanzen Sie, hier sind die Pet Shop Boys. | |
Zwischendrin muss immer noch Zeit für einen schnellen Gag sein. | |
Mercedes-Chef Dieter Zetsche steigt aus dem selbst fahrenden Auto und sagt: | |
„Der kann mehr, als er darf.“ Gottschalk: „So wie ich.“ Gottschalk | |
funktioniert wie immer. | |
Das Publikum lacht an den richtigen Stellen, „hohoho“ macht es, als ein | |
veganer Metzger erklärt, dass er sein Mett „Hackepetra“ nennt, und es wird | |
sofort rhythmisch geklatscht, als zwei Zauberer beginnen einen riesigen | |
Fußball aufzupumpen, den sich einer von ihnen über den Kopf zieht. | |
Steffen Bothe kennt die Regeln dieser kontrollierten Ausgelassenheit. Es | |
gibt Warm-Upper, die vor der Aufzeichnung Witze erzählen, und Anklatscher, | |
die anfangen, wenn es Zeit für Applaus ist. In einem Einspielfilm sagt | |
Donald Trump, er werde der beste Jobbeschaffer sein, den Gott je erschaffen | |
hat. Die Zuschauer applaudieren. Es muss nun mal nach jedem Video | |
geklatscht werden. | |
Talk und Show fanden in Deutschland spät zusammen. Bis in die | |
Siebzigerjahre gab es in der Bundesrepublik vor der Kamera nur „das strenge | |
Gespräch, das nüchterne Interview, die asketische Diskussion“, wie der | |
Fernsehkritiker Manfred Delling schrieb. | |
Dann kam „Je später der Abend“ mit Dietmar Schönherr. Zu Beginn der Sendu… | |
erklärte er dem Publikum, was er da vorhabe: „Ich begrüße Sie sehr herzlich | |
zu unserer ersten sogenannten Talkshow ‚Je später der Abend‘. Eine Talkshow | |
– was ist das? Denken Sie nicht, dass eine Talkshow das Gegenteil einer | |
Nachtshow ist; Talk kommt von to talk, reden, das Ganze ist also eine | |
Rederei.“ | |
Es war ein schwieriger Start, die Zuschauer fremdelten, die Vergleiche mit | |
amerikanischen Vorbildern machten Schönherr einen Wahnsinnsdruck. Sein Stab | |
bestand aus einem Redakteur und zwei freien Mitarbeitern. Ob eine Sendung | |
gelang, war so völlig von der Eloquenz der Gäste abhängig. Bei Gottschalk | |
gab es zwei Proben vor der Sendung, alles ist minutengenau durchgetaktet. | |
Gottschalk will an diesem Abend mit normalen Leuten über normale Dinge | |
reden, über Themen, die die Menschen bewegen. Steffen Bothe ist ein | |
normaler Mensch, den normale Dinge interessieren. Er hat einen stressigen | |
Job in einer Zeitarbeitsfirma in der Gastronomie und hört gerne Helene | |
Fischer. Die letzten Bücher, die er gelesen hat, waren „Deutschland schafft | |
sich ab“ von Thilo Sarrazin und eine Biografie von Gerhard Schröder. Er | |
guckt am liebsten den Münster-Tatort, weil sie da gute Sprüche machen, aber | |
„oberhalb der Gürtellinie“. Sein Geschmack ist ein Gradmesser für das, was | |
Deutsche im Fernsehen sehen wollen. Wenn etwas Deutschland bewegt, dann | |
bewegt es auch ihn. Und wenn etwas ihn bewegt, dann mit einiger | |
Wahrscheinlichkeit auch Deutschland. Was also ist das? | |
Die Produktionsfirma von „Mensch Gottschalk“ hat vor der Aufzeichnung Gäste | |
befragt, auch Steffen Bothe. | |
Der Tod wessen Prominenten hat Sie zuletzt mitgenommen? Guido Westerwelle. | |
Wer ist der größte Deutsche Popstar? Nena. | |
Wovor haben Sie Angst? Altersarmut. | |
Nena wird an diesem Abend singen. Michael Mronz, der Ehemann von Guido | |
Westerwelle, sendet eine Videobotschaft an eine jungen Frau, mit der Thomas | |
Gottschalk über ihren Kampf mit dem Blutkrebs spricht. Steffen Bothe läuft | |
da eine Träne herunter. | |
„Acht von zehn Punkten“, sagt er, als der Abend um 0.15 Uhr endet. | |
## „Das Duell mit Heiner Bremer“, N-TV | |
Am nächsten Tag gibt es kein Warm-up. Die Aufnahmeleiterin von N-TV begrüßt | |
die Zuschauer kurz und nüchtern. „Wenn Ihnen ein Argument gut gefällt, | |
klatschen Sie“, sagt sie. | |
„Das Duell mit Heiner Bremer“ ist eine von Steffen Bothes liebsten | |
Sendungen. Seit dem Start vor 13 Jahren ist er dabei. Das Konzept ist: Kein | |
Schnickschnack. Ein Moderator, zwei Gäste, keine Einspielfilme. 45 Minuten | |
pure Sachlichkeit. Das gilt auch für das Publikum: Wo bei Gottschalk | |
begeisterte, hübsche Menschen in Nahaufnahme gezeigt wurden, ist hier der | |
Raum so ausgeleuchtet, dass die 60 Zuschauer im Fernsehen nur als | |
Silhouette zu sehen sind. Das suggeriert: Hier schaut jemand zu, aber es | |
ist nicht wichtig, wer. Das Publikum als demokratische Öffentlichkeit, die | |
per Applaus über die besten Argumente abstimmt. | |
Heiner Bremer, ehemaliger Stern-Chefredakteur, moderiert heute zum letzten | |
Mal. Steffen Bothe ist froh, dabei zu sein. | |
Tagsüber kellnert Bothe im Interconti oder macht das Catering im Berliner | |
Abgeordnetenhaus. Er verdient wenig und arbeitet viel. Dafür lernt er | |
interessante Leute kennen. Neulich hat er Frank Henkel bedient, den | |
Berliner Innensenator. „Ich hab Kohldampf“, hat Henkel zu ihm gesagt, | |
danach einen Witz gerissen und sich bedankt. So etwas mag Steffen Bothe: | |
Wenn Menschen, die eine große Nummer sind, reden können wie ganz normale | |
Leute. Wenn sie auch mal stottern oder nicht gleich die richtigen Worte | |
finden. „Ich verspreche mich auch dauernd“, sagt Bothe. | |
Abends, nach der Schicht, möchte Bothe abschalten. Also geht er in | |
Fernsehstudios. „Vor dem Fernseher erlebt man nichts.“ Aber im Studio, | |
dieses Gewusel, gerade wenn was nicht klappt, „nonplusultra“, sagt Bothe. | |
In den Sommerferien, wenn kaum Sendungen aufgezeichnet werden, fehle ihm | |
was. Abhängig sei er, ja, das könne man sagen. | |
Der Moderator Heiner Bremer kommt ins Studio, sagt kurz „hallo“ und | |
unterhält sich mit seinen Gästen. Alexander Gauland von der AfD und Gerhart | |
Baum von der FDP, ehemals Innenminister in der sozialliberalen Koalition. | |
Die Themen sind Willkommenskultur und Fremdenhass. | |
Im Moment wird in Deutschland viel darüber geredet, ob man Rechtspopulisten | |
in Talkshows einladen soll. Man gebe ihnen damit eine Plattform, sagen die | |
einen. Die anderen: Man könne sie dort entzaubern. | |
Bei Heiner Bremer, Gerhart Baum und Alexander Gauland wird es kaum laut. | |
Selten wird jemand unterbrochen. Aber es gibt auch keine Möglichkeit, | |
davonzukommen. In Shows mit mehr Gesprächspartnern endet ein Dialog oft, | |
weil ein anderer Redezeit bekommen muss. Bei zwei Gästen merkt man relativ | |
schnell, welche Argumente Schwachstellen haben. Und am Ende steht die | |
Erkenntnis: Alexander Gauland ist jemand, für den die | |
Fußballnationalmannschaft irgendwann zwischen 1954 und heute aufhörte, „im | |
klassischen Sinne“ deutsch zu sein, jemand, dem die individuelle | |
Religionsfreiheit weniger wichtig ist als die christliche Tradition | |
Deutschlands. Niemand kann sagen, er wisse nicht, wofür dieser Politiker | |
steht. | |
Heiner Bremer verabschiedet sich mit den Worten: „Wir haben in all diesen | |
Sendungen versucht, nicht nur Krawall zu erzeugen, sondern auch zu | |
erreichen, dass Orientierung für Sie zu Hause und hier im Studio haften | |
geblieben ist.“ | |
Bremer sagt nach der Sendung, er habe nie gezögert, Alexander Gauland | |
einzuladen: „Er ist ein guter Diskutant, einer der besten Gesprächspartner, | |
die ich im Studio hatte.“ Bremer spricht aus einer Fernsehlogik heraus: | |
Zwei Gäste, die gerade Sätze sagen können und die politisch weit | |
auseinander liegen, sind die perfekte Besetzung für Streitgespräche. | |
Kaffeepause beim Bäcker im Kaufland. Noch zwei Stunden bis zur nächsten | |
Aufzeichnung: „Hart aber fair“. „Diese Parteien sind in so einem Trott | |
drinne, berufsblind, wie einer nach 20 Jahren Arbeit“, sagt Bothe. Die AfD | |
schmecke ihm auch nicht, aber frischer Wind sei nicht schlecht. | |
Welcher Partei die Studiogäste angehören, ist ihm egal. Bei Künast schläft | |
er ein. Bosbach ist gut, Gysi sowieso. „Die guten alten Politiker“, nennt | |
Bothe sie: Leute, die so reden, dass man sie auch versteht. An | |
Wahlwochenenden liest Steffen Bothe alle Parteiprogramme. Am Ende wählt er | |
meist die Linken. Er lebt in Pankow, Gregor Gysi wohnt gleich um die Ecke. | |
## „Hart aber fair“, ARD | |
In Studio C von Berlin-Adlershof verzieht der Kabarettist Serdar Somuncu | |
das Gesicht. Gerade hat neben ihm Roger Köppel von der rechten Schweizer | |
Volkspartei SVP gesagt: „Natürlich sind die Regierungen schuld, wenn | |
Asylheime brennen.“ Die Brandanschläge auf Flüchtlingsheime in Deutschland | |
hätten damit zu tun, dass Regierung und Medien sich weigerten, berechtigte | |
Sorgen der Bürger aufzunehmen. | |
Es wird heiß im Studio. Norbert Röttgen von der CDU wirft Köppel vor, | |
Gewalt zu legitimieren. Köppel sagt, „nein, das ist ein persönlicher | |
Angriff!“ | |
Es geht um die Frage: Ist Roger Köppel ein Populist? Und wie funktioniert | |
Populismus? Serdar Somuncu referiert: Die SVP hat eine Reihe von | |
Volksentscheiden initiiert, darunter die „Ausschaffungsinitiative“, also | |
den Vorstoß, kriminelle Ausländer schneller abzuschieben. Somuncu wirft | |
Köppel vor, dass die Initiative den Rechtsstaat verletze. Dann passiert | |
das: | |
Plasberg: „Herr Köppel, ich möchte Ihnen eine Frage stellen. Das, was Herr | |
Somuncu Ihnen an den Kopf geworfen hat, wie sehr nützt Ihnen das bei Ihren | |
Anhängern? | |
Köppel: „Das ist doch nicht die Frage.“ | |
Plasberg: „Doch, das ist die Frage, wie Populismus funktioniert. Hat es | |
Ihnen jetzt eher in der Schweiz genützt oder geschadet, was hier passiert | |
ist?“ | |
Köppel: „Also, wenn jemand …“ | |
Plasberg: „Hat es, ja oder nein?“ | |
„Zumindest schläft man nicht ein“, flüstert Steffen Bothe. | |
Köppel: „Ein Kaberettist, der so …“ | |
Plasberg: „Ja oder nein?“ | |
Köppel: „Ein Kabarettist, der so was erzählt im deutschen Fernsehen, nützt | |
der Schweiz.“ Doch er meint: Es nützt ihm. | |
„Und das ist das Problem, glaub ich“, sagt Plasberg und klatscht auf den | |
Tisch. | |
„Nein, das ist Ihr Problem“, sagt Köppel. | |
Vielleicht war das gerade ein großer Moment. Eine zweite Lektion in Sachen | |
Rechtspopulismus an diesem Tag. Denn zwar ist einerseits der ganze Verlauf | |
der Sendung ein Paradebeispiel dafür, wie man es nicht machen sollte, | |
nämlich: Viele schlagen gemeinsam auf einen Provokateur ein. Aber | |
andererseits hat Plasbergs Nachhaken den Mechanismus dahinter sichtbar | |
gemacht. Den populistische Modus operandi: Provozieren, eine steile These | |
raushauen, auf die Empörung warten, zurückrudern und sich als Opfer | |
hinstellen. | |
Von „Krawalltalk“ und „Wortgefechten bis kurz vor dem Zungenriss“ schre… | |
Bild.de am nächsten Tag. Die Aargauer Zeitung meint, Köppel sei als | |
Populist entlarvt worden. Was bei Plasberg gesagt wurde, interessiert | |
einige – auch die, die nicht dabei waren. | |
Dass Talkshows über ihre eigentliche Sendezeit hinaus Bedeutung erlangen, | |
sie also rezensiert werden, ist ein relativ junges Phänomen. Seine | |
Entstehung fällt in eine Zeit, in der die Talkshow zum tonangebenden Format | |
im deutschen Fernsehen wurde. Das begann ziemlich genau am 4. Januar 1998, | |
als die erste Folge von „Sabine Christiansen“ gesendet wurde. Von nun an | |
begann Sonntagabend, 21.45 Uhr, direkt nach dem „Tatort“, die politische | |
Woche in Berlin. Die Sendung wurde rezipiert, kritisiert, die Aussagen von | |
Politikern bei Christiansen wurden zum Ausgangspunkt politischer Debatten. | |
Der CDU-Politiker Friedrich Merz sagte: „Ihre Sendung ist wichtiger als die | |
Reden im Deutschen Bundestag.“ Manche nannten dieses neue Zeitalter die | |
„Talkshow-Republik“. | |
## „Thadeusz und die Beobachter“, rbb | |
„Einen Wunderschönen“, ruft Steffen Bothe Birgit Hermann in der | |
Eingangshalle des rbb zu. Bothe wünscht grundsätzlich einen | |
„Wunderschönen“, und ob damit Nachmittag, Abend oder Morgen gemeint ist, | |
hängt von der Uhrzeit ab. | |
Birgit Hermann ist Kundenbetreuerin: Sie begrüßt die Gäste und platziert | |
sie im Fernsehstudio. Die mit der Werbung auf den T-Shirts nach hinten, | |
Schulklassen immer im ganzen Raum verteilen. Frau Hermann und Steffen Bothe | |
kennen sich seit über 15 Jahren. | |
Stammzuschauer wie Steffen Bothe sind das wichtigste Kapital von | |
Veranstaltungsagenturen wie TV Ticket Service, die die Zuschauer für | |
Fernsehstudios organisieren und den Sendern garantieren, dass keine Plätze | |
frei bleiben. Deswegen muss Steffen Bothe heute für keinen seiner | |
Talkshowbesuche mehr zahlen, selbst wenn ein Besuch bei Anne Will sonst | |
Eintritt kostet. Stammzuschauer wie Steffen Bothe springen ein, wenn ein | |
Reisebus auffällt. Gleichzeitig sind sie verlässlich, man kann mit ihnen | |
planen. Bothe hat seinen Alltag um die Fernsehaufzeichnungen herum | |
strukturiert. Sobald er seinen Schichtplan bekommt, telefoniert er mit der | |
Ticketagentur. Wir brauchen Sie für Plasberg, wollen Sie da hin? | |
Im rbb wird heute „Thadeusz und die Beobachter“ aufgezeichnet. Vier Gäste, | |
Hauptstadtjournalisten, stellen jeweils ein Thema vor, mit dem sie sich | |
auskennen. Über jedes wird eine Viertelstunde diskutiert. „Es ist | |
Presseklub auf Speed“, sagt Jörg Thadeusz nach der Sendung. | |
Themen an diesem Abend: Bedingungsloses Grundeinkommen, EM in Frankreich, | |
Rassismus in Deutschland und der Krach zwischen CDU und CSU. | |
Die Runde unterhält sich, als säße sie in einer WG-Küche nach dem dritten | |
Glas Wein. Bis auf Claudius Seidl von der Frankfurter Allgemeinen | |
Sonntagszeitung duzen sich alle, es wird oft „mein lieber Hajo“ gesagt. | |
Also: Prinzipiell finden die Leute sich hier gut. Das hat den großen | |
Vorteil, dass es weniger rhetorische Tricks gibt und ein größeres | |
gemeinsames Erkenntnisinteresse. Es entstehen eine Menge Momente, in denen | |
Leute einfach nur zuhören, weil jemand gerade ein komplexes Argument macht. | |
Claudius Seidl etwa formuliert einen „etwas komplizierten Widerspruch“ | |
dagegen, den Begriff Rassismus zu oft zu benutzen – eine Erklärung, die | |
eineinhalb Minuten dauert, und in der die Worte „scheinobjektiv“ und | |
„rationaler politischer Diskurs“ fallen. Es ist nicht etwa so, dass diese | |
Erklärung die Runde total überzeugt. Aber man lässt ihm die Zeit, laut | |
nachzudenken. | |
Steffen Bothe grinst oft an diesem Abend und macht einen kehligen Laut, der | |
ein Lachen andeutet, „chrrr“, hinten am Gaumen. Er sieht sehr zufrieden | |
aus, wie ein Sommelier bei einer guten Verkostung. Und jetzt ist Zeit für | |
eine Frage: Wer regelmäßig ins Kino oder ins Theater geht, gilt als | |
interessierter Mensch. Wer regelmäßig ins Talkshowpublikum geht, der muss | |
sich erklären. Mit den Talkshows ist es so: Alle reden darüber. Aber kaum | |
jemand mag sie. Warum eigentlich? | |
Man sieht interessanten Leuten dabei zu, wie sie miteinander reden. Das ist | |
grundsätzlich nicht das Schlechteste. Fast alle Talkshows sind live. Das | |
macht die Sache interessant, weil etwas Unvorhergesehenes passieren kann. | |
Es gibt weniger Kontrolle als beim Zeitungsinterview, das die Interviewten | |
vor dem Abdruck zu lesen bekommen. | |
Viele Leute schauen zu, andere Leute lesen am nächsten Tag, was gesagt | |
wurde. So entsteht eine Relevanz, wie sie nur manche Bundestagsdebatten | |
erreichen. Talkshows mögen oft boulevardesk wirken, mit Titeln wie „Machen | |
Smartphones dumm und krank?“ oder „Mann, Muslim, Macho: Was hat das mit | |
dem Islam zu tun?“. Aber boulevardesk meint eben auch: Unelitär. | |
Zugänglich. Und Themen werden als Fragen formuliert. Ausgang offen. | |
Es ist halb zehn Uhr abends, das Studio ist leer. Steffen Bothe steht in | |
der leeren marmorgrauen Eingangshalle des rbb. Er sieht müde aus, aber | |
zufrieden. Das da eben bei Thaudeusz sei gerade eine der besten | |
Sendungen, in der er je gewesen sei, wie die sich die Bälle zugespielt | |
haben, wie die über Politik geredet haben, dass auch normale Zuschauer | |
mitkommen, mindestens Top 3, womöglich sogar direkt nach seiner legendären | |
Lieblingssendung anzusiedeln, der Silvestersendung mit Dieter Thomas Heck, | |
die im Mai produziert wurde, wo es also schwer war, in Jahresendstimmung zu | |
kommen, was aber klappte, weil es Bier gab und weil Dieter Thomas Heck | |
jeden einzelnen Gast mit Handschlag begrüßte. | |
Eine Sendung, in der auf hohem Niveau über das Bedingungslose | |
Grundeinkommen und über Rassismus in Deutschland gesprochen wurde, ist also | |
für Steffen Bothe, der seine Zuschauerkarriere bei „Vera am Mittag“ begann | |
und sich seitdem 20 Jahre lang in der Kunst des Zuhörens geübt hat, eine | |
großartige Sache. | |
8 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Philipp Daum | |
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Anne Will | |
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Serdar Somuncu | |
Alternative für Deutschland (AfD) | |
Günther Jauch | |
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