| # taz.de -- Berlin-Kreuzberg und der Widerstand: Die Wut ist vergessen | |
| > Was hat der alte Mythos von Kreuzberg mit einem Gemüseladen heute zu tun? | |
| > Und kann der Widerstand so freundlich sein? Eine Selbstbefragung. | |
| Bild: Einsatz für einen Gemüseladen: Protestlesung gegen die Schließung von … | |
| Auf einem alten Foto sind Menschen zu sehen, die in einem grauen Hof im | |
| Kreis herumtanzen. Sie sind barfuß und haben Schlaghosen an. Darunter | |
| steht: Straßenfest in der Cuvrystraße. Das Bild mutet ungefähr so | |
| historisch an wie die sepiafarbenen Bilder aus der vorigen | |
| Jahrhundertwende. Dabei stammt es aus den 1980er Jahren. Der Zeit, als | |
| diese Gegend im hintersten Eck von Westberlin den großen Mythos von | |
| Kreuzberg schrieb. Die Cuvrystraße war damals eines der vielen besetzten | |
| Häuser in diesem Viertel. Ton Steine Scherben haben den SO-36-Kiez | |
| besungen. 1.001 Geschichten wurden erzählt. Davon, wie die Widerständigen | |
| damals den Abriss stoppten. Von Straßenschlachten. Vom Ausnahmezustand. Und | |
| ja Papa, jetzt ist es auch endlich mal gut. | |
| Aber das ist es nicht. Denn Mythen sind stark. Sie sind selbst | |
| widerständig. Zäh wie Taubenmist. Und keiner, der in Kreuzberg aktiv ist, | |
| kann ihnen entkommen. | |
| Im Frühling vergangenen Jahres hieß es plötzlich: „Kreuzberg ist wieder | |
| da.“ Freilich war es immer da gewesen. Es sind ein paar Straßenzüge, | |
| zwischen Spree und Landwehrkanal gelegen, heute ein stinknormaler | |
| Innenstadtbezirk mit vielen Restaurants und Straßencafés. Aber plötzlich | |
| war wieder Bewegung in Kreuzberg. Man hörte und las davon. Eigentlich war | |
| nicht viel vorgefallen. Nach einem Hausverkauf hatte ein Immobilienbesitzer | |
| einem alteingesessenen türkischen Gemüseladen – Bizim Bakkal – gekündigt. | |
| Danach hatten Nachbarn und Kunden vor dem Geschäft einen Frühling lang | |
| gepicknickt, Veranstaltungen organisiert und dabei beharrlich den Erhalt | |
| ihres Ladens gefordert. Es waren immerhin so viele dabei, dass niemand | |
| wirklich sagen konnte, wie viele es waren. | |
| Auch wir waren dabei. Und fanden es großartig. So großartig, wie es eben | |
| ist, wenn Leute, die seit Jahren in denselben Straßen wohnen, sich | |
| plötzlich kennenlernen und Sommerabend für Sommerabend lange zusammen | |
| draußen sitzen. Die Bürgerinitiative, die dabei entstand – „Bizim Kiez“, | |
| fanden wir ehrlich. Und authentisch. Und unaufgeregt. Sie schrieb | |
| Hausbesitzern, die ihren Mietern Probleme bereiteten, einfach einen | |
| persönlichen Brief. „Bizim Bakkal bleibt – wir bleiben auch“ war der | |
| Slogan. | |
| Was sich dann ereignete, war überraschend. Mit einem Mal kam ziemlich viel | |
| Presse nach Kreuzberg. Erst die Berliner Zeitungen, dann die | |
| überregionalen. Von unserem Protest, der beachtlich, aber nicht gewaltig | |
| war, wurde über Nacht ein so starkes Bild gezeichnet, dass diejenigen, die | |
| ihn trugen, sich am Kopf kratzten und fragten: Sind wir das wirklich? Und | |
| überhaupt: Wer sind wir eigentlich? Machen wir etwas anders als unsere | |
| Mamas und Papas in der Schlaghosenzeit? Wenn ja – was ist das? Und last not | |
| least: Sind wir, gemessen an der sagenumwobenen Hausbesetzerzeit, | |
| eigentlich mehr oder weniger als ein kleines und unbedeutendes Strohfeuer? | |
| Ironischerweise war es ein Hof in der Cuvrystraße, in dem wir uns über | |
| diese Fragen unterhielten. Vermutlich genau dort, wo das Foto von den | |
| tanzenden Häuserkämpfern entstand. Eine Mutter, die zu Häuserkampfzeiten | |
| schon in Kreuzberg lebte – und jetzt bei Bizim Kiez mitmacht –, hatte Obst | |
| mitgebracht und erzählte viel. Ihre Tochter, Ende zwanzig, sprach weniger. | |
| Wir saßen in diesem Hof, wo damals der Putz nur so bröckelte, und freuten | |
| uns darüber, wie schön grün Kreuzberg heute ist. | |
| Das Gespräch dauerte sicherlich zwei Stunden lang. Ein paar Kinder tobten | |
| derweilen und zerdepperten eine Flasche Biopflaumensaft. Das meiste, was | |
| gesagt wurde, ist vergessen. Aber hängen blieb: Beide wunderten sich, dass | |
| man den Protest heute plötzlich mag. | |
| Die Proteste von damals, die aus der Mythos-Zeit, waren vor allem eins: Sie | |
| waren wütend. Aufwieglerisch. Die Spießbürger mochten sie nicht. Und dass | |
| die Bürger sie nicht mochten, schien Teil des Selbstverständnisses der | |
| Aufwiegler zu sein. | |
| ## Freundlicher Zuspruch | |
| Heute scheint es fast, als wäre diese Wut vergessen. Als die ersten | |
| loszogen, um Unterschriften für das Gemüsegeschäft Bizim Bakkal | |
| einzusammeln, bekamen sie allerorten freundlichen Zuspruch. Dabei war nicht | |
| versäumt worden, dazuzusagen, dass der Feind das Kapital, die | |
| Immobilienspekulation und so weiter sei. Umgekehrt schien niemand, der sich | |
| dem Protest von Bizim Kiez anschloss, darauf erpicht zu sein, irgendwen – | |
| außer den Immobilienspekulanten – zum Feind zu erklären. Was früher uncool | |
| gewesen wäre, nämlich Junge wie Alte, Schwarzgekleidete ebenso wie | |
| Jackettträger, Sojamilchtrinker wie Hipster in den eigenen Reihen zu haben, | |
| scherte niemanden und stört auch heute keinen. Und statt großer Gesten – | |
| Häuser besetzen, Revolutionslieder singen – setzen wir schlicht auf | |
| Pragmatismus. Ausnahmezustand? Nein, danke. Statt das Biest bei den Hörnen | |
| zu packen und ihm die Fratze zu zeigen, wandten wir uns machbaren Dingen | |
| zu: zum Beispiel eine Kampagne für unseren Obstladen zu starten. | |
| Als uns im Kneipengespräch ein alter Recke vorwarf, statt Kritik zu üben, | |
| würden wir uns im Klein-klein ergehen, schleuderten wir entgegen: Die Zeit | |
| der großen Mythen sei eben endlich vorbei! Wir seien jetzt nicht mehr | |
| deshalb erfolgreich, weil wir laut und anmaßend seien – sondern weil wir | |
| Netzwerke pflegten, geduldig seien und gut arbeiteten. | |
| Natürlich kam alles anders. Wer glaubt, sich zu entziehen, scheitert nur | |
| schöner. Bizim Kiez war erfolgreich. So erfolgreich, dass nach der | |
| überregionalen Presse das Fernsehen kam und anschließend Journalisten aus | |
| Madrid, aus Istanbul und New York. Am liebsten mochten sie, dass „der | |
| Gemüseprotest“ so pragmatisch, so divers und so freundlich war. Der | |
| Gemüseladen Bizim Bakkal ist zum Mythos geworden. Nur aus diesem Grund zog | |
| der Eigentümer seine Kündigung zurück. Unser Händler vor seinen Melonen, | |
| davor die Nachbarn, die keine Schlaghosen mehr, sondern Sneakers tragen – | |
| all das wurde so oft abgelichtet, dass man mit den Bildern ganz sicher ein | |
| Zimmer tapezieren könnte. Wer rauswill, aus den Mythen, schreibt nur eine | |
| neue, modernere Kreuzberggeschichte. | |
| In seinem eigenen Windschatten arbeitet Bizim Kiez derweilen weiter. Und | |
| weil sie Netzwerke pflegt, merkte sie schnell: Es gibt andere, ähnlich | |
| gesinnte. Tatsächlich ist eine neue politische Kultur entstanden. Sie ist | |
| systemkritisch, ohne revolutionär zu sein, bevorzugt das Machbare, ohne | |
| fantasielos zu sein. Sie pflanzt Gärten, senkt Mieten. Wirkt beharrlich, | |
| ist dabei freundlich. Und das nicht nur in Kreuzberg. Aber das ist eine | |
| andere Geschichte. | |
| 6 Feb 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Tina Veihelmann | |
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