| # taz.de -- Ständiger Gast im Talkshowzirkus: Lasst sie reden | |
| > Steffen Bothe saß in den vergangenen 20 Jahren bei 800 Talkshows im | |
| > Publikum. Ein seltsames Hobby? Oder die politischste Form des Amüsements? | |
| Bild: Steffen Bothe beobachtet „Thadeusz und die Beobachter“ | |
| Steffen Bothe ist ein Profi. Als sich in der zweiten Werbepause von Thomas | |
| Gottschalks RTL-Sendung die ersten Studiozuschauer durch die engen Reihen | |
| zur Toilette schieben, bleibt Bothe sitzen. Er schüttelt den Kopf und sagt: | |
| „Das sind die sogenannten Nichtprofis“. Bothe sitzt seit 20 Jahren im | |
| Publikum von Fernsehshows und musste noch kein einziges Mal auf die | |
| Toilette, nicht einmal damals beim „Supertalent“, als die Aufzeichnung | |
| sechs Stunden dauerte. Und das soll auch so bleiben. „Toi, toi, toi“, sagt | |
| Bothe und klopft auf seinen Kopf. | |
| Steffen Bothe ist 44 Jahre alt, er war 24, als er anfing, fast wöchentlich | |
| in Talkshows zu gehen. Es ist sein Hobby. So wie andere ins Kino gehen. | |
| Bothe schätzt, er sei schon in 800 Sendungen gewesen, locker. Das | |
| Verzeichnis der Agentur, über die er die meisten seiner Tickets bestellt, | |
| zählt allein 511 Einträge seit dem Jahr 2000. Seine Top 3: Eine | |
| Silvestershow mit Dieter Thomas Heck, die im Mai aufgezeichnet wurde, | |
| Weihnachten mit Hape Kerkeling und eine Griechenland-Sendung von Günther | |
| Jauch, bei der der Strom ausfiel und Jauch 45 Minuten improvisierte. | |
| Er war dabei, als in den Neunzigern der Nachmittagstalk erfunden wurde, | |
| „Vera am Mittag“ und „Arabella“. Er erlebte die Gründung der | |
| Talkshowrepublik mit Sabine Christiansen, saß sonntags bei Anne Will, bei | |
| Jauch und wieder bei Will. Sendungen wurden konzipiert und verworfen. | |
| Steffen Bothe blieb. Er hat viel zugehört. Vielleicht kann er mehr über die | |
| Debatten in diesem Land erzählen als die Menschen, die sie moderieren. | |
| Wir verabreden uns zu einem Marathon: Vier Talkshows in drei Tagen, | |
| zusammen werden es 13,5 Stunden in Fernsehstudios. Ein Langstreckenlauf an | |
| der Seite eines Profis. | |
| ## „Mensch Gottschalk. Das bewegt Deutschland“, RTL | |
| Sonntagabend, 18.30 Uhr, Studio Berlin Adlershof. Steffen Bothe trägt ein | |
| Hemd in warmem Orangegelb und wird zusammen mit 400 Zuschauern in ein | |
| Studio in warmem Orangegelb geführt. Studio A, Bothe kennt es gut, er saß | |
| hier früher öfter bei der Schlagersendung von Achim Mentzel. | |
| Einmal wurde er zum Mitschunkeln an die Studiobar gesetzt und sollte vor | |
| den Kameras tanzen. Also forderte er eine ältere Dame auf. Sie gehörte, wie | |
| sich später herausstellte, zu einem Tanzverein auf Berlinausflug. Sie | |
| führte. Bothe hat das nicht gestört. | |
| Heute setzt er sich in die sechste Reihe. Meistens sitzt er hinten. „Da | |
| sieht man meine Platte nicht so oft“, sagt er. Steffen Bothe hat ein rundes | |
| Gesicht und eine Knubbelnase, alles an ihm ist ruhig und gelassen. | |
| Vorn auf dem Podium steht eine hellgrüne Sofalandschaft, eingerahmt von | |
| zwei dorischen Säulen. Wohnzimmeratmosphäre mit 400 Gästen. | |
| Thomas Gottschalk hat zwar fast 4 Stunden Zeit zur Verfügung, behandelt | |
| dabei aber geschätzte 15 Themen. Martin Schulz, der Präsident des | |
| Europaparlaments, kommt auf die Bühne. Thema sind die multiplen Krisen | |
| Europas. Aber es muss schnell gehen. | |
| Herr Schulz, Europa hat viele Probleme, wie lösen wir die? Begrüßen wir | |
| hier eine geflohene syrische Schwimmmeisterin, die ein leckes Schlepperboot | |
| über die Ägäis gezogen hat. Hallo, schön, dass du hier in Berlin für | |
| Olympia trainieren kannst. Zurück zu Ihnen, Herr Schulz, wollen Sie Kanzler | |
| werden? Sind Sie Tänzer? Dann tanzen Sie, hier sind die Pet Shop Boys. | |
| Zwischendrin muss immer noch Zeit für einen schnellen Gag sein. | |
| Mercedes-Chef Dieter Zetsche steigt aus dem selbst fahrenden Auto und sagt: | |
| „Der kann mehr, als er darf.“ Gottschalk: „So wie ich.“ Gottschalk | |
| funktioniert wie immer. | |
| Das Publikum lacht an den richtigen Stellen, „hohoho“ macht es, als ein | |
| veganer Metzger erklärt, dass er sein Mett „Hackepetra“ nennt, und es wird | |
| sofort rhythmisch geklatscht, als zwei Zauberer beginnen einen riesigen | |
| Fußball aufzupumpen, den sich einer von ihnen über den Kopf zieht. | |
| Steffen Bothe kennt die Regeln dieser kontrollierten Ausgelassenheit. Es | |
| gibt Warm-Upper, die vor der Aufzeichnung Witze erzählen, und Anklatscher, | |
| die anfangen, wenn es Zeit für Applaus ist. In einem Einspielfilm sagt | |
| Donald Trump, er werde der beste Jobbeschaffer sein, den Gott je erschaffen | |
| hat. Die Zuschauer applaudieren. Es muss nun mal nach jedem Video | |
| geklatscht werden. | |
| Talk und Show fanden in Deutschland spät zusammen. Bis in die | |
| Siebzigerjahre gab es in der Bundesrepublik vor der Kamera nur „das strenge | |
| Gespräch, das nüchterne Interview, die asketische Diskussion“, wie der | |
| Fernsehkritiker Manfred Delling schrieb. | |
| Dann kam „Je später der Abend“ mit Dietmar Schönherr. Zu Beginn der Sendu… | |
| erklärte er dem Publikum, was er da vorhabe: „Ich begrüße Sie sehr herzlich | |
| zu unserer ersten sogenannten Talkshow ‚Je später der Abend‘. Eine Talkshow | |
| – was ist das? Denken Sie nicht, dass eine Talkshow das Gegenteil einer | |
| Nachtshow ist; Talk kommt von to talk, reden, das Ganze ist also eine | |
| Rederei.“ | |
| Es war ein schwieriger Start, die Zuschauer fremdelten, die Vergleiche mit | |
| amerikanischen Vorbildern machten Schönherr einen Wahnsinnsdruck. Sein Stab | |
| bestand aus einem Redakteur und zwei freien Mitarbeitern. Ob eine Sendung | |
| gelang, war so völlig von der Eloquenz der Gäste abhängig. Bei Gottschalk | |
| gab es zwei Proben vor der Sendung, alles ist minutengenau durchgetaktet. | |
| Gottschalk will an diesem Abend mit normalen Leuten über normale Dinge | |
| reden, über Themen, die die Menschen bewegen. Steffen Bothe ist ein | |
| normaler Mensch, den normale Dinge interessieren. Er hat einen stressigen | |
| Job in einer Zeitarbeitsfirma in der Gastronomie und hört gerne Helene | |
| Fischer. Die letzten Bücher, die er gelesen hat, waren „Deutschland schafft | |
| sich ab“ von Thilo Sarrazin und eine Biografie von Gerhard Schröder. Er | |
| guckt am liebsten den Münster-Tatort, weil sie da gute Sprüche machen, aber | |
| „oberhalb der Gürtellinie“. Sein Geschmack ist ein Gradmesser für das, was | |
| Deutsche im Fernsehen sehen wollen. Wenn etwas Deutschland bewegt, dann | |
| bewegt es auch ihn. Und wenn etwas ihn bewegt, dann mit einiger | |
| Wahrscheinlichkeit auch Deutschland. Was also ist das? | |
| Die Produktionsfirma von „Mensch Gottschalk“ hat vor der Aufzeichnung Gäste | |
| befragt, auch Steffen Bothe. | |
| Der Tod wessen Prominenten hat Sie zuletzt mitgenommen? Guido Westerwelle. | |
| Wer ist der größte Deutsche Popstar? Nena. | |
| Wovor haben Sie Angst? Altersarmut. | |
| Nena wird an diesem Abend singen. Michael Mronz, der Ehemann von Guido | |
| Westerwelle, sendet eine Videobotschaft an eine jungen Frau, mit der Thomas | |
| Gottschalk über ihren Kampf mit dem Blutkrebs spricht. Steffen Bothe läuft | |
| da eine Träne herunter. | |
| „Acht von zehn Punkten“, sagt er, als der Abend um 0.15 Uhr endet. | |
| ## „Das Duell mit Heiner Bremer“, N-TV | |
| Am nächsten Tag gibt es kein Warm-up. Die Aufnahmeleiterin von N-TV begrüßt | |
| die Zuschauer kurz und nüchtern. „Wenn Ihnen ein Argument gut gefällt, | |
| klatschen Sie“, sagt sie. | |
| „Das Duell mit Heiner Bremer“ ist eine von Steffen Bothes liebsten | |
| Sendungen. Seit dem Start vor 13 Jahren ist er dabei. Das Konzept ist: Kein | |
| Schnickschnack. Ein Moderator, zwei Gäste, keine Einspielfilme. 45 Minuten | |
| pure Sachlichkeit. Das gilt auch für das Publikum: Wo bei Gottschalk | |
| begeisterte, hübsche Menschen in Nahaufnahme gezeigt wurden, ist hier der | |
| Raum so ausgeleuchtet, dass die 60 Zuschauer im Fernsehen nur als | |
| Silhouette zu sehen sind. Das suggeriert: Hier schaut jemand zu, aber es | |
| ist nicht wichtig, wer. Das Publikum als demokratische Öffentlichkeit, die | |
| per Applaus über die besten Argumente abstimmt. | |
| Heiner Bremer, ehemaliger Stern-Chefredakteur, moderiert heute zum letzten | |
| Mal. Steffen Bothe ist froh, dabei zu sein. | |
| Tagsüber kellnert Bothe im Interconti oder macht das Catering im Berliner | |
| Abgeordnetenhaus. Er verdient wenig und arbeitet viel. Dafür lernt er | |
| interessante Leute kennen. Neulich hat er Frank Henkel bedient, den | |
| Berliner Innensenator. „Ich hab Kohldampf“, hat Henkel zu ihm gesagt, | |
| danach einen Witz gerissen und sich bedankt. So etwas mag Steffen Bothe: | |
| Wenn Menschen, die eine große Nummer sind, reden können wie ganz normale | |
| Leute. Wenn sie auch mal stottern oder nicht gleich die richtigen Worte | |
| finden. „Ich verspreche mich auch dauernd“, sagt Bothe. | |
| Abends, nach der Schicht, möchte Bothe abschalten. Also geht er in | |
| Fernsehstudios. „Vor dem Fernseher erlebt man nichts.“ Aber im Studio, | |
| dieses Gewusel, gerade wenn was nicht klappt, „nonplusultra“, sagt Bothe. | |
| In den Sommerferien, wenn kaum Sendungen aufgezeichnet werden, fehle ihm | |
| was. Abhängig sei er, ja, das könne man sagen. | |
| Der Moderator Heiner Bremer kommt ins Studio, sagt kurz „hallo“ und | |
| unterhält sich mit seinen Gästen. Alexander Gauland von der AfD und Gerhart | |
| Baum von der FDP, ehemals Innenminister in der sozialliberalen Koalition. | |
| Die Themen sind Willkommenskultur und Fremdenhass. | |
| Im Moment wird in Deutschland viel darüber geredet, ob man Rechtspopulisten | |
| in Talkshows einladen soll. Man gebe ihnen damit eine Plattform, sagen die | |
| einen. Die anderen: Man könne sie dort entzaubern. | |
| Bei Heiner Bremer, Gerhart Baum und Alexander Gauland wird es kaum laut. | |
| Selten wird jemand unterbrochen. Aber es gibt auch keine Möglichkeit, | |
| davonzukommen. In Shows mit mehr Gesprächspartnern endet ein Dialog oft, | |
| weil ein anderer Redezeit bekommen muss. Bei zwei Gästen merkt man relativ | |
| schnell, welche Argumente Schwachstellen haben. Und am Ende steht die | |
| Erkenntnis: Alexander Gauland ist jemand, für den die | |
| Fußballnationalmannschaft irgendwann zwischen 1954 und heute aufhörte, „im | |
| klassischen Sinne“ deutsch zu sein, jemand, dem die individuelle | |
| Religionsfreiheit weniger wichtig ist als die christliche Tradition | |
| Deutschlands. Niemand kann sagen, er wisse nicht, wofür dieser Politiker | |
| steht. | |
| Heiner Bremer verabschiedet sich mit den Worten: „Wir haben in all diesen | |
| Sendungen versucht, nicht nur Krawall zu erzeugen, sondern auch zu | |
| erreichen, dass Orientierung für Sie zu Hause und hier im Studio haften | |
| geblieben ist.“ | |
| Bremer sagt nach der Sendung, er habe nie gezögert, Alexander Gauland | |
| einzuladen: „Er ist ein guter Diskutant, einer der besten Gesprächspartner, | |
| die ich im Studio hatte.“ Bremer spricht aus einer Fernsehlogik heraus: | |
| Zwei Gäste, die gerade Sätze sagen können und die politisch weit | |
| auseinander liegen, sind die perfekte Besetzung für Streitgespräche. | |
| Kaffeepause beim Bäcker im Kaufland. Noch zwei Stunden bis zur nächsten | |
| Aufzeichnung: „Hart aber fair“. „Diese Parteien sind in so einem Trott | |
| drinne, berufsblind, wie einer nach 20 Jahren Arbeit“, sagt Bothe. Die AfD | |
| schmecke ihm auch nicht, aber frischer Wind sei nicht schlecht. | |
| Welcher Partei die Studiogäste angehören, ist ihm egal. Bei Künast schläft | |
| er ein. Bosbach ist gut, Gysi sowieso. „Die guten alten Politiker“, nennt | |
| Bothe sie: Leute, die so reden, dass man sie auch versteht. An | |
| Wahlwochenenden liest Steffen Bothe alle Parteiprogramme. Am Ende wählt er | |
| meist die Linken. Er lebt in Pankow, Gregor Gysi wohnt gleich um die Ecke. | |
| ## „Hart aber fair“, ARD | |
| In Studio C von Berlin-Adlershof verzieht der Kabarettist Serdar Somuncu | |
| das Gesicht. Gerade hat neben ihm Roger Köppel von der rechten Schweizer | |
| Volkspartei SVP gesagt: „Natürlich sind die Regierungen schuld, wenn | |
| Asylheime brennen.“ Die Brandanschläge auf Flüchtlingsheime in Deutschland | |
| hätten damit zu tun, dass Regierung und Medien sich weigerten, berechtigte | |
| Sorgen der Bürger aufzunehmen. | |
| Es wird heiß im Studio. Norbert Röttgen von der CDU wirft Köppel vor, | |
| Gewalt zu legitimieren. Köppel sagt, „nein, das ist ein persönlicher | |
| Angriff!“ | |
| Es geht um die Frage: Ist Roger Köppel ein Populist? Und wie funktioniert | |
| Populismus? Serdar Somuncu referiert: Die SVP hat eine Reihe von | |
| Volksentscheiden initiiert, darunter die „Ausschaffungsinitiative“, also | |
| den Vorstoß, kriminelle Ausländer schneller abzuschieben. Somuncu wirft | |
| Köppel vor, dass die Initiative den Rechtsstaat verletze. Dann passiert | |
| das: | |
| Plasberg: „Herr Köppel, ich möchte Ihnen eine Frage stellen. Das, was Herr | |
| Somuncu Ihnen an den Kopf geworfen hat, wie sehr nützt Ihnen das bei Ihren | |
| Anhängern? | |
| Köppel: „Das ist doch nicht die Frage.“ | |
| Plasberg: „Doch, das ist die Frage, wie Populismus funktioniert. Hat es | |
| Ihnen jetzt eher in der Schweiz genützt oder geschadet, was hier passiert | |
| ist?“ | |
| Köppel: „Also, wenn jemand …“ | |
| Plasberg: „Hat es, ja oder nein?“ | |
| „Zumindest schläft man nicht ein“, flüstert Steffen Bothe. | |
| Köppel: „Ein Kaberettist, der so …“ | |
| Plasberg: „Ja oder nein?“ | |
| Köppel: „Ein Kabarettist, der so was erzählt im deutschen Fernsehen, nützt | |
| der Schweiz.“ Doch er meint: Es nützt ihm. | |
| „Und das ist das Problem, glaub ich“, sagt Plasberg und klatscht auf den | |
| Tisch. | |
| „Nein, das ist Ihr Problem“, sagt Köppel. | |
| Vielleicht war das gerade ein großer Moment. Eine zweite Lektion in Sachen | |
| Rechtspopulismus an diesem Tag. Denn zwar ist einerseits der ganze Verlauf | |
| der Sendung ein Paradebeispiel dafür, wie man es nicht machen sollte, | |
| nämlich: Viele schlagen gemeinsam auf einen Provokateur ein. Aber | |
| andererseits hat Plasbergs Nachhaken den Mechanismus dahinter sichtbar | |
| gemacht. Den populistische Modus operandi: Provozieren, eine steile These | |
| raushauen, auf die Empörung warten, zurückrudern und sich als Opfer | |
| hinstellen. | |
| Von „Krawalltalk“ und „Wortgefechten bis kurz vor dem Zungenriss“ schre… | |
| Bild.de am nächsten Tag. Die Aargauer Zeitung meint, Köppel sei als | |
| Populist entlarvt worden. Was bei Plasberg gesagt wurde, interessiert | |
| einige – auch die, die nicht dabei waren. | |
| Dass Talkshows über ihre eigentliche Sendezeit hinaus Bedeutung erlangen, | |
| sie also rezensiert werden, ist ein relativ junges Phänomen. Seine | |
| Entstehung fällt in eine Zeit, in der die Talkshow zum tonangebenden Format | |
| im deutschen Fernsehen wurde. Das begann ziemlich genau am 4. Januar 1998, | |
| als die erste Folge von „Sabine Christiansen“ gesendet wurde. Von nun an | |
| begann Sonntagabend, 21.45 Uhr, direkt nach dem „Tatort“, die politische | |
| Woche in Berlin. Die Sendung wurde rezipiert, kritisiert, die Aussagen von | |
| Politikern bei Christiansen wurden zum Ausgangspunkt politischer Debatten. | |
| Der CDU-Politiker Friedrich Merz sagte: „Ihre Sendung ist wichtiger als die | |
| Reden im Deutschen Bundestag.“ Manche nannten dieses neue Zeitalter die | |
| „Talkshow-Republik“. | |
| ## „Thadeusz und die Beobachter“, rbb | |
| „Einen Wunderschönen“, ruft Steffen Bothe Birgit Hermann in der | |
| Eingangshalle des rbb zu. Bothe wünscht grundsätzlich einen | |
| „Wunderschönen“, und ob damit Nachmittag, Abend oder Morgen gemeint ist, | |
| hängt von der Uhrzeit ab. | |
| Birgit Hermann ist Kundenbetreuerin: Sie begrüßt die Gäste und platziert | |
| sie im Fernsehstudio. Die mit der Werbung auf den T-Shirts nach hinten, | |
| Schulklassen immer im ganzen Raum verteilen. Frau Hermann und Steffen Bothe | |
| kennen sich seit über 15 Jahren. | |
| Stammzuschauer wie Steffen Bothe sind das wichtigste Kapital von | |
| Veranstaltungsagenturen wie TV Ticket Service, die die Zuschauer für | |
| Fernsehstudios organisieren und den Sendern garantieren, dass keine Plätze | |
| frei bleiben. Deswegen muss Steffen Bothe heute für keinen seiner | |
| Talkshowbesuche mehr zahlen, selbst wenn ein Besuch bei Anne Will sonst | |
| Eintritt kostet. Stammzuschauer wie Steffen Bothe springen ein, wenn ein | |
| Reisebus auffällt. Gleichzeitig sind sie verlässlich, man kann mit ihnen | |
| planen. Bothe hat seinen Alltag um die Fernsehaufzeichnungen herum | |
| strukturiert. Sobald er seinen Schichtplan bekommt, telefoniert er mit der | |
| Ticketagentur. Wir brauchen Sie für Plasberg, wollen Sie da hin? | |
| Im rbb wird heute „Thadeusz und die Beobachter“ aufgezeichnet. Vier Gäste, | |
| Hauptstadtjournalisten, stellen jeweils ein Thema vor, mit dem sie sich | |
| auskennen. Über jedes wird eine Viertelstunde diskutiert. „Es ist | |
| Presseklub auf Speed“, sagt Jörg Thadeusz nach der Sendung. | |
| Themen an diesem Abend: Bedingungsloses Grundeinkommen, EM in Frankreich, | |
| Rassismus in Deutschland und der Krach zwischen CDU und CSU. | |
| Die Runde unterhält sich, als säße sie in einer WG-Küche nach dem dritten | |
| Glas Wein. Bis auf Claudius Seidl von der Frankfurter Allgemeinen | |
| Sonntagszeitung duzen sich alle, es wird oft „mein lieber Hajo“ gesagt. | |
| Also: Prinzipiell finden die Leute sich hier gut. Das hat den großen | |
| Vorteil, dass es weniger rhetorische Tricks gibt und ein größeres | |
| gemeinsames Erkenntnisinteresse. Es entstehen eine Menge Momente, in denen | |
| Leute einfach nur zuhören, weil jemand gerade ein komplexes Argument macht. | |
| Claudius Seidl etwa formuliert einen „etwas komplizierten Widerspruch“ | |
| dagegen, den Begriff Rassismus zu oft zu benutzen – eine Erklärung, die | |
| eineinhalb Minuten dauert, und in der die Worte „scheinobjektiv“ und | |
| „rationaler politischer Diskurs“ fallen. Es ist nicht etwa so, dass diese | |
| Erklärung die Runde total überzeugt. Aber man lässt ihm die Zeit, laut | |
| nachzudenken. | |
| Steffen Bothe grinst oft an diesem Abend und macht einen kehligen Laut, der | |
| ein Lachen andeutet, „chrrr“, hinten am Gaumen. Er sieht sehr zufrieden | |
| aus, wie ein Sommelier bei einer guten Verkostung. Und jetzt ist Zeit für | |
| eine Frage: Wer regelmäßig ins Kino oder ins Theater geht, gilt als | |
| interessierter Mensch. Wer regelmäßig ins Talkshowpublikum geht, der muss | |
| sich erklären. Mit den Talkshows ist es so: Alle reden darüber. Aber kaum | |
| jemand mag sie. Warum eigentlich? | |
| Man sieht interessanten Leuten dabei zu, wie sie miteinander reden. Das ist | |
| grundsätzlich nicht das Schlechteste. Fast alle Talkshows sind live. Das | |
| macht die Sache interessant, weil etwas Unvorhergesehenes passieren kann. | |
| Es gibt weniger Kontrolle als beim Zeitungsinterview, das die Interviewten | |
| vor dem Abdruck zu lesen bekommen. | |
| Viele Leute schauen zu, andere Leute lesen am nächsten Tag, was gesagt | |
| wurde. So entsteht eine Relevanz, wie sie nur manche Bundestagsdebatten | |
| erreichen. Talkshows mögen oft boulevardesk wirken, mit Titeln wie „Machen | |
| Smartphones dumm und krank?“ oder „Mann, Muslim, Macho: Was hat das mit | |
| dem Islam zu tun?“. Aber boulevardesk meint eben auch: Unelitär. | |
| Zugänglich. Und Themen werden als Fragen formuliert. Ausgang offen. | |
| Es ist halb zehn Uhr abends, das Studio ist leer. Steffen Bothe steht in | |
| der leeren marmorgrauen Eingangshalle des rbb. Er sieht müde aus, aber | |
| zufrieden. Das da eben bei Thaudeusz sei gerade eine der besten | |
| Sendungen, in der er je gewesen sei, wie die sich die Bälle zugespielt | |
| haben, wie die über Politik geredet haben, dass auch normale Zuschauer | |
| mitkommen, mindestens Top 3, womöglich sogar direkt nach seiner legendären | |
| Lieblingssendung anzusiedeln, der Silvestersendung mit Dieter Thomas Heck, | |
| die im Mai produziert wurde, wo es also schwer war, in Jahresendstimmung zu | |
| kommen, was aber klappte, weil es Bier gab und weil Dieter Thomas Heck | |
| jeden einzelnen Gast mit Handschlag begrüßte. | |
| Eine Sendung, in der auf hohem Niveau über das Bedingungslose | |
| Grundeinkommen und über Rassismus in Deutschland gesprochen wurde, ist also | |
| für Steffen Bothe, der seine Zuschauerkarriere bei „Vera am Mittag“ begann | |
| und sich seitdem 20 Jahre lang in der Kunst des Zuhörens geübt hat, eine | |
| großartige Sache. | |
| 8 Jul 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Philipp Daum | |
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