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# taz.de -- Geflüchtete Frauen in Budapest: Noch längst nicht angekommen
> Ungarn war für viele Geflüchtete ein Durchreiseland. Nur wenige sind
> geblieben. Zu Besuch in einem Sprachkurs speziell für Frauen.
Bild: Der Ostbahnhof Keleti in Budapest im September 2015. Die meisten Menschen…
Budapest taz | Leyla sitzt ganz vorn. Sie guckt zur Tafel, notiert ein
neues Wort. In großen Lettern steht das Thema des Tages an der Tafel: „Mi
hol van?“ - „Wo sind wir?“ In der Reformierten Kirche in Budapest gibt es
jede Woche Ungarischunterricht speziell für weibliche Geflüchtete und
Migrantinnen. Die Lehrerin malt neun Kästchen an die Tafel, beschreibt sie
mit Wörtern, wischt alles wieder ab. Die Schülerinnen schreiben alles
akkurat auf ihren Arbeitsblättern mit.
Im Gemeinschaftsraum der Kirche duftet es süß nach frischem ungarischen
Gebäck. Die Frauen sitzen oft vor und nach dem Unterricht zusammen. Sie
essen die Köstlichkeiten, die Dóra Kanizsai-Nagy gebacken hat, die Leiterin
der Flüchtlingsmission der Reformierten Kirche. Die Kirche bietet den
Frauen einen Ort, an dem sie sich treffen können, einen Rückzugsort
außerhalb der eigenen vier Wände. Die Kinder spielen im Kinderzimmer
nebenan. Die Unterhaltungen sind eine bunte Mischung aus Ungarisch und
Arabisch.
Im September 2015 war der Ostbahnhof Keleti in Budapest überfüllt mit
Menschen, die aus ihren Heimatländern geflüchtet waren. Die ungarische
Regierung war überfordert, viele mussten mehrere Nächte am Bahnhof
schlafen. Die meisten von ihnen fuhren anschließend weiter nach West- und
Nordeuropa. Ein Großteil kam nach Deutschland. Doch einige wenige
Geflüchtete sind geblieben. Sie versuchen, mit dem ungarischen System
zurecht zu kommen. Die Reformierte Kirche ist eine Anlaufstelle für Hilfe.
An einer Ecke des langen Tisches sitzt Leyla mit Nour, einer neuen
Schülerin, die ihren richtigen Namen nicht nennen möchte. Mit gedämpften
Stimmen erzählen beide von ihrem Weg nach Ungarn.
## Behörden sind überfordert
Nour ist 45 und erst zum zweiten Mal hier. Die Syrerin hat fünf Kinder,
drei Töchter und zwei Söhne. Ihre Kleidung ist schwarz, vom Kopftuch bis zu
den Stiefeln. Seit zwei Monaten lebt Nour gemeinsam mit ihrem Mann in einer
kleinen Wohnung in Budapest. „Bisher haben unsere Familienangehörigen die
Miete übernommen”, erzählt sie. Doch nun stoßen die Verwandten an ihre
finanziellen Grenzen. Nour und ihr Mann wissen nicht, wovon sie allein die
Miete bezahlen sollen. Beide haben keine Arbeit, keine Aufenthaltserlaubnis
und sie sprechen noch kein Ungarisch.
Für Menschen auf der Flucht gibt es in Ungarn viele Schwierigkeiten.
„Flüchtlingsfrauen könnnen ihre Kinder nicht einfach schnell zur Großmutter
bringen, wenn sie krank sind“, sagt Dóra Kanizsai-Nagy. „Sie haben kein
Netzwerk von Unterstützern.“ Auch die Behörden sind schlecht auf die
Neuankömmlinge vorbereitet. „Es gibt kaum Arabisch-Übersetzer in der
Verwaltung“, sagt Kanizsai-Nagy. Schon das kleinste Anliegen der
Geflüchteten wird zur Odyssee.
Mit zwei Töchtern ist Nour ihrem Mann und den Söhnen nach Budapest gefolgt.
Die dritte Tochter ist schwanger in Ägypten zurückgeblieben. Die vier
Kinder, die nach Europa gekommen sind, leben inzwischen in Deutschland, in
einer Flüchtlingsunterkunft nahe der niederländischen Grenze. Nours Mann
möchte in Budapest bleiben. Sie selbst ist hin- und hergerissen.
„Eigentlich will ich nur zurück nach Syrien“, sagt sie. Sie will ihr Leben
mit der Familie so weiterführen, wie es vor der Flucht war. Doch ihr Haus
ist zerstört. Den Laden für Frauenbekleidung, den ihr Mann früher geführt
hat, gibt es nicht mehr. Also bleibt sie in Ungarn und wartet. Nour hofft,
ihre Kinder bald wiederzusehen.
Leyla kommt aus dem Irak. Im Gegensatz zu den meisten Frauen im Raum trägt
die 30-Jährige kein Kopftuch. Ihr schwarzes Haar ist in einem strengen Zopf
nach hinten gebunden. Sie spricht gut Englisch. Seit neun Jahren ist sie in
Budapest.
## Tochter kam staatenlos zur Welt
Damals ist sie ihrem Mann gefolgt, der in Ungarn Informationstechnologie
studiert hatte. Die beiden hatten gehofft, nach dem Studium in den Irak
zurückkehren zu können. „Aber jetzt ist es dort zu gefährlich“, sagt Ley…
Sie sind in Budapest geblieben und haben den Flüchtlingsstatus beantragt.
Beide haben ihn inzwischen bekommen.
Die kleine Familie ist gut in Ungarn integriert. Leylas Mann arbeitet für
eine ungarische Firma. Ihre gemeinsame Tochter geht hier in den
Kindergarten. Und dennoch gibt es viele Hürden in ihrem Leben. Die Tochter
wurde in Ungarn geboren. „In der Geburtsurkunde stand beim Kästchen
‚Nationalität‘ aber nur ein Kreuz“, sagt Leyla. Weil sie und ihr Mann ke…
ungarische Staatsbürgerschaft haben, war das Kind nach der Geburt
staatenlos.
Erst nach dreieinhalb Jahren hartem Kampf konnte die Tochter die irakische
Staatsangehörigkeit annehmen. Nach unzähligen Besuchen bei der Botschaft.
„Und auch das hat nur funktioniert, weil wir noch Familie in Bagdad haben“,
sagt Leyla. Jetzt darf sich die Familie endlich außerhalb Ungarns frei
bewegen.
Die Teestunde ist vorbei. Nour und Leyla stehen auf, auch die anderen
Frauen brechen langsam auf. In einer Woche treffen sie sich wieder. Sie
lernen Ungarisch und bauen ein neues Netzwerk auf. Damit sie sich
irgendwann auch in Europa Zuhause fühlen können.
18 Jan 2016
## AUTOREN
Belinda Grasnick
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
Flüchtlinge
Ungarn
Budapest-Keleti
Budapest
Grüne
Flüchtlingspolitik
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
1989
Schwerpunkt Flucht
Dokumentarfilm
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