# taz.de -- Meteorologe über milden Winter: „Das ist eine Anomalie im Chaos�… | |
> Im Dezember strömte kanarische Warmluft bis nach Sibirien. Warum? Der | |
> Meteorologe Andreas Friedrich weiß, was das mit dem Klimawandel zu tun | |
> hat. | |
Bild: „Es lässt sich nicht alles erklären“: Sonnenuntergang auf dem Krons… | |
taz: Herr Friedrich, Sie sind im Stress, weil sich gerade alle über das | |
komische Wetter wundern? | |
Andreas Friedrich: Ja, momentan klingelt bei uns ständig das Telefon. | |
Weltweit kommen verschiedene extreme Wetterereignisse zusammen. Die Medien | |
transportieren das sofort in die Wohnzimmer, und die Leute wollen wissen, | |
was los ist. | |
Dann erklären Sie mal, was los ist. | |
Da kommen mehrere Komponenten zusammen, die leider in den Medien schnell | |
vermengt werden. Da wäre die Klimaerwärmung, die ist nachgewiesen. Wir | |
haben in Deutschland eine Erwärmung im Schnitt von einem bis 1,2 Grad im | |
Vergleich zur vorindustriellen Zeit. | |
Aber an Weihnachten war es doch deutlich mehr? | |
Das eine Grad müssen Sie ohnehin auf alles draufsatteln. Dazu kommen die | |
Großwetterlagen, die können im Dezember Temperaturunterschiede von zehn | |
Grad haben. Momentan erleben wir eine extrem milde Witterung, so nennen wir | |
Meteorologen das Wetter innerhalb von zwei, drei Wochen. Das hat nichts mit | |
Klima zu tun, das beschreibt den Trend binnen zwanzig oder dreißig Jahren. | |
Momentan haben wir eine Anomalie, eine ungewöhnliche Großwetterlage, die | |
sich seit Wochen festgebissen hat. Das muss man von Klima trennen. | |
Und dazu kommt dann das Christkind. | |
Ja, El Niño, spanisch für das Christkind. Dieses Wetterphänomen tritt in | |
der stärksten Ausprägung oft um die Weihnachtszeit auf: Alle sieben bis | |
neun Jahre gibt es eine Anomalie der Oberflächentemperatur des Pazifik, | |
weil sich Meeresströmungen verschieben. Warum das so ist, ist noch nicht | |
richtig erforscht. In diesem Jahr ging es schon im Sommer los, einer der | |
stärksten El Niños seit 50 Jahren. | |
Hängt das alles global zusammen? | |
El Niño hält laut aktuellen Prognosen bis in den Sommer an. Das führt zu | |
extrem starken Niederschlägen und Überschwemmungen in Teilen von | |
Südamerika. Die Auswirkungen sind bis nach Kalifornien zu spüren, auch dort | |
kann es zu Starkniederschlägen kommen. In Australien und Indonesien ist es | |
dagegen zu trocken, das führt zu Waldbränden. In Kanada oder Europa hat El | |
Niño dagegen keinen wesentlichen Einfluss mehr. Viel stärker wirkt die | |
Großwetterlage, die sich hier eingespielt hat. Warum wir nun seit Anfang | |
November eine Wetterlage haben, die uns Warmluft aus den Kanaren bis nach | |
Sibirien reinbläst – keine Ahnung. Das ist eine Anomalie im chaotischen | |
System der Erde. Es lässt sich nicht alles erklären. | |
Kanarenluft hier und El Niño in Südamerika treten zufällig zusammen auf? | |
Während des letzten starken El Niño hatten wir hier einen knackigen Winter. | |
Das passt nicht zu den milden Temperaturen momentan. Bisher gibt es keine | |
Nachweise, dass El Niño hier signifikante Auswirkungen hat. | |
Jetzt haben Sie all diese Supercomputer und können immer noch nicht die | |
Erde simulieren? | |
Leider oder Gott sei Dank ist das so. Wir haben es schwerer als die | |
Astronomen. Die können die Sonnenfinsternis 2078 auf die Minute genau | |
vorhersagen. Wir Meteorologen kennen den Anfangszustand des Systems nicht. | |
Wir beginnen mit einem Fehler zu rechnen. Für eine perfekte Vorhersagen | |
müssten wir weltweit – über den Polen, den Meeren, den Wüstengebieten – | |
etwa alle zehn Kilometer eine Wetterstationen haben, die am Boden und mit | |
Ballons bis 30 Kilometer Höhe einen exakten Zustand der Atmosphäre liefert. | |
Dann wären wir aber auch nicht am Ziel. Die Gleichungssysteme sind nur | |
Näherungen, wir können nie exakt rechnen. Die Fehler nehmen mit der | |
Vorhersagezeit zu. Das ist nicht die fehlende Weisheit der Wissenschaftler. | |
Die Atmosphäre ist einfach ein chaotisches System. | |
Aber Sie können in die Vergangenheit blicken. Wann war es denn am Nordpol | |
das letzte Mal so warm wie jetzt? | |
Da liegt mir keine Statistik vor. Aber es ist falsch, was ich da immer | |
höre, es hätte da jetzt Plustemperaturen. Momentan sind es am Nordpol minus | |
9 bis minus 15 Grad. Lediglich an einem Gebiet nördlich von Spitzbergen | |
haben wir positive Temperaturen. Da waren es plus 7 Grad – weit nördlich | |
des Polarkreises. Das ist schon extrem und selten. | |
Beschreiben Sie doch mal die Großwetterlage. | |
Wir haben auf dem Atlantik ein riesiges Tiefdruckgebiet. Die FU Berlin hat | |
es gerade „Eckard“ getauft. Das liegt mit 935 Hektopascal heute Nacht | |
südlich von Island und erstreckt sich runter bis zur Insel Madeira westlich | |
von Marokko, nördlich geht es bis zum Nordpol. Als Gegenpart braucht es | |
noch ein Hochdruckgebiet. Das heißt „Christine“ und liegt südwestlich von | |
Helsinki. Sehr kräftig, 1.045 Hektopascal. | |
Das heißt? | |
Das heißt Wind, weil sie eine starke Luftdruckdifferenz haben. Die | |
Luftmassen um ein Tiefdruckgebiet drehen sich auf der Nordhalbkugel gegen | |
den Uhrzeigersinn, bei einem Hochdruckgebiet mit dem Uhrzeigersinn. Dadurch | |
gibt es dazwischen eine sehr starke südliche, südwestliche Luftströmung. | |
Deshalb gelangt warme Luft von den Kanarischen Inseln bis nach Grönland und | |
Sibirien. Die kommt sonst nicht nach da oben. | |
Bis wann können Sie denn nun seriöse Vorhersagen treffen? | |
Eine Woche geht in der Regel ganz gut für eine tagesgenaue Vorhersage für | |
einen Ort oder eine Region. Ein Trend geht 10 bis 14 Tage. Das ist das Ende | |
der Fahnenstange. Darüber hinaus werden die Fehler zu groß. | |
Deprimiert Sie das? | |
Nein. Meine Nachfahren werden das Wetter auch nicht über Monate vorhersagen | |
können. Das muss man akzeptieren und das macht die Arbeit so spannend. Wir | |
müssen jeden morgen bei null anfangen. Sonst wäre es doch langweilig. | |
1 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arzt | |
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