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# taz.de -- Erzähler von Edinburgh: Die Stadt der lebenden Legenden
> Im Zentrum der schottischen Hauptstadt inszenieren Tourguides und
> Schauspieler Geschichte zum Mitspielen.
Bild: Auf der Harry Potter-Tour in Edinburgh.
Die Geschichtenerzählerin hebt und senkt ihre Stimme, schaut ihre Zuhörer
mit großen Augen an, malt mit ausladenden Gesten Bilder in die Luft, hält
kurz inne, um mal leiser, mal lauter, mitunter flüsternd, die Geschichte zu
ihrem Höhepunkt zu tragen und schließlich aufzulösen.
Zwanzig unterschiedliche Leute sitzen in einem großen Kreis und lauschen:
Lehrerinnen, ein Pfarrer, eine Journalistin aus New York, eine
Langstreckenläuferin aus Bulgarien, eine Australierin, eine deutsche
Studentin, ein Wirtschaftsanalyst. Sie folgen einer weißhaarigen Dame, die
die alte Geschichte vom König und den drei gleichen Puppen erzählt.
„Wie habe ich erzählt? Was ist euch aufgefallen?“, fragt Senga und bekommt
Antworten wie: „Du hast uns einbezogen“, oder: „Du hast die Geschichte
dramaturgisch entwickelt, Fragen, Pausen und überraschende Wendungen
eingebaut.“
## Vergesst eure Erwachsenenlogik!
Dann hält die etwa 1,50 Meter kleine quirlige Dame ein Tuch in die Luft, so
groß wie sie selbst. Darauf sind dunkelblaue, blumenähnliche Ornamente
gedruckt. „Was seht ihr?“, fragt Senga und wartet geduldig auf die
Antworten: „Vielleicht ein Mutterraumschiff an das Tochterschiff
andocken?“, sagt einer in der Runde etwas unsicher zögernd. „Ein Wald, eine
Blume, ein Kirchenfenster, große und kleine Tränen, ein fliegender Teppich,
ein Zaubertuch …“ Immer schneller kommen die Antworten, bis der Ideenstrom
allmählich versiegt. „Vergesst eure Erwachsenenlogik, wenn ihr gute
Geschichtenerzähler sein wollt“, verkündet Senga. „Vorschulkinder sind die
kreativsten Denker.“
In Workshops wie diesem vermittelt die 75-Jährige im Scottish Storytelling
Centre das Handwerk des Geschichtenerzählens. Sie erklärt das Prinzip der
Dramaturgie, den Dreiklang von Anfang, Höhepunkt und Schluss, gibt Tipps
für die ansprechende Präsentation und fasst die Kunst des Erzählens
schließlich in einem Satz zusammen: „Ein guter Geschichtenerzähler
kommuniziert – mit den Augen, den Händen, dem Herzen.“ Das ganze Leben ist
für Senga „eine Reise voller Geschichten“.
Ihre Oma habe sie in die Geheimnisse des Erzählens eingeweiht. „Sie hatte
kein Fernsehen, kein Radio, kein Internet und sprach kaum Englisch.“
Aufgewachsen ist auch Senga mit der alten Sprache der einfachen Menschen in
Schottlands Süden und Osten, dem „Scots“. Wer gebildet war oder sich dafür
hielt, parlierte im Idiom der Engländer, die Schottland einst eroberten und
kolonisierten.
## Der Geschichtensammler
Draußen vor dem Storytelling Centre schimpft ein älterer Herr, dass diese
ganzen Geschichtenerzähler hier doch keine Schotten seien. „Hören Sie mal
auf den Akzent, alles Engländer.“ Allmählich redet er sich in Rage und
erzählt, dass der Scottish National Trust, der das schottische Kulturerbe
verwalten soll, seine Familie aus ihrem Mietshaus vertrieben habe, um dort
– englische – Mitarbeiter anzusiedeln. Natürlich gebe es
Fehlentscheidungen, aber es stimme nicht, dass Schotten systematisch
benachteiligt würden, sagt David Campbell.
Der 77-jährige Geschichtenerzähler und „selbstverständlich überzeugte
Schotte“ trägt einen Kilt (Schottenrock). Seine langen, weißen Haare hat er
zu einem Pferdeschwanz gebunden. Über Jahrzehnte hat David im ganzen Land
Geschichten zusammengetragen und Legenden des hier „Traveller“ oder
„Tinker“ genannten fahrenden Volkes gesammelt. Jede sei für ihn „ein
wertvolles Geschenk. Wenn du sie erzählen willst, musst du die Menschen
lieben.“
## Auch Harry Potter war hier
Schottlands Geschichten entstanden in den weiten, kaum besiedelten
Landschaften. „Oft geben Geschichten Erklärungen für Dinge, die Menschen
nicht verstanden haben“, erklärt Bruce, ein anderer Geschichtenerzähler im
Storytelling Centre: Heidekraut blüht normalerweise lila, doch
zwischendurch sprießen immer wieder weiße Büschel aus der Heide. Einer Sage
zufolge ist der Grund die Trauer einer jungen Frau über den Verlust ihres
Liebsten: Nachdem ihr ein Bote die Nachricht vom Tod ihres Bräutigams
übermittelt hatte, weinte sie wochenlang. Überall, wo eine Träne zu Boden
fiel, wusch sie die lila Farbe aus dem Kraut, und so sei es bis heute
geblieben.
Auf der Royal Mile zwischen dem wuchtigen, in den Fels geschlagenen
Königsschloss und der bald 250 Jahre alten North Bridge buhlen viele
Erzähler um die Aufmerksamkeit der Passanten. Vor der Kathedrale Saint
Giles, einem gotischen Bau aus dem 15. und 16. Jahrhundert, werben junge
Leute für ihre geführten Touren: Pub Crawls, Kneipentouren, historische
Stadtrundgänge, Geistertrips durch die Verließe unter der Altstadt oder ein
Rundgang mit einer Zauberin auf den Spuren von Harry Potter.
## Moosbewachsene Grabsteine und Glitzerstäbchen
Becky ähnelt mit ihrer runden Brille und dem schwarzen Umhang tatsächlich
dem Zauberlehrling. Routiniert führt die englische Studentin durch
Greyfriar’s Graveyard, einen kleinen Friedhof. Vor einem der uralten,
moosbewachsenen Grabsteine verteilt sie Zauberstäbe. Sie fertige die „magic
sticks“ zu Hause beim Fernsehen. Plastikstäbe, die sie rosa, lila, blau,
rot und gelb einfärbt und mit Glitzersternchen beklebt. Während eines
Fernsehkrimis schaffe sie locker zehn davon.
Unterwegs zeigt Becky die Stellen, die sich in J. K. Rowlings Romanen
wiederfinden: Das College, das das Vorbild für die Zauberschule Hogwarts
lieferte, Namen auf Grabsteinen, die die Autorin für ihre Figuren
verwendete, und das Café, in dem sie den ersten Potter-Band schrieb. Kurz
bevor das Buch erschien, wurde das Lokal geschlossen. „Ich glaube, die
hatten keinen guten Manager, da er sich diese Marketingchance entgehen
ließ“, merkt Becky an. Inzwischen werben viele Pubs damit, dass hier Harry
Potter erfunden wurde.
In Edinburgh lebte Joanne Rowling als alleinerziehende Mutter von
Sozialhilfe. Mehrere Verlage lehnten ihr erstes Werk „Harry Potter und der
Stein der Weisen“ ab, bis schließlich nach zwei Jahren einer das Manuskript
annahm. Den letzten Potter-Band schrieb sie bereits in einer Suite des
Luxushotels Balmoral mit inspirierendem Blick auf die Kulisse der
Edinburgher Altstadt.
4 May 2013
## AUTOREN
Robert Fishman
## TAGS
Nantes
Schottland
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