| # taz.de -- Der Vogelbeobachter-Beobachter: „Vögel haben eine besondere Aura… | |
| > Bernd Brunner über sein Buch „Ornithomania“, zwei besonders fanatische | |
| > Birdwatcherinnen, Taubenzüchter, Zivilisationsflucht und Eierdiebe. | |
| Bild: Who watches the Birdwatchers? | |
| taz: Herr Brunner, wir treffen uns hier im Berliner Südgelände-Park, um | |
| nach Wintervögeln Ausschau zu halten, und haben Ihnen fürs Fotomotiv ein | |
| Opernglas mitgebracht. Hätten Sie einen richtigen Feldstecher gehabt? | |
| Bernd Brunner: Nein, ein Fernglas besitze ich gar nicht. Ich beobachte | |
| schließlich die Vogelbeobachter, nicht die Vögel selbst. Mir geht es ums | |
| Verhältnis von Mensch und Vogel im Laufe der Jahrhunderte. | |
| Sie behaupten, wir leben in einer Epoche der Ornithomanie. Wie kommen Sie | |
| darauf? | |
| Vogelliebhaber gab es zwar schon immer, aber sie haben nun dank Internet | |
| ganz andere Möglichkeiten, sich etwa über Flugrouten auszutauschen oder | |
| enger mit wissenschaftlichen Ornithologen zu kooperieren. Die sind | |
| schließlich auf die Daten der Laien angewiesen. Dazu kommt der Hang zum | |
| „Immer schneller, immer höher, immer weiter“ – der Drang, Sensationen | |
| anzuhäufen, gehört in unsere Zeit. Das hat dann mit den Vögeln selbst | |
| nichts mehr zu tun, es geht nur noch darum, sich Respekt innerhalb einer | |
| Community zu verschaffen. Mir persönlich ist das sehr fremd. | |
| Wo hört Liebhaberei auf und fängt Manie an? | |
| Ich möchte mir kein Urteil anmaßen, wann es zu viel ist. Ich bin ja kein | |
| Therapeut für Vogelbesessene. Der plakative Titel meines Buchs – | |
| „Ornithomania“ – trifft aber auf viele zu, über deren Obsessionen ich | |
| schreibe. Es gibt ganze Kompendien über Menschen, die sich mit Vögeln | |
| beschäftigt haben. Aber immerhin ist Birdwatching heute meist eine relativ | |
| gefahrlose Angelegenheit für die Vögel. In früheren Jahrhunderten wurden | |
| sie gejagt, erschossen und geschlachtet. | |
| Dann kam um die Jahrhundertwende der technische Fortschritt in Form von | |
| Fernglas und Fahrrad. | |
| Genau. Die Frage ist, wie nah die Menschen den Objekten ihrer Begierde | |
| kommen möchten. In Nester schauen allerdings einige bis heute, es gibt | |
| zwanghafte Eiersammler. Dafür gibt es sogar einen Schwarzmarkt, auch wenn | |
| man dafür ins Gefängnis kommen kann. Für mich ist wirklich unverständlich, | |
| was der Reiz sein soll, die Eier geschützter Vogelarten zu sammeln. | |
| Und wie erklären Sie sich das? | |
| Vermutlich sind die Leute einfach neugierig und nicht informiert. Oder es | |
| kommt eine krankhafte Komponente ins Spiel, vergleichbar mit Kleptomanie. | |
| Sie haben ein Buch über die Kulturgeschichte des Mondes geschrieben, sich | |
| mit der Erfindung des Aquariums befasst – wie kamen Sie nun auf | |
| Vogelliebhaber? | |
| Ich lese viele naturkundliche Bücher. So stieß ich bei Recherchen im | |
| Berliner Naturkundemuseum auf Phoebe Snetsinger, sicher eine der | |
| bekanntesten Vogelliebhaberinnen. | |
| Was machte sie so besonders? | |
| Sie war eine Amerikanerin aus begütertem Haus, die, konfrontiert mit einer | |
| Krebsdiagnose, auf alle konventionellen Mittel verzichtete und beschloss, | |
| sich einem Thema zu verschreiben. Daraufhin reiste sie Jahrzehnte um die | |
| Welt, um Vögel zu beobachten. Im Laufe ihres Lebens hat sie ungefähr 8.400 | |
| Vogelarten von insgesamt 10.000 gesehen, eine beeindruckende „Life list“. | |
| Sie kam bei einem Autobusunglück um, als sie unterwegs war zu weiteren | |
| Vogelarten. | |
| War das die, die auch mit Vögeln lebte? | |
| Nein, das war eine andere – Gwendolen Howard umgab sich auf einem | |
| englischen Landgut drinnen wie draußen mit Vögeln. Die haben ihr beim | |
| Schreiben buchstäblich über die Schulter geschaut. | |
| Sie erzählt in „Alle Vögel meines Gartens“ auch, wie es bei ihr zu Hause | |
| aussah. Es muss wahnsinnig gestunken haben. | |
| Ja, natürlich. Der Fachbegriff dafür ist „Animal Hoarding”. Es gibt Fäll… | |
| da haben Ornithomanen kaum noch andere Menschen in ihrem Umfeld. Aber ich | |
| maße mir nicht an, zu sagen, wann etwas noch normal ist oder nicht. | |
| Gibt es einen Zusammenhang zwischen der „Epoche der Ornithomanie” und der | |
| Beobachtung, dass Ornithomanie auch Abwendung von Mitmenschen heißen kann, | |
| Flucht vor Zivilisation? | |
| Letztlich hängt wohl alles miteinander zusammen. Naturwissenschaftliche | |
| Beobachter entziehen sich in der Tat häufig dem Tumult. Vielleicht spielt | |
| auch eine Rolle, dass Vögel eine besondere Aura haben: Sie haben keine | |
| Bodenhaftung, sind ein Sinnbild für Freiheit. Wir sind gebunden, wo wir | |
| sind, die Vögel können im Winter davonfliegen. Wie wir ja hier sehen. Die | |
| haben sich offenbar alle verkrochen. | |
| Ja, seltsam. Der Naturschutzbund empfahl das Südgelände für Wintervögel. | |
| Bei dem milden Winter müssten ja eigentlich mehr zu sehen sein. Manche | |
| Vögel ändern ihre Gewohnheiten und bleiben in heimischen Gefilden, obwohl | |
| sie eigentlich Zugvögel sind. | |
| Sie sind in Berlin-Wedding aufgewachsen. Welche Vögel gab es da? | |
| Meine Eltern hatten zwar einen Kleingarten an der Panke, aber ich erinnere | |
| mich vor allem an all die Tauben dort, die sind ein großes Thema. Ein | |
| Schulfreund kümmerte sich um kranke und verletzte Tauben. Ich fand das | |
| damals eher abstoßend. Inzwischen bestätigte mir ein befreundeter | |
| Veterinär, wie viele Krankheiten sie übertragen. Bei mir gegenüber in | |
| Istanbul, wo ich wohne, kann ich nun wieder Zuchttauben beobachten – | |
| Taubenzüchter sind traditionell im proletarischen Milieu angesiedelt, egal | |
| wo. | |
| Wer kümmert sich um die? | |
| Jungs um die 15, 20, die steigen jeden Tag aufs Dach und lassen ihre Tauben | |
| frei. Sie haben Tücher, mit denen sie schwenken und so die Vögel zu Salti | |
| bewegen können. Ganz unglaublich. Sie sind der ganze Stolz ihrer Besitzer | |
| wegen ihres schönen Flugs und der Kunststücke. Das gibt es im ganzen Nahen | |
| Osten, aber hier meines Wissens nicht. | |
| Hier steht ein Schild, auf dem Vögel genannt sind, die es hier geben soll: | |
| Rotkehlchen, Nachtigall, Dorngrasmücke. Würden Sie die erkennen? | |
| Wenn ich ehrlich bin: zumindest auf größere Entfernung wahrscheinlich | |
| nicht. | |
| Wirklich? | |
| Ich würde mich nicht als Vogelfan bezeichnen. Mir fehlt dafür die intensive | |
| emotionale Hinwendung. | |
| Geht dieses Kulturwissen verloren? | |
| Ich denke und hoffe nicht. Sie müssen ja nur mal bei Amazon schauen: | |
| Vogelführer, Bestimmungsbücher – alles Bestseller. Die verkaufen sich | |
| millionenfach. | |
| Wie sich Literatur und Umweltaktivismus verbinden können, sieht man etwa | |
| beim US-Schriftsteller Jonathan Franzen. Er ist Vogelliebhaber und setzt | |
| sich auch jenseits seiner Romane ein – gegen Fangnetze im Mittelmeer. | |
| Mit diesen Netzen Wildvögel zu fangen und zu essen ist eine kulturelle | |
| Praxis, die es in Italien und Zypern seit Jahrhunderten gibt. Das ist dort | |
| so stark verankert, dass es fast wie ein Naturgesetz wirkt. Und Franzen | |
| hat, angefangen mit einem bahnbrechenden Artikel im New Yorker vor fünf | |
| Jahren, hat das Thema ganz neu ins Bewusstsein gebracht. | |
| Auch Ihr Buch gehört in eine ganze Reihe neuer naturkundlicher Sachbücher. | |
| Offenbar gibt es gerade Bedarf dafür. Woran liegt das? | |
| Neben gestiegenem Umweltbewusstsein spielt gewiss eine Rolle, dass es eine | |
| stärkere Sensibilisierung für das Verschwinden der Natur gibt. Wir leben | |
| hier geschützt in unseren abgekapselten Wohnungen, in denen, egal in | |
| welcher Jahreszeit, die gleiche Temperatur herrscht. Viele suchen nun nach | |
| neuen Zugängen zur Natur – etwa über diese Bücher, die uns das, was dort | |
| passiert, auf oft neue Weise erzählen. | |
| 16 Feb 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Anne Haeming | |
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