# taz.de -- Reise nach Nantes: Die Insel der Wunderwelten | |
> Künstler verwandeln das bretonische Nantes mit viel Getier in einen | |
> Garten voller Überraschungen. Schaulustige bestaunen gelbe Riesen. | |
Bild: Die Riesengiraffe in Nantes. | |
Mama, warum bewegt er sich nicht mehr?“, fragt die Kleine am Nebentisch. | |
„Keine Sorge“, tröstet die Mutter, „er schläft nur.“ Das Mädchen, | |
vielleicht drei Jahre alt, stutzt einen Moment. Dann nickt sie zufrieden. | |
Ihren großen Freund sieht sie morgen wieder. Mit geschlossenen Augen ruht | |
der rund zehn Meter hohe Elefant unter dem Glasdach der Machines de l’Ile, | |
der „Maschinen der Insel“, in Nantes. | |
Am nächsten Morgen stehen die Menschen an der Kasse nebenan wieder | |
Schlange. Hier gibt es die Fahrkarten für den Ritt auf dem Elefanten, den | |
ein Team um den künstlerischen Leiter François Delarozière aus Holz, Leder, | |
Pumpen, Stahlträgern und Motoren gebaut hat: „Unsere Inspiration bekommen | |
wir von der Natur“, erklärt der 51-jährige in der ehemaligen | |
Schiffbauhalle, die sein Team zur Werkstatt für ihre Fabeltiere umgebaut | |
hat. Kunststoff verwenden die Künstler von La Machine grundsätzlich nicht. | |
Ein junger Mann schraubt die Pfote eines Drachens auseinander. Das rund | |
drei Stockwerke hohe Tier erinnert an Fuchur aus Michael Endes „Unendlicher | |
Geschichte“. Gleich hat er seinen ersten Ausflug auf dem Platz vor der | |
Halle. Zu Hunderten bestaunen Schaulustige den sanften gelben Riesen. | |
Manchen laufen Tränen über die Wangen, wenn sie der Drache aus seinen | |
feuerroten Augen fragend anschaut. Ab und zu steigen kleine Dampfwolken aus | |
seinen Nüstern in den Himmel. Dann trottet er ein paar Schritte weiter. | |
Auf Auslegern neben dem Rücken des Drachens sitzen zwei Männer. Mit | |
Joysticks steuern sie seine sanften Bewegungen. „Dadurch schaffen wir | |
Beziehungen zwischen ihnen und den Menschen“, erklärt Delarozière, ein | |
ruhiger, freundlicher Mann, dem die Ideen scheinbar zufliegen. Als Kind | |
habe er von seinem Vater, einem Schreiner, viel gelernt. Er wurde | |
Landwirtschaftstechniker, studierte an der Kunstakademie und arbeitete als | |
Bühnenbildner an Theatern. | |
## Reich an Möglichkeiten | |
1987 schlossen die Werften für immer. „Wir haben der Stadt vorgeschlagen, | |
den öffentlichen Raum mit unseren Figuren zu beleben“, erzählt Schöpfer | |
Delarozière. Vor zehn Jahren eröffnete La Machine, ein gemeinnütziges | |
Unternehmen aus Toulouse, dann eine Filiale auf der Insel. Für viele | |
Nanteser gehören der Elefant, das „Karussell der Meereswelten“ mit seinen | |
fantastischen Schlangen, Fischen und anderem Getier oder die seltsamen | |
Rieseninsekten inzwischen zur Familie. | |
Martine verkauft die Eintrittskarten für die Galerie: Hier kann man den | |
Schöpfern bei der Arbeit zusehen, auf den „Zweig des Reihers“ klettern und | |
den Piloten in seinem aus Schrott zusammengeschweißten Flugzeug auf seinen | |
Abenteuern begleiten. An ihrer Heimatstadt lobt die quirlige junge Frau den | |
„esprit innovatif“, „den innovativen Geist“ vieler kreativer Menschen, | |
darunter 55.000 Studenten in einer grünen Stadt, überschaubar und reich an | |
Möglichkeiten. | |
Drei Fußgängerbrücken verbinden das bewaldete Inselchen mit dem „Festland�… | |
In der Innenstadt bietet ein Spaziergang die besten Aussichten: „Le Voyage | |
à Nantes“ nennt sich das jährliche Festival, bei dem Künstler | |
Überraschungen auf Plätzen und an Fassaden hinterlassen. Vom Eingang einer | |
Metzgerei grinsen Tiergesichter mit bunten langen Haaren, das | |
klassizistische Graslin-Theater trägt üppigen Fahnenschmuck aus blauen, | |
roten und gelben Tüchern. Auf einem der von Straßencafés gesäumten Plätze | |
liegt ein lieferwagengroßer Igel mit hölzernen Stacheln. Er scheint sich zu | |
drehen, wenn man ihn umkreist. Den Besuchern des sieben Hektar großen | |
botanischen Garten „Jardin des Plantes“ grinst ein gut zwei Meter hoher | |
Frosch entgegen. | |
Zwischen all den fröhlichen Installationen stellt sich Nantes dem | |
traurigsten Kapitel seiner Geschichte: Hiesige Schiffe brachten Waffen, | |
Schnaps, Perlen und andere Güter vom alten Kontinent nach Westafrika, wo | |
man sie gegen die Ware Mensch eintauschte: Mehr als eine halbe Million | |
Afrikaner verschleppten Nanteser Reeder nach Amerika. Unter Deck lagen vier | |
Gefangene angekettet auf einem Quadratmeter. Jeder zehnte starb auf der | |
Überfahrt. Die Schiffe brachten auf dem Rückweg Rohstoffe wie Baumwolle und | |
Kakao aus den Kolonien. | |
## Stadt der Sklavenhändler | |
Mit Handwerk und Seefahrt kam im 17. und 18. Jahrhundert Wohlstand. | |
Kaufleute und Schiffseigner ließen sich reich verzierte Stadthäuser bauen, | |
die den Weg von der Loire in die Altstadt säumen. Auf einem Stadtrundgang | |
über die kopfsteingepflasterten Gassen zeigt Stadtführerin Brigitte Château | |
einige der sonst verschlossenen Innenhöfe: Mit kunstvoll geschmiedeten | |
Geländern dekorierte Treppenaufgänge führen in die oberen Stockwerke. Heute | |
beherbergen sie teure Eigentumswohnungen mit Blick auf den Fluss. | |
2.000 Glasfenster im Boden der Loire-Promenade erinnern an die Namen der | |
Sklavenschiffe. Ein markierter Weg mit zahlreichen Erklärungstafeln führt | |
vom Schloss zur „Gedenkstätte für die Abschaffung der Sklaverei“ unter dem | |
Flussufer. Durch Sehschlitze fällt fahles Tageslicht auf die unterirdischen | |
nackten Betonwände, an die das grün-braune Wasser schlägt. Weiße Schrift | |
auf roten Tafeln erzählt die Geschichte der afrikanischen Sklaven. Auf | |
einer grauen rohen Wand steht das Wort „Freiheit“ in verschiedenen | |
westafrikanischen Sprachen. Eine Schrifttafel zitiert Martin Luther Kings | |
Rede „I have a Dream“. | |
Der Rückweg über die Insel bietet noch einige Überraschungen: Zu Füßen | |
eines alten gelben Werftkrans hat ein Künstler ein Freibad angelegt: einen | |
Strand mit Bademeister-Hochstuhl, rot-weißen Sonnenschirmen und einem | |
Schwimmbecken. | |
Stadtführerin Christine erzählt von einer Begegnung: Als der Elefant von La | |
Machine das erste Mal in der Stadt unterwegs war, sei sie mit einer | |
Freundin losgefahren, um das Wundertier zu suchen. An einer Kreuzung | |
fragten die beiden einen Polizisten: „Haben Sie hier irgendwo einen | |
Elefanten gesehen?“ – „Nein“, antwortete der Schutzmann. „Nur zwei | |
Giraffen.“ Die Kreativen von La Machine hatten auch diese beiden | |
losgelassen. | |
7 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
robert b. fishman | |
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