# taz.de -- Wandern in Nordengland: Durch zivilisierte Wildheit | |
> In Manchester und Newcastle rauchten die Schlote, als die ersten | |
> Sozialreformer den Lake District als Refugium auch für Arbeiter | |
> entdeckten. | |
Bild: Der Lake District. Blick in die Landschaft bei Keswick. | |
Mirehouse im nordenglischen Keswick ist ein englisches Herrenhaus „at its | |
best“. Ein immer noch familiengeführtes Anwesen. Claire Spredding, die | |
Besitzerin, sieht aus wie eine etwas jüngere, bescheidenere Kopie der | |
Queen: beiger Kaschmirpullover, knielanger, karierter beiger Faltenrock, | |
eine Queen- Frisur, bleicher Teint, der elaborierte englische Akzent. Sie | |
führt durch das untere Stockwerk des Hauses, die oberen Stockwerke bewohnt | |
die Familie bis heute selbst. Das Mirehouse und sein großes Anwesen am See | |
wurde für Touristen geöffnet, „um die Kosten der aufwändigen Instandhaltung | |
zu erwirtschaften“, sagt die freundliche Claire Spredding. | |
Das Haus mit seinen knarrenden Dielen ist perfekt ausgestattet für | |
historische Streifen wie „Stolz und Vorurteil“: Kaminfeuer, abgetretene | |
edle Teppiche, schwere Holztische, teures Porzellan, eine Bibliothek mit | |
ledergebundenen Ausgaben und überall koloniale Souvenirs wie die Sammlung | |
von Spazierstöcken mit Schlangenmuster und Tigerköpfen auf dem goldenen | |
Knauf. Im Salon gleich neben dem Steinway-Flügel steht bis heute die gut | |
gefüllte Hausbar, der Zigarrenschneider liegt auf dem Tisch. Hier traf sich | |
die viktorianische Gesellschaft in einer „zivilisierten Wildheit, gegen | |
Lärm und Schmutz“, wie der Poet David Wright schreibt, mitten im Lake | |
District, „mit Bergen, die im See verwurzelt sind“. | |
Weite Täler, grüne Wiesen, Trockenmauern, die die Landschaft parzellieren, | |
einsame Landcottages mit Steinmauern und großen Hecken. Die rustikale | |
Landschaft des Lake Districts ist bei Urlaubern beliebt. Hier gibt es nicht | |
nur Englands größten natürlichen See, Lake Windermere, den tiefsten See, | |
Wast Water, es gibt auch die höchsten Berge. | |
## Die Beute der Pflanzenjäger | |
Der Lake District ist Altersruhesitz für Betuchte und Ziel für Familien und | |
Aktivurlauber. Überall werden Bücher mit Wanderrouten oder | |
Mountainbike-Touren durch den Nationalpark angeboten. | |
Das Herrenhaus Monk Coniston Farm ist heute ein Ferienhof. Es wurde | |
originalgetreu im gotischen Stil restauriert. Selbstverständlich werden der | |
Five o’ Clock Tea und die warmen Scones im Kaminzimmer serviert. Aus tiefen | |
Polstern lässt sich durch bodentiefe Fenster die Gartenanlage mit ihren | |
exotischen Riesenbäumen studieren. | |
„Der erste Hausherr, James Garth Marshal, brachte diese im 19. Jahrhundert | |
von seinen Reisen in die Kolonien mit. Oder er ließ sie mitbringen“, | |
erzählt Helen Croxford, die Hausherrin und Gartenchefin. Die ehemalige | |
PR-Frau aus London betreibt heute Monk Coniston gemeinsam mit ihrem Mann | |
John Croxton für den National Trust. | |
Ab dem 18. Jahrhundert war es in England modern, Pflanzen aus aller Welt zu | |
sammeln und im eigenen Garten anzupflanzen. Ein Statussymbol. „Sogenannte | |
Plant Hunters, Pflanzenjäger, brachten Pflanzen aus allen Kontinenten mit“, | |
sagt Helen. Sie zeigt auf die riesige amerikanische Roteiche, die | |
neuseeländischen Kauribäume und die Edeltannen im Park. Die Pflanzenjäger | |
brachten aber auch Zylinderputzer, Rhododendren und den Winterjasmin mit. | |
## Refugium gegen Lärm und Schmutz | |
Sammelleidenschaft im Zuge kolonialer Entdeckerherrlichkeit: Schon auf | |
seiner ersten Weltumsegelung wurde Captain James Cook von den Botanikern | |
Joseph Banks und Daniel Solander begleitet. Die deutschen Naturforscher | |
Johann Reinhold Forster (1729–1798) und sein Sohn Georg Forster (1754–1794) | |
begleiteten James Cook auf seiner zweiten Weltumsegelung nach Südafrika, | |
Neuseeland und in die Südsee. Die Berichte von diesen Reisen wurden zu | |
einer beliebten Lektüre. Das Botanisieren war geschätzter Zeitvertreib der | |
oberen Gesellschaftsschichten besonders im viktorianischen England. Schon | |
seit der Mitte des 18. Jahrhunderts war die „Englisch Garden Tour“ eine | |
Institution. | |
Der Natur, ihren Schafen und dem Lake District galt auch das Engagement der | |
Kinderbuchautorin Beatrix Potter (1866–1943). Die Seenlandschaft war ihr | |
Refugium gegen den Lärm und Schmutz der Industrialisierung in den Städten. | |
Sie wohnte hier auf Monk Coniston und erwarb im Lake District umfangreichen | |
Landbesitz, nachdem ihre Kinderbücher (die Geschichte von Peter Hase) ein | |
Vermögen einbrachten. Erfolgreich war Beatrix Potter auch als Züchterin von | |
Herdwickschafen, eine alte britische Rasse, die fast ausschließlich im Lake | |
District gehalten wird. | |
Beatrix Potter sympathisierte mit den ersten Sozialreformern und engagierte | |
sich nachhaltig für den Erhalt der Landschaft des Lake Districts. Im Winter | |
1911 begann sie eine Kampagne gegen Wasserflugzeuge auf Windermere, dem | |
größten natürlichen See des Lake Districts, und gegen den Bau einer | |
Flugzeugfabrik am Ufer von Cockshott Point. Aus Sicht von Potter waren die | |
Wasserflugzeuge eine Gefahr für den Bootsverkehr, für den Fischfang und mit | |
ihrem infernalischen Lärm schränkten sie genau das ein, was das Leben im | |
Lake Distrikt auszeichnete: Abgeschiedenheit und Ruhe. | |
Die Protestbewegung hatte Erfolg. Die kinderlose Beatrix war mit Hardwicke | |
Ransley befreundet, einem Mitgründer des National Trusts. Als sie 1943 | |
starb, vererbte sie ihren immer weiter angewachsenen Landbesitz von etwa 16 | |
Quadratkilometer dem National Trust, dem heute auch Monk Coniston gehört. | |
Sie legte damit den Grundstock für den Nationalpark. | |
## In den Häusern des National Trust | |
Der National Trust for Places of Historic Interest or Natural Beauty ist | |
eine gemeinnützige Organisation, die Objekte der Denkmalpflege und des | |
Naturschutzes in England, Wales und Nordirland betreut. Präsident ist Prinz | |
Charles. Er wurde 1895 gegründet. In den Vereinsstatuten ist | |
festgeschrieben, dass einmal erworbene Grundstücke oder Gebäude vom Trust | |
nicht wieder verkauft werden dürfen. | |
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben zahlreiche britische Adlige anstelle von | |
hohen Erbschaftssteuern ihre Herrenhäuser dem Staat übergeben, der sie | |
anschließend dem National Trust überließ. Der Trust hat in England mit vier | |
Millionen Menschen mehr Mitglieder als alle Parteien zusammen. 62.000 | |
Freiwillige und 5.300 Angestellte kümmern sich um mehr als 350 | |
Herrenhäuser, Kirchen, Pubs, weite Teile der wichtigsten Nationalparks. | |
Auch das Dove Cottage in Grasmere gehört dazu. Der Dichter William | |
Wordsworth lebte hier von 1799 bis 1808 in dem geduckten dunklen Landhaus. | |
Lisa O’Brian führt durch Wordsworth Wohnhaus und das daneben stehende | |
Wordsworth Museum. Die studierte Sportlehrerin aus Dublin wartet auf eine | |
Anstellung und sucht derweil beim Freiwilligendienst Erfahrungen, die auch | |
bei der Jobsuche helfen könnten: Wanderwege müssen gesichert, Gärten | |
gepflegt und Touristen begleitet werden. | |
## Gut gewählte Orte der Begegnung | |
Grobe Felsstufen weisen den Weg, der von schroffem Gestein gesäumt wird. | |
„Es macht Spaß“, sagt Lisa auf der Wanderung nach Rydal Mount. „Bei der | |
Arbeit lernt man Leute aus Europa, Amerika und Australien kennen und die | |
Pubs in der Region sind gesellig, kommunikativ. Man findet schnell | |
Kontakt.“ Führungen scheinen Lisa besonderen Spass zu machen: Mit Hingabe | |
und irischem Akzent rezitiert sie unterwegs Gedichte von William | |
Wordsworth. | |
Im Gästehaus von Derwent Bank sind sie anzutreffen, die Wanderer und | |
Outdoor-Fans. Derwent Bank ist ein Hotel von HF Holidays, Holiday | |
Fellowship: ein gemeinnütziger Non-profitverein. | |
Das erwirtschaftete Geld geht in den Erhalt der Häuser, der Wanderwege, die | |
Arbeit im Nationalpark und die Jugendarbeit. HF Holidays organisiert | |
begleitete Touren im Lake District und anderen Regionen. | |
Die Touren werden von freiwilligen Wanderführern geleitet. Übernachtet wird | |
in standardisierten Hotels, einige gehören dem National Trust, andere HF | |
Holidays. Es sind meist respektable Herrenhäuser wie Derwent Bank oder Monk | |
Coniston, wo Freiwillige als gute Geister mitarbeiten. | |
An den großen runden Tischen im Speisesaal frühstücken Sam, der Ingenieur | |
aus London, Pierre, der IT-Spezialist aus Lyon und François, | |
Flugzeugtechniker aus Lyon. Sie machen hier jedes Jahr ein Woche | |
Wanderurlaub. Das üppige gute Frühstück ist ausreichend für eine | |
Tageswanderung: Porridge, Cake, Käse, Obst, aber auch Black Pudding | |
(Blutwurst) oder Bohnen mit Bratkartoffeln können bestellt werden. Für die | |
Wanderung kann man zusätzlich ein Esspaket mitnehmen. | |
Abends trifft man sich wieder zu Bridge oder einem Gin an der Bar, wenn das | |
dreigängige Menu – drei verschiedene Menüs stehen zur Auswahl – nicht die | |
Restenergie raubt. | |
## Sozialreformer und Naturliebhaber | |
Die HF Holidays sind gut gewählte Orte der Begegnung, mit einem hohen, | |
überall gleichen Standard beim Essen, Wohnen und Feiern. HF Holidays kann | |
auf eine über 100 Jahre alte Tradition zurückblicken. Thomas Arthur Leonard | |
(1863–1948), Anhänger der Sozialreformer, ist die Schlüsselfigur der | |
englischen Naturbewegung. Schon Ende des 19. Jahrhunderts organisierte er | |
Wanderferien für englische Arbeiter. Sie sollten in Gesellschaft und an der | |
frischen Luft dem Dreck von Manchester und Newcastle entkommen. Man liebte | |
die Natur und lebte in einfachen Unterkünften. | |
HF Holidays entstand 1913 und Leonhard war ihr Generalsekretär bis 1934. In | |
den 30er Jahren war er auch Mitgründer der Jugendherbergen und der | |
Organisation Freunde des Lake Districts. Heute genügen die Unterkünfte von | |
HF Holidays auch den Anspruchsvollen. „Nach einem Jahrhundert des Wandels | |
ist der Anspruch und der Inhalt unserer Ferien trotz alledem der Gleiche | |
geblieben: wunderschöne Orte, gute Führer, und angenehme, kommunikative | |
Abende in gemeinschaftlicher Unterhaltung“, behauptet die Broschüre von HF | |
Holidays. | |
Und in der Tat: Vom einstigen Sozialreformprojekt für Arbeiter ist bis | |
heute ein geselliger, anspruchsvoller, erschwinglicher Natururlaub | |
geblieben. Der trägt darüber hinaus dazu bei, den viktorianischen Überfluss | |
an Gütern und Grundbesitz sinnvoll zu verwalten. | |
6 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
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