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# taz.de -- Kommentar Europäische Union 2016: Jetzt wird abgerechnet
> Der Neoliberalismus siegt: Die EU wird noch kälter und unsozialer, wenn
> „Wettbewerbsfähigkeit“ das oberste Ziel bleibt. Verlierer ist die
> Solidarität.
Bild: Die Sonne geht hinter einer Europa-Statue unter. Wie passend.
Ist das noch unser Europa? Diese Frage stellen sich immer mehr Menschen in
der Europäischen Union. Eurokrise, Griechenlandkrise und Flüchtlingskrise
haben das Vertrauen nachhaltig erschüttert. „Kaltherzig“, „weltfremd“ …
„bürokratisch“ sind die Attribute, mit denen „die da in Brüssel“ bele…
werden. „Gescheitert“ könnte 2016 als neues Negativprädikat hinzukommen.
Denn die EU ist hoffnungslos überfordert. Schon vor der Eskalation der
Krisen war sie keine echte Union mehr. In der Eurokrise fielen die 28
EU-Länder in Geber und Nehmer, Nord und Süd auseinander. In der
Flüchtlingskrise tat sich ein neuer Graben auf, diesmal zwischen West und
Ost. Die Solidarität wurde wohl endgültig begraben.
Schuld seien die nationalen Regierungen, heißt es in Brüssel. Wenn alle
EU-Beschlüsse brav umgesetzt würden, wären die Probleme schnell gelöst.
Doch das greift zu kurz. Die Krise sitzt tiefer, viel tiefer.
Das hat schon die Europawahl 2014 gezeigt, bei der weniger Menschen denn je
ihre Stimme abgaben. Bei den nationalen Wahlen 2015 wurden dann all jene
Parteien abgestraft, die Brüssel die Stange halten. Im Süden setzten sich
linke Parteien durch, die den Austeritätskurs ablehnen.
In Finnland, Frankreich und Polen sind die Rechten auf dem Vormarsch, die
der EU am liebsten den Garaus machen würden. Und in Großbritannien sind die
EU-Gegner bereits so stark, dass sie den „Brexit“, den Austritt, fordern.
Schon im Sommer könnte es so weit sein, wenn Premier David Cameron das
Referendum vorzieht und verliert.
Getragen wird die EU eigentlich nur noch in – und von – Deutschland. Das
heißt aber nicht, dass wir uns zufrieden zurücklehnen könnten. Das deutsche
Europa ist nämlich keine Lösung, sondern Teil des Problems. Das dürfte sich
2016 in aller Schärfe zeigen. Jahrelang hat Deutschland seine Interessen
erfolgreicher verfolgt als alle anderen. Doch nun braucht Angela Merkel
selbst Hilfe – und bekommt sie nicht. In der Flüchtlingskrise steht
Deutschland allein im Regen. Zwar hat die Kanzlerin eine „Koalition der
Willigen“ um sich geschart. Doch außer Österreich zieht niemand wirklich
mit.
## Mangel an Solidarität heimzahlen
Selbst die Türkei, Merkels neuer „Schlüsselpartner“, enttäuscht. Statt n…
wie gefordert die Seegrenze zu Griechenland abzuriegeln, schafft Präsident
Erdoğanneue Flüchtlinge – mit dem Bürgerkrieg in den Kurdengebieten. Wenn
das so weiter geht, wird die Flüchtlingskrise im Frühjahr erneut
eskalieren. Dabei braucht Merkel mehr als jeder andere einen messbares
Sinken der Zahlen.
Die anderen EU-Chefs wissen das nur zu genau. Sie könnten das nutzen, um
Merkel unter Druck zu setzen, sich etwa weiterhin einer europäischen
Quotenregelung verweigern. „It’s paytime“ – jetzt wird abgerechnet – …
es schon seit Wochen in Brüssel. Einige EU-Politiker wollen Merkel ihren
Mangel an Solidarität in anderen Fragen heimzahlen.
Die große Abrechnung könnte aber nicht nur Deutschland treffen. Auch die
Osteuropäer müssen sich hüten. Wenn sie den Bogen überspannen und sich
völlig verweigern, droht ihnen der Entzug von EU-Hilfen. Österreichs
Kanzler Werner Faymann hat schon mit der Kürzung von Subventionen gedroht.
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz könnte sie auf die Tagesordnung
setzen, wenn das EU-Budget überarbeitet wird. Ein Subventionskrieg würde
allerdings den letzten Rest von Gemeinschaftsgeist zerstören. Die große
Abrechnung könnte für die EU zugleich die letzte sein.
## Es könnte noch schlimmer kommen
Dabei hätte es nicht so weit kommen müssen. Hätte man der EU eigene
Finanzmittel gegeben, wie es im EU-Vertrag vorgesehen ist, könnte sie die
Krise viel besser meistern. Brüssel könnte selbst für die Versorgung der
Flüchtlinge aufkommen, Berlin müsste nicht alles allein machen. Doch genau
das Gegenteil ist eingetreten. Gemeinsam mit Cameron hat Merkel 2013 das
EU-Budget zusammengestrichen. Obwohl damals schon absehbar war, dass neue
Aufgaben auf Brüssel warten, wurden die Mittel gekürzt. Das rächt sich nun
– und es könnte noch schlimmer kommen.
Denn wiederum gemeinsam mit Cameron will Merkel der EU eine neue Diät
verordnen. Um den „Brexit“ zu verhindern, sollen die Sozialleistungen für
EU-Bürger eingeschränkt werden. Außerdem sollen alle EU-Staaten auf das
oberste Ziel der „Wettbewerbsfähigkeit“ verpflichtet werden. Europa würde
damit noch kälter und unsozialer. Die neoliberale Ideologie hätte gesiegt,
die Solidarität verloren. Doch das ist der Plan für 2016. Kein Wunder, dass
sich immer mehr Menschen von dieser EU abwenden.
4 Jan 2016
## AUTOREN
Eric Bonse
## TAGS
Neoliberalismus
EU
Europäische Union
Eurokrise
Griechenland
Flüchtlinge
Schwerpunkt Brexit
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Schwerpunkt Flucht
EU-Austritt
Flüchtlinge
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