# taz.de -- Schul-Workshops in der Pariser Banlieue: Unsere Lehrer sind Vampire | |
> Ein Gymnasium in der Banlieue Bagnolet bietet integrative Workshops an. | |
> Diese stehen jedoch im Schatten der jüngsten Anschläge. | |
Bild: Die bessergestellten Eltern schicken ihre Kinder doch lieber in Paris auf… | |
Anne-Lise Le Brun stürmt die Treppe zum Gymnasium ihres 14-jährigen Sohnes | |
hinauf. In zehn Minuten fängt an der Schule ihr Workshop „Intellektuelle | |
Selbstverteidigung“ an und sie muss noch Fotokopien machen. Schnell rast | |
sie an den Schülern vorbei, die sich vor einer großen Tafel im | |
Eingangsfoyer versammelt haben. Darauf sind die 27 Workshops aufgelistet, | |
die allen 385 Sechst- bis Achtklässlern in der Woche vor den | |
Weihnachtsferien statt Unterricht angeboten werden. Schon zum dritten Mal | |
findet die „Semaine décloisonnée“ (die Woche ohne Barrieren) im Gymnasium | |
Travail Langevin statt, das im Städtchen Bagnolet am östlichen Rand von | |
Paris liegt. | |
„Zimmer sechs!“, ruft Anne-Lise. Schnell werden alle Tische zur Seite | |
geschoben und ein paar Stühle im Kreis aufgestellt. Schon tröpfeln die | |
ersten Schüler ein. „Entschuldigung, aber was ist eigentlich | |
‚intellektuelle Selbstverteidigung‘?“, fragt die zwölfjährige Thiziri. … | |
glaubt ihr, was das ist?“, wirft Anne-Lise zurück in die kleine Runde. „Es | |
ist Zoff mit dem Kopf“, glaubt Issa. „Ach so, klar, statt den anderen zu | |
verprügeln, schaust du ihm ganz tief in die Augen“, witzelt Hajar und | |
kneift dabei die Augen zusammen. | |
Noch sind nicht alle zwölf zum Workshop angemeldete Schüler da. Anne-Lise, | |
die als Übersetzerin arbeitet und sich an der Schule schon länger | |
engagiert, schlägt trotzdem schon mal ein Spiel zum Kennenlernen vor: Zu | |
zweit sollen sie nur durch Mimik so viel wie möglich über ihr Gegenüber | |
herausfinden. Die Kinder schauen kurz skeptisch, doch schnell lassen sie | |
sich auf das Experiment ein.Mittels Fragebögen sinnieren sie kurz darauf | |
über ihr Verhältnis zu digitalen Medien. Alle sind bestens mit Handy, | |
Computer und Tablet ausgestattet. Bald wird eifrig über Mobbing auf | |
Facebook diskutiert und schon bietet sich der Übergang zum nächsten Thema | |
an: Verschwörungstheorien! | |
Durch ihren Sohn weiß Anne-Lise, dass Jugendliche für allerlei Komplotte | |
empfänglich sind. Zum Anschlag auf Charlie Hebdo kursierte auch mal das | |
Gerücht, er wäre geplant worden, um Hollandes schwindende Popularität | |
aufzubessern. Anne-Lise hat vor, die Problematik mit Humor anzugehen, und | |
zeigt eine Episode der zweiminütigen Fernsehsendung „Le Complot“: Im Clip | |
„Könnte französischer Rap eine Intrige der Homosexuellen sein?“ wird unter | |
anderem behauptet, Rapper erwähnen die Nummer 93 deshalb so oft, weil im | |
Jahr 1993 Homosexualität in vielen Ländern entkriminalisiert wurde. | |
## Ausflüge außerhalb der Schule untersagt | |
„Stimmt das jetzt oder nicht?“ fragt Rawan perplex, kaum ist der Clip | |
vorbei. „Quatsch!“, beschwichtigt ihn Issa. „Die 93, das sind doch wir!“ | |
Tatsächlich liegt Bagnolet im 93. Département Seine Saint-Denis. Viele | |
Rapper stammen aus der sozial schwachen Gegend – und stehen dazu. Als | |
Nächstes soll sich die Gruppe ein eigenes irres Komplott ausdenken – zum | |
Thema: Unsere Lehrer sind Vampire! | |
Wieder schauen alle ungläubig zu Anne-Lise, bis Thiziri mit konspirativem | |
Ton den Anfang macht: „Warum eigentlich ... ist uns der Zugang zum | |
Lehrerzimmer verboten?“ „Genial!“, freut sich Anne-Lise. Inspiriert meint | |
Foune: „Wenn sie schon so eklige Sachen wie kalten Kaffee trinken, warum | |
dann nicht auch Blut?“ Dazu Mohamed: „Dass sie unsere Klassenarbeiten immer | |
mit rotem Stift korrigieren, kann kein Zufall sein.“ Und schon ist der | |
erste Tag vorbei. „Mal schauen, ob ich meine Eltern von dieser These | |
überzeugen kann“, grinst Thiziri zum Abschied. | |
In der Kantine treffen sich nun das Lehr- und Sicherheitspersonal, die | |
Sozialarbeiter aus den umliegenden Jugendzentren und die paar Nachbarn und | |
Eltern, die an der Semaine décloisonnée mitwirken, zu einem | |
Weihnachtsessen. In der Schlange zum Buffet berichtet Graffiti-Künstler | |
Gilbert, wie die Neugestaltung der chronisch degradierten Toiletten | |
vorankommt. | |
François, Architekt, ist ein wenig frustriert: Eigentlich sollte die Straße | |
zum Gymnasium in seiner Gruppe unter die Lupe genommen werden, um sie | |
zeichnerisch ideal umzugestalten. „Stattdessen setzen wir uns mit dem | |
Schulgebäude auseinander.“ Wegen der Anschläge wurden der Anti-Terror-Plan | |
Vigipirate auf die höchste Alarmstufe angehoben und jegliche Ausflüge | |
außerhalb der Schule untersagt. | |
## Originelle Herangehensweisen an den Unterricht | |
Um sechs Uhr in der Früh darf immerhin Isabelle Woydyllo, die Latein und | |
Altgriechisch lehrt, ihre Gruppe ins Gebäude bestellen: „Astronomie ist | |
mein Hobby.“ Ihr Teleskop stellt sie den müden Kindern zur Verfügung, um | |
Jupiter zu besichtigen. Kodirektor Laurent Kaufmann darf morgen seine | |
Sonnenbrille nicht vergessen, denn im Werbespot, den die Video-Gruppe über | |
ihr Gymnasium drehen will, soll er möglichst cool rüberkommen. | |
„Als wir dieses Projekt, ‚Made in Bagnolet‘, vor drei Jahren gestartet | |
haben, wussten wir nicht, worauf wir uns da einlassen“, erzählt Kaufmann. | |
Mit den kleinen, altersgemischten Gruppen gehe es darum, eine neue | |
Lehrsituation zu schaffen. Das Konzept habe sich bewährt. Das Experiment | |
inspiriert auch zu originellen Herangehensweisen für den normalen | |
Unterricht. Und die sonst oft angespannte Lehrer-Schüler-Beziehung | |
profitiert auch. | |
Auf dem Weg nach Hause schwärmt Anne-Lise vom Engagement des Gymnasiums. | |
Wegen der unerschwinglich gewordenen Mietpreise in Paris zog sie vor vier | |
Jahren mit ihrer Familie nach Bagnolet. Gentrifizierung ist natürlich auch | |
hier Thema. „Leider setzen die besser situierten Neuankömmlinge alle Hebel | |
in Bewegung, um ihre Kinder weiterhin in Pariser Schulen zu schicken“, | |
bemängelt Anne-Lise. Auch ihr eigener Sohn Lucian möchte nächstes Jahr | |
lieber zurück nach Paris – entweder ins renommierte Lycée Louis-le-Grand, | |
das Schüler aus anderen Schulbezirken aufnimmt, oder an die Kunstschule | |
Boulle. | |
Ob der gute Schüler womöglich unterfordert ist oder einfach seiner Mutter | |
widersprechen will, lässt er nicht durchblicken. Anne-Lise will sich | |
jedenfalls nicht querstellen – „wobei man von den 43 in seinem Gymnasium | |
vertretenen Nationalitäten auch einiges lernen kann!“ | |
## Französische Flagge schwenken – reicht nicht | |
Am nächsten Morgen übernimmt die Workshopleitung Ewa Zlotek-Zlotkiewicz, | |
eine Zellbiologin, die Anne-Lise zur Unterstützung eingeladen hat, mit der | |
„Parabel der Polygonen“. Das ist ein vom US-amerikanischen Ökonom Thomas | |
Schelling entwickeltes Spiel an der Schwelle von Mathematik und | |
Sozialwissenschaft zum Thema „Gemischte Bevölkerungsstruktur“. „Mit den | |
Anschlägen kam die Diskussion wieder hoch“, meint Ewa. „Dabei reicht es | |
aber nicht, die französische Flagge zu schwenken, um die Probleme zu | |
lösen.“ | |
Das Spiel fängt an: Gelbe Dreiecke und blaue Quadrate sind die | |
Protagonisten. Wohl fühlen sie sich, wenn sich um sie herum mindestens ein | |
Drittel ihresgleichen befindet. Konzentriert werden die auf einem Raster | |
wild ausgelegten Pappfiguren hin- und hergeschoben, bis am Ende ein relativ | |
eintöniges Bild entsteht. Dabei erzählen die Kinder von ihrer | |
Nachbarschaft. „Die Leute sind hier ganz nett“, findet Thiziri. Nur im | |
Viertel La Capsulerie hält sich keiner gern auf: „Zu viele Drogendealer.“ | |
Abends findet der Elternabend der Neuntklässler statt. „Hoffentlich | |
vergisst Lucian seinen Ausweis nicht“, bangt Anne-Lise. Kürzlich rief das | |
frankophone IS-Propaganda-Magazin Dar al-Islam zum Mord an Lehrern auf, und | |
nun wird am Eingang streng kontrolliert, ob die Besucher tatsächlich zum | |
Gymnasium gehören. Damit der Abend überhaupt stattfinden durfte, musste die | |
Direktorin Frau Petit eine Sondergenehmigung bei der Präfektur beantragen. | |
Margaux vom Verein SynLab, einer Art Forschungslabor zu innovativen | |
Lehrformaten, grüßt Anne-Lise zum Abschied. Bei ihrer Gruppe ging es um die | |
Umgestaltung des schulischen Gemeinschaftsraums. Tolle Ideen kamen auf: ein | |
Diskussionskreis nur für Schüler, die Gründung einer Radiostation, das | |
Einladen von Promis zum Gespräch. „Doch bei jedem Vorschlag meinten die | |
Kinder gleich: „Ach, Unsinn“, erinnert sich Margaux. | |
„Und wir sagten immer: Doch! Drückt eure Wünsche aus, arbeitet mit dem | |
Gymnasium zusammen, nutzt eure Mittel!“ Anne-Lise ist wie immer total | |
begeistert. Doch wird den Jugendlichen nicht zu viel versprochen? „Wir | |
stellen nur praktische Hilfsmittel zur Verfügung, um Hindernisse, die sie | |
sich teilweise selbst stellen, als Chancen umzudenken“, antwortet Margaux. | |
„Und in dieser ersten Arbeitsphase sollte schon erlaubt sein, ein wenig zu | |
träumen.“ | |
5 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Elise Graton | |
## TAGS | |
Banlieue | |
Paris | |
Gymnasium | |
Anschläge | |
Schwerpunkt Feministischer Kampftag | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Frankreich | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kolumne Globetrotter: Auf der Stelle treten | |
Unsere Autorin stört es nicht, wenn andere ihre sportliche Leidenschaft | |
lächerlich finden. Dafür bietet Aquafitness Flashdance-Momente. | |
Soziologe über Frankreichs Retortenstädte: „Das sind keine Fischreusen“ | |
Französische Großsiedlungen gelten als Orte des Abstiegs. Gegen Ghettoimage | |
und Geschichtsamnesie twittert Renaud Epstein täglich eine Postkarte. | |
Renaud Epstein sur les grands ensembles: «Des sas plutôt que des nasses» | |
En tweetant chaque jour une vieille carte postale de grand ensemble, | |
Sociologue Renaud Epstein fait un travail de mémoire et invite à changer de | |
regard sur ces quartiers. | |
Traumaforschung nach den Anschlägen: Es geht wieder los in Paris | |
Ganz Paris träumt von der Umwelt – das Thema ist überall in der Stadt | |
präsent. Doch eigentlich bewegt die Menschen anderes. | |
Daniel Cohn-Bendit über Terror in Paris: „Wir müssen die Angst überwinden�… | |
Der Politiker spricht über die „Generation Bataclan“ und die richtige | |
Strategie im Kampf gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“. | |
Unruhen in Frankreichs Vororten 2005: Pulverfass Banlieue | |
Vor zehn Jahren begannen die Proteste in französischen Vorstädten. | |
Verändert hat sich seither kaum etwas. Der nächste Aufstand kommt. |