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# taz.de -- Bristoler Stadtteil Stokes Croft: „Wir machen unsere eigene Zukun…
> Stokes Croft, das ehemalige Arbeiterviertel der englischen Stadt,
> entwickelt sich zur alternativen Bürgerrepublik. Das Motto ist: Think
> Local!
Bild: Graffiti in Bristol.
Das ehemals heruntergekommene Arbeiterviertel Stokes Croft im englischen
Bristol ist heute ein Stadtteil ohne graue oder schwarze Wände – dafür
überall Graffiti. An einer Wand prangt ein Jesus in Breakdance-Position.
Nicht weit davon Banksys berühmtes „Mild Mild West“, eine Kritik an den
massiven Polizeieinsätzen in England. Etwas die Straße runter steht an
einer Wand: „Your Government is trying to fuck you over“.
An einer anderen Ecke prangt über vier Mieter hoch eine grinsende
Vogelscheuche, die einen Vögel auf der Hand hält und ihm Tee serviert.
Darunter steht: „Für Bob. Ruhe in Frieden“. Gegenüber der Supermarktkette
Tesco prangt in großen Buchstaben: „Denke Lokal. Boykottiere Tesco“ und �…
Prozent der lokalen Bevölkerung sagen Nein zu Tesco“.
Die Graffiti von Bob und gegen den Lebensmittelkonzern Tesco sind von dem
Graffitikünstler Shaun Sepr. Er malt seit über zehn Jahren an Wände. Shaun
sagt, er mag es, mit seiner Umwelt zu interagieren, seine Kunst direkt zur
Diskussion zu stellen. Und er mag es, Zeichen zu setzen. Shaun gehört zu
einer großen Szene von Künstlern.
Sie malen politische Botschaften, künstlerische Gemälde und machen witzige,
satirische Zeichnungen. „Mit dem „Boykottiere Tesco“-Graffito haben wir,
glaube ich, etwas erreicht. Es ist dort seit vier Jahren“, sagt Shaun.
Graffiti werden sonst schnell wieder übermalt. Shaun versteht sich als Teil
einer Gemeinschaft, die den Stadtteil zu einer großen Galerie gemacht hat.
## Der Stadtteil war völlig vergessen
Jamaica Street 35 im Stadtteil Stokes Croft. Ein zweistöckiges
Ziegelsteinhaus aus den 60ern. „PRSC The New Building“ ist in gelben
Buchstaben auf ein Schild gesprayt. Rechts davon die „PRSC Outdoor
Gallery“, eine zehn Meter lange Graffitigalerie. Ein beiges Sofa steht
davor, zum Setzen und Innehalten. Weiter rechts im nächsten Gebäude ist ein
Geschäft. In schwarzer Schrift steht auf einem Schild „PRSC HQ“. HQ für
Headquarter. Im Fenster Porzellanwaren. Tassen, Teller, Teekannen und
Schalen. Über dem Geschäft steht: „The Selling Gallery“. Das Geschäft ist
Hauptquartier der PRSC, der Peoples Republic of Stokes Croft. Chris
Chalkley ist ihr Gründer.
2007 hat Chris Chalkley in Stokes Croft eine eigene Republik ausgerufen.
Das klingt verrückt, beeinflusst den Stadtteil seitdem aber sehr stark.
Chris Chalkley und die PRSC kennt hier jeder. Es sind 20 sehr aktive
Menschen. Doch Chris ist die treibende Kraft. PRSC ist seine Passion, seine
Obsession. Wenn man mit ihm sprechen will, muss man das Geschäft verlassen.
Es kommen ständig Leute, die Hilfe, Rat, Materialien zum Sprayen brauchen
oder einfach von einer Idee erzählen wollen. Gespräche führt er lieber im
nebenliegenden Gebäude. Es gehört auch zur PRSC, wurde 1950 gebaut, und
früher wurden hier Kutschen produziert.
„2007 sah das hier in Stokes Croft noch ganz anders aus“, erzählt Chris
Chalkley. „Der Stadtteil war völlig vergessen. Es gab viele Probleme.
Alles, was die Stadt nicht in den trendigen Vierteln haben wollte, baute
sie hier.“ Unterbringungen für Obdachlose, Suppenküchen, wenige Geschäfte.
Die Bausubstanz war marode, es gab viel Alkoholmissbrauch und viele Drogen.
„Die Stadt kam nur, um die Wände grau zu streichen“, schimpft er. Er regt
sich auf: über die Stadt, die Globalisierung, das kapitalistische System,
über Macht, Neoliberalisierung und ihre katastrophalen Auswirkungen.
## Verkaufsschlager die Tasse mit der Queen
Sein Lösungsansatz, die Idee der PRSC: „Gestalte deine eigene Zukunft. Im
Lokalen. Ich dachte mir, die süßesten Früchte, wachsen auf dem härtesten
Boden. Warum nicht hier beginnen?“, sagt Chris. Er war selbst
Globalisierungsopfer. Er verkaufte Porzellanwaren aus England in England.
Internationale Unternehmen importierten billiges Porzellan. Die
Porzellanmanufakturen in England mussten schließen. Heute gibt es noch eine
einzige in Südwestengland. Auch Chris musste sein Unternehmen aufgeben. Er
malte ein antikapitalistisches Graffito auf die Wand, die heute die PRSC
Outdoor Gallery ist. Damit fing alles an.
„Leute fragten mich: Darfst du das hier hinmalen?“ erzählt er. Er durfte
nicht: Die Stadt malte die Wand wieder grau. Er schrieb ein Pamphlet.
Stellte es online und gründete mit Freunden und Künstlern die Peoples
Republic of Stokes Croft. „Uns war klar, hier macht keiner mehr was. Wir
müssen es selbst tun.“
Das Pamphlet ist bis heute unverändert. Die PRSC will einen Nutzen für die
Gemeinschaft schaffen, in dem sie die Interessen des Viertels vertritt. Das
Lokale verändern. Im Kleinen arbeiten. Eine eigene Republik. Eine soziale
Utopie. „Ein Viertel, das gemeinsam seine Angelegenheiten selbst regelt.“
Die PRSC kauft die Gebäude in der Jamaica Street und verkauft dort
Porzellan des letzten Herstellers in Südwestengland. Bedruckt sie mit
politischen, kritischen und witzigen Aussagen. Der Verkaufsschlager ist
eine Tasse mit der Queen und dem Aufdruck „Ich esse Schwäne“. In
Großbritannien gehören bis auf wenige Ausnahmen alle Schwäne der Krone. Die
Queen darf mit ihnen machen, was sie will. Die Monarchie ist für die PRSC
ein Dorn im Auge und Ziel des Spotts.
## Die Lebensmittelbewgung entstand
Die Idee gewinnt schnell Anhänger. Die Aktivsten arbeiten mit
Graffitikünstlern und Hausbesitzern zusammen. Entwickeln Konzepte zur
Identitätsbildung im Viertel: Sie malen alle Mülleimer im Viertel gelb an.
Schaffen kleine Plätze zum Sitzen. Errichten eine zweite Galerie auf einem
riesigen Verkehrskreisel. Graffitimalen wird ein besonders wichtiges
Mittel: „Du kannst ziemlich viel Krach machen mit einem kleinen Pott
Farbe“, sagt Chris. Andere Projekte kommen dazu. Ein paar Menschen gründen
Coexist, ein soziales Unternehmen, und mieten Hamilton House, einen Komplex
mit vier großen Gebäudeblöcken. Jahrelang stand er leer. Jetzt gibt es hier
eine Fahrradwerkstatt, eine Kantine, Künstlerstudios, günstige Büros,
Yogakurse, Tischtennisplatten und eine Gemeinschaftsküche, in der
behinderte und obdachlose Menschen Kochkurse besuchen.
Vier Jahre lang entwickelte sich Stokes Croft. „Dann hat sich Tesco in die
Gemeinschaft gepöbelt“, sagt Chris. Tesco, ein multinationales
Lebensmittelunternehmen, bekannt für schlechte Arbeitsbedingungen und
Dampfwalzenmentalität. Die größte Handelskette in Großbritannien will eine
Filiale mitten in dem alternativen Viertel bauen, das seine Wurzeln im
Lokalen sieht. Die Lage spitzt sich schnell zu. Es gibt Hausbesetzungen,
Shaun malt das Graffito direkt gegenüber auf einer Wand, es folgen mehrere
Demonstrationen, und eines Nachts eskaliert die Situation: Es kommt zu
brutalen Auseinandersetzungen mit der Polizei, den „Tesco Riots“.
„Die Demonstrationen, die dann in Randale endeten, waren mehr als nur
Gewalt“, sagt Chris. Tesco hat der Gemeinschaft seinen Willen aufgezwungen.
Die Menschen hatten etwas entwickelt, aufgebaut. Die Straßen waren
dominiert von lokalen kleinen Geschäften und Anbietern. Sie wurden durch
Tesco bedroht. Am Ende baut der Konzern seine Filiale wider alle Proteste.
„Doch uns wurde klar, wie wichtig jetzt Alternativen werden“ sagt Chris.
Eine zweite Bewegung kommt zustande. Eine Lebensmittelbewegung. Überall in
Stokes Croft entstehen kleine Läden und Restaurants. Sie beziehen alle
Produkte von Bauern aus der Region, wenn möglich Bioprodukte.
## Ethisch vertretbar, nachhaltig, lokal
Ein Restaurant davon ist Katie and Kim’s Kitchen. Katie und Kim haben das
kleine Restaurant vor sechs Monaten eröffnet. Zuvor hatten sie aus einem
alten Pferdewagen frische Scones auf der Straße verkauft. Viele kennen sie
aus dieser Zeit. Nun gibt es hier Scones, Milchbrötchen, Suppen und belegte
Sandwiches. „Wir verarbeiten, was die Bauern gerade im Angebot haben“, sagt
Kim. Beide sind Mitte 20, wirken aber viel jünger. Sie bleiben nie stehen,
wenn sie reden.
Ständig muss etwas geknetet, gerührt oder aus dem Ofen geholt werden. In
dem großen Raum gibt es nur einen großen Tisch. Wie an einer Tafel setzt
man sich einfach dazu. Smartphones sind verboten. Die Küche ist nicht
abgetrennt. „Essen und Kochen ist etwas Soziales. Das wollen wir hier
leben“, sagt Katie, während sie Früchte für eine Marmelade schneidet.
Elise ist oft hier. Sie sitzt am Tisch, trinkt einen heißen Kakao und
philosophiert über diese neue Lebensmittelbewegung: „Ethisch vertretbar,
nachhaltig, lokal, organisch und aus der Region, das ist das Ziel“. Gerade
entwickelt sie mit einer Freundin neue Konzepte, um Essen mit Musik zu
verbinden. „Wir wollen die Geschwindigkeit aus dem Essen nehmen.“ In der
Zukunftswerkstatt Stokes Croft ist vieles machbar.
24 Jan 2015
## AUTOREN
Paddy Bauer
## TAGS
Bewegung
Graffiti
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