# taz.de -- Präsidentschaftswahl in Haiti: Entscheidung im Hinterzimmer | |
> Die Stichwahl für die Präsidentschaft ist auf unbestimmte Zeit verschoben | |
> worden. Vieles deutet darauf hin, dass das Ergebnis vorher schon | |
> feststeht. | |
Bild: Noch ist Michel Martelly Präsident Haitis | |
Berlin taz | „In der haitianischen Spielart der Demokratie werden Wahlen in | |
kleinen Zimmern entschieden, in denen nur wenige oder gar keine Haitianer | |
anwesend sind“, sagt die haitianische Literatin Edwidge Danticat. So war | |
das, als vor fünf Jahren der Schlagersänger Michel Martelly zum Präsidenten | |
erwählt wurde. Vieles deutet darauf hin, dass sein Nachfolger auf ähnlichem | |
Weg ins Amt kommen wird. Die dafür nötige Stichwahl wurde vom 27. Dezember | |
auf irgendwann im Januar verschoben. | |
Zum ersten Wahlgang am 25. Oktober waren 54 Kandidatinnen und Kandidaten | |
angetreten. Zwei Wochen später gab der provisorische Wahlrat ein | |
vorläufiges Ergebnis bekannt. Danach seien Jovenel Moïse mit 32,8 Prozent | |
der Stimmen auf dem ersten und Jude Célestin mit 25,3 Prozent auf dem | |
zweiten Platz gelandet und somit in der Stichwahl. | |
Moïse, ein bislang politisch inaktiver 47-jähriger Agrarunternehmer mit dem | |
Spitznamen „Nèg Bannan“ (Bananenmann), war von Präsident Martelly zum | |
Kandidaten seiner Partei bestimmt worden. Die heißt im haitianischen Kreol | |
„Tèt kale“ (Glatzkopf), weil Martelly seinen Schädel kahl rasiert. | |
Der Präsident und sein Ziehsohn pflegen freundschaftliche Beziehungen zu | |
den Köpfen der rechten Todesschwadrone der 1990er Jahre. Der eher links | |
orientierte 53-jährige Célestin, der für die „Alternative Liga für | |
Entwicklung und Emanzipation in Haiti“ antritt, war unter Expräsident René | |
Préval Chef der staatlichen Baufirma und hat als solcher ein paar tausend | |
Arbeitsplätze im Straßen- und Wohnungsbau geschaffen. | |
## Ein ungewöhnliches Ergebnis | |
Schon bei der Wahl 2010 hatte Célestin in der ersten Runde den zweiten | |
Platz belegt, durfte aber trotzdem nicht an der Stichwahl teilnehmen. Knapp | |
hinter ihm lag damals Martelly. Der schrie „Betrug!“ und schickte seine | |
Anhänger zu gewaltsamen Demonstrationen auf die Straße. | |
Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und die damalige | |
US-Außenministerin Hillary Clinton intervenierten. Sie setzten durch, dass | |
ein Teil der Wahlurnen noch einmal ausgezählt wurden. Danach wurde zwar | |
kein neues Ergebnis bekannt, aber trotzdem wurde in Hinterzimmern bestimmt: | |
Nicht Célestin, sondern Martelly nimmt an der Stichwahl teil. | |
Diesmal sind es Célestin und mit ihm sieben weitere unterlegene Kandidaten, | |
die das Ergebnis der ersten Wahlrunde wegen „massiven Betrugs“ nicht | |
anerkennen. Tatsächlich kam es auf ungewöhnliche Art zustande: Nach | |
offiziellen Angaben haben 1,5 Millionen Menschen gewählt. 900.000 von ihnen | |
aber waren vom als US-hörig geltenden Wahlrat als Helfer oder Beobachter | |
angestellt. | |
Sie haben den Urnengang entschieden und Martellys vorher unbekannten | |
Kandidaten zum Favoriten gemacht. Mit dem neoliberalen Präsidenten hatten | |
die USA trotz massiver Korruptionsvorwürfe gut zusammengearbeitet. Sollte | |
sein handverlesener Nachfolger gewinnen, könnte dies als „Zeichen der | |
Stabilität“ in einem unruhigen Land verkauft werden. | |
## Die meisten Haitianer sind mit dem Überleben beschäftigt | |
Célestin hat den Wahlkampf eingestellt und fordert eine Wiederholung der | |
ersten Runde – Grund für die Verschiebung des zweiten Urnengangs. Zunächst | |
soll ein vom Präsidenten eingesetztes Gremium das Ergebnis des ersten | |
Wahlgangs überprüfen. Célestin konnte das nicht besänftigen. In der | |
Überprüfungskommission, sagt er, säßen nur Handlanger des Präsidenten und | |
seines Kandidaten. | |
Die Probleme der Bevölkerung spielen bei dem Gezänk keine Rolle: Im Land | |
grassiert die von UN-Blauhelmen eingeschleppte Cholera; sechs Jahre nach | |
dem Erdbeben in der Hauptstadtregion leben noch immer rund 100.000 Menschen | |
in Zeltstädten; neue provisorische Lager an der Grenze zur Dominikanischen | |
Republik sind dazugekommen, weil die dortige Regierung papierlose | |
haitianische Einwanderer und deren Nachkommen ausweist. Die große Mehrheit | |
der Haitianer ist mit dem Überleben vollauf beschäftigt. Mit Moïse wird | |
ohnehin alles beim Alten bleiben. Célestin hat immerhin ein paar | |
Arbeitsplätze bei staatlichen Bauvorhaben versprochen. | |
Mit einem Sieg aber rechnet nicht einmal Célestin selbst. Er erwägt | |
vielmehr einen Boykott der Stichwahl. Richard Morse, Martellys Vetter und | |
dessen ehemaliger Sonderbotschafter in Washington, geht davon aus, dass das | |
Ergebnis ohnehin schon feststeht. Über den Kurznachrichtendienst Twitter | |
mutmaßte er: „Wahrscheinlich hat der Wahlrat die Stimmen der Stichwahl | |
schon ausgezählt.“ Deshalb gehen örtliche Zeitungen von einer Beteiligung | |
von kaum mehr als zehn Prozent aus. | |
28 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Toni Keppeler | |
## TAGS | |
Haiti | |
Haiti | |
Haiti | |
Haiti | |
Haiti | |
Karibik | |
sexueller Missbrauch | |
Schwerpunkt Flucht | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Vor der Präsidentschaftswahl in Haiti: Im Zeichen des Wirbelsturms | |
Zur Wahl stehen 27 Kandidaten. Doch angsichts der humanitären Katastrophe | |
nach „Matthew“ hat die Bevölkerung existentiellere Sorgen. | |
Präsidentschaftswahl in Haiti: Politisches Machtvakuum im Loop | |
Das Mandat des Übergangspräsidenten wird nicht verlängert, weil sein | |
Vorgänger sich dagegen stellt. Ein Nachfolger ist nicht in Sicht. | |
Haiti ohne Regierung: Sie haben keine Wahl | |
Es sollte längst einen neuen Präsidenten geben. Gibt es aber nicht – immer | |
wieder wurde die Wahl verschoben, zuletzt im April. | |
Schwere Ausschreitungen in Haiti: Seit einem Jahr wird gewählt | |
Die Präsidentschaftswahl in Haiti wurde wegen Sicherheitsbedenken erneut | |
verschoben. Danach kam es in der Hauptstadt zu schweren Ausschreitungen. | |
Zwei Filme aus Haiti: Eine Welt, in der noch alles zittert | |
Ein Eifersuchtsviereck im Zeichen des Erdbebens, der Politikbetrieb als | |
absurde Ballettaufführung: „Mord in Pacot“ und „Moloch Tropical“. | |
Geflüchtete in Dominikanischer Republik: Bitterer Zucker in der Karibik | |
Gut 6 Dollar am Tag und eine Hütte im Zuckerrohrfeld: Haitianische | |
Tagelöhner werden in der Dominikanischen Republik wie Sklaven behandelt. | |
Ermittlungen gegen UN-Blauhelmsoldaten: Missbrauchsvorwürfe ignoriert | |
Die UN wollen von Blauhelmsoldaten begangenen sexuellen Missbrauch | |
konsequenter verfolgen. Die Mitgliedsländer ziehen nicht mit. | |
Dominikanische Republik und Flüchtlinge: Wer keine Papiere hat, muss raus | |
Der Stichtag für Haitianer im Nachbarland ist vorbei: Ohne | |
Aufenthaltsgenehmigung geht’s ab nach Hause. Eine humanitäre Katastrophe | |
droht. |