# taz.de -- Heiratsindustrie in Schottland: Amboss, Dudelsack und Ehering | |
> Früher brannten Minderjährige durch, um im schottischen Gretna Green zu | |
> heiraten – ein Besuch im einstigen Las Vegas der Briten. | |
Bild: Spielt den Heiratswilligen gern ein Ständchen: Dudelsackpfeifer Alan Mar… | |
GRETNA GREEN taz | Das Brautpaar ist nicht mehr ganz jung. Sie trägt nicht | |
Weiß, sondern ein schwarzes Kleid mit türkisblauen Blumen und einer | |
türkisblauen Jacke, er hat einen schwarzen Anzug an. Vermutlich ist es für | |
beide nicht die erste Ehe. | |
Ihre Hochzeitsgesellschaft ist klein: zwei Trauzeugen, der Standesbeamte | |
und Alan Marshall, der Dudelsackspieler. Schnell ein paar Fotos beim | |
Ortsschild, das eigens dafür im Hof hinter der Dorfschmiede aufgestellt | |
wurde, schon entschwinden sie in dem mit weißen Bändern geschmückten | |
Bentley. | |
Was sollte man auch sonst in Gretna Green tun? Es ist ein Disneyland für | |
Eheschließungen, es gibt Läden für Hochzeitskleider, Hochzeitskuchen, | |
Brautsträuße, es gibt Fotografen, Mietlimousinen und Souvenirs, Souvenirs, | |
Souvenirs. | |
Wegen seiner Hochzeitsindustrie ist der ansonsten eher unscheinbare Ort mit | |
seinen 550 Einwohnern weltberühmt. Das hat geografische Gründe. Gretna | |
Green ist die südlichste Ortschaft in Schottland, es war die erste | |
Haltestelle der Postkutsche von London nach Edinburgh auf schottischer | |
Seite, die Grenze liegt nur einen Steinwurf entfernt. | |
## Gesetze galten nicht für Schottland | |
Zwar war Schottland seit 1707 kein eigenständiges Königreich mehr, sondern | |
gehörte zum Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland, doch die | |
in London verabschiedeten Gesetze galten nur in England und Wales, für | |
Schottland aber nicht automatisch. Graf von Hardwicke, Lordkanzler des | |
britischen Kabinetts, erließ 1754 ein Gesetz, wonach Menschen unter 21 | |
Jahren nur mit Einwilligung der Eltern heiraten durften. | |
Priestern, die Minderjährige vermählten, drohten 14 Jahre Zwangsarbeit in | |
den Kolonien. Die Aristokraten begrüßten das Gesetz, denn die Gefahr, dass | |
ihre Töchter auf Heiratsschwindler und Bigamisten hereinfielen, die es auf | |
das väterliche Erbe abgesehen hatten, war fast gebannt. Aber nur fast. | |
In Schottland galt dieses Gesetz nämlich nicht. Dort durften aufgrund eines | |
Dekrets Karls II. aus dem Jahr 1660 Mädchen ab 12 und Jungen ab 14 Jahren | |
ohne Einwilligung der Eltern heiraten. „Mit dem englischen Gesetz von 1754 | |
setzte der Strom der Heiratswilligen nach Gretna Green ein“, berichtet | |
Frank Clarkson, der Manager des Museums in der historischen Schmiede, wo | |
heute noch Hochzeiten stattfinden. | |
„Die sogenannten Amboss-Priester witterten ein Geschäft. Man benötigte ja | |
nur zwei Trauzeugen, meist waren es Dorfbewohner, und jemanden, vor dem man | |
sich das Jawort gab.“ Meist war das der Schmied, weil er im Dorf Ansehen | |
genoss. Wenn er mit seinem Hammer auf den Amboss schlug, galt die Ehe als | |
besiegelt. | |
## Wie Witwe Bolte | |
Bisweilen spielten sich dramatische Verfolgungsjagden ab. 1770 | |
übernachteten die Wesley-Brüder, die später die Methodistenkirche | |
gründeten, mit einem deutschen Freund bei einem reichen Gutsbesitzer in | |
Carlisle auf der anderen Seite der Grenze. „Der Deutsche verliebte sich in | |
die 15-jährige Tochter des Hausherrn und sie sich in ihn“, berichtet der | |
Museumsleiter. „Die beiden brannten nach Gretna Green durch, verfolgt vom | |
wütenden Vater.“ | |
Während der Hochzeitsfeier fiel ihnen ein kleines Mädchen auf, das die | |
Zeremonie beobachtete. Sie adoptierten das Kind, das aus armen | |
Verhältnissen stammte, und nahmen es mit nach Deutschland. „Emma, so hieß | |
die Kleine, wurde später in Deutschland durch Heirat zur Gräfin“, sagt | |
Clarkson. „Und der Vater vergab seiner Tochter und dem Deutschen | |
schließlich.“ | |
Nicht alle Geschichten nahmen ein harmonisches Ende. 1818 beschloss der | |
66-jährige Lord Thomas Erskine, damals der höchste Richter Englands, mit | |
seiner 30 Jahre jüngeren Haushälterin nach Gretna Green durchzubrennen. | |
Damit man ihn unterwegs nicht erkannte, trug er eine Haube, einen Schleier | |
und ein geblümtes Kleid. Er sah aus wie Witwe Bolte und zog die | |
Tarnkleidung erst aus, als der Amboss-Priester sich weigerte, zwei Frauen | |
zu vermählen. | |
## Trauung in Rekordzeit | |
Er absolvierte die Trauung dann in Rekordzeit, und kaum war der Hammer auf | |
den Amboss niedergegangen, tauchte Erskines Sohn aus erster Ehe auf. Er | |
fürchtete um sein Erbe und begann, die Braut zu verprügeln, die sich sich | |
nach Leibeskräften wehrte. Schließlich kam das ganze Dorf zusammen, und die | |
Ereignisse sprachen sich bis nach London herum, so dass Erskines Ruf auf | |
alle Zeiten ruiniert war. | |
Frank Clarkson war früher einmal Ingenieur, 1991 machte er in Carlisle ein | |
Zeitungsgeschäft auf. „Einer meiner Kunden war Manager des Museums von | |
Gretna Green“, erzählt er. „Er bot mir vor sieben Jahren eine Stelle als | |
Touristenführer an, und ich akzeptierte.“ | |
Im vorigen Jahr übernahm Clarkson den Managerposten. „Gretna Green ist der | |
romantischste Ort der Welt“, sagt er. Das gilt aber nur für Heiratswillige. | |
Anderen hat Gretna Green wenig zu bieten. Eine für diese Gegend typische | |
Ortschaft, nicht hässlich, nicht sonderlich attraktiv, umgeben von grünen | |
Hügeln auf der einen Seite und einem riesigen Einkaufszentrum sowie der | |
Autobahn A74 nach Glasgow auf der anderen. | |
## Abkühlungslist | |
Den Titel als „romantischsten Ort“ verlor Gretna Green übrigens | |
vorübergehend, als Lord Brougham 1856 ein „Abkühlungsgesetz“ erließ. For… | |
mussten Heiratswillige mindestens drei Wochen in Schottland leben, bevor | |
sie heiraten durften – eine unüberwindliche Hürde für durchgebrannte junge | |
Paare ohne Geld. Als 1940 auch noch bestimmt wurde, dass Eheschließungen | |
nur in einer Kirche oder im Standesamt rechtmäßig waren, schien das | |
Schicksal des Hochzeitsparadieses besiegelt. | |
Richard Rennison war der letzte Amboss-Priester, er hatte während seiner | |
14-jährigen „Amtszeit“ 5.147 Ehen geschlossen. Wenn er von | |
Kirchenvertretern wegen Gotteslästerung angegriffen wurde, antwortete er, | |
man solle seinen Nachnamen einfach rückwärts lesen: „No sinner.“ Kein | |
Sünder. | |
1977 wendete sich das Blatt wieder zugunsten Gretna Greens: Das | |
„Abkühlungsgesetz“ wurde aufgehoben, seitdem können Ehen auch außerhalb … | |
Kirchen und Standesämtern geschlossen werden, sofern ein echter Priester | |
oder ein Standesbeamter anwesend ist. Der Amboss-Priester in der alten | |
Dorfschmiede Gretna Greens ist nur noch für die nostalgische Zeremonie | |
zuständig. Trotzdem floriert das Geschäft. | |
„Zwar dürfen in Schottland Menschen schon ab 16, anders als in England, | |
ohne Einwilligung der Eltern heiraten, aber heutzutage brennen nicht mehr | |
viele durch“, sagt Clarkson. „Dennoch haben wir hier über 4.000 Hochzeiten | |
jedes Jahr, mit steigender Tendenz.“ Jede achte schottische Ehe wird in | |
Gretna Green geschlossen. | |
Das gesamte Gelände mit Schmiede, Läden, Restaurant und Café sowie einem | |
riesigen Parkplatz für Autos und Reisebusse befindet sich in Privatbesitz. | |
Ein Hugh Mackie hatte 1886 die Ländereien in Gretna Green erworben, zu | |
denen auch die Schmiede gehörte. Er erkannte das touristische Potenzial, | |
sein Urenkel Alasdair Houston leitet das Unternehmen heute in vierter | |
Generation. | |
## "Gestorben wird immer, und geheiratet auch" | |
Alan Marshall hat gerade für das ältere Brautpaar aufgespielt, jetzt steht | |
er wieder auf dem kleinen Platz zwischen Schmiede, Café und Andenkenladen. | |
Neben sich hat er eine Holzkiste mit einer Schale und einem Schild | |
aufgebaut: „Für den Dudelsackspieler.“ Marshall trägt einen Kilt, die | |
schottische Nationaltracht, und eine große schwarze Fellmütze. Er gehört | |
dem Clan Keith im Norden Schottlands an, aber er wohnt schon lange im | |
Nachbarort Eastrigg, einer im Ersten Weltkrieg angelegten Ortschaft für | |
Arbeiter in der lokalen Munitionsfabrik. | |
Es war damals eine der größten Fabriken der Welt, 30.000 Menschen | |
arbeiteten dort. Die Geschichte der Fabrik ist im Museum von Eastrigg | |
dargestellt. Die Ausstellung heißt „Der Haferbrei des Teufels“, ein Name, | |
den der Sherlock-Holmes-Autor Arthur Conan Doyle dem explosiven | |
Korditgemisch, das in der Fabrik produziert wurde, bei einem Besuch 1916 | |
gab. | |
Marshall hat mit zwölf Jahren angefangen, Dudelsack zu spielen. „Es gab | |
öfter Ärger mit den Nachbarn“, sagt er. „Das Instrument ist ziemlich laut… | |
Nicht umsonst heißt es „War Pipes“, Kriegspfeifen, denn das Regiment der | |
Dudelsackspieler jagte mit seinem wuchtigen Sound so manchem Feind Angst | |
und Schrecken ein. | |
Kann man vom Dudelsackspielen leben? „Von den Spenden natürlich nicht“, | |
sagt er, „aber viele Hochzeitspaare heuern mich für ein Ständchen an.“ Oft | |
wird er auch für Beerdigungen engagiert, und manchmal auch für Geburtstage. | |
„Gestorben wird immer, und geheiratet auch“, sagt er. „Für einen | |
Dudelsackspieler gibt es keinen besseren Ort als Gretna Green.“ | |
18 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Ralf Sotscheck | |
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