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# taz.de -- Integration von Migranten in der Stadt: Sind Großsiedlungen böse?
> Hochhaussiedlungen sind umstritten, gelten als Orte ohne Perspektive.
> Dabei müssten viele Wohnungen gebaut werden. Aber wie?
Bild: Ist Hochhaussiedlung immer ein Ghetto? Der Berliner Stadtteil Marzahn im …
Berlin taz | In Neuperlach war es möglich zu leben und zu sterben, ohne
jemals einen Fuß in die Münchner Innenstadt gesetzt zu haben. Die
Satellitenstadt von 1967 auf der grünen Wiese im Südosten Münchens
errichtet, war unser Gefängnis; die Türen standen zwar offen, jedoch kam
niemand auf die Idee, hinaus zu treten. Denn da draußen wollte uns niemand
haben - München hatte uns nicht richtig sozialisiert. So fühlte es sich für
uns, die Kinder und Jugendlichen aus Neuperlach, zumindest an.
Als wären wir ein notwendiges Übel. Unsere Eltern und Großeltern schweißten
Chips bei Siemens, montierten Autos in der Werkshalle von BMW oder putzten
Büros.
Nie würden sie in den Boutiquen an der Maximiliansstraße einkaufen, durch
Alt-Schwabing flanieren, im Englischen Garten Enten füttern. Neuperlach lag
am Stadtrand, an der Peripherie Münchens. Eine U-Bahn-Anbindung gibt es -
15 Minuten zum Hauptbahnhof, aber verbunden fühlten wir uns nie.
Umgekehrt sah es ähnlich aus: Unseren Plattenbau-Charme wollte kein
Münchner sehen. Der Ostpark, ein Chaos aus spielenden Kindern, Vätern, die
Lammkoteletts grillten, und tratschenden Omis war Münchnern aus Nymphenburg
oder Haidhausen suspekt. Zu anders, diese Hochhäuser am Rande der Stadt.
## Identifikation gescheitert
Aber gerade deswegen identifizierten wir uns sehr stark mit unserem
Viertel. Die alte Postleitzahl 83 trugen wir auf T-Shirts oder schmierten
sie an Wände - NPL 83, wie eine Marke.
Es war unser Viertel - mit all unseren Freunden, Bolzplätzen,
Schleichwegen, Blockhäusern und den Nachbarn, die von überall her kamen.
Aber wir definierten uns nicht über Herkunftsländer sondern darüber, wo wir
jetzt lebten. Neuperlach vereinheitlichte Flüchtlinge aus Eritrea,
Gastarbeiterkinder aus der Türkei und deutsche Roma. Wir alle waren NLP 83.
Eine ähnliche Geschichte erzählt taz-Redakteurin Jasmin Kalarickal in der
aktuellen taz.am wochenende. Sie ist im Bonner Stadtteil Neu-Tannenbusch
aufgewachsen, eine Hochhaussiedlung am Stadtrand. Für den Spiegel eine
Hochburg der Islamisten in Nordrhein-Westfalen, für das ARD-Magazin Monitor
das deutsche Molenbeek - für Kalarickal aber einer der schönsten Orte der
Welt.
## Hochaussiedlungen unter Verdacht
Nach den Anschlägen in Paris sind Hochhaussiedlungen am Stadtrand wieder
Thema. Sie stehen im Verdacht Radikalisierung zu befördern, Islamisierung.
Und es stimmt ja auch: Marco G. wohnte in Tannenbusch, der Konvertit soll
einen Anschlag auf den Bonner Hauptbahnhof geplant haben; Pierre Vogel trat
als Prediger in dem Viertel auf, der Mann mit dem roten Spitzbart, der als
Schlüsselfigur der deutschen Salafisten gilt.
Aber ist es so einfach, sind Hochhaussiedlungen per se schlecht, machen sie
Menschen zu Radikalen? Und wenn jetzt schnell viele Wohnungen gebaut werden
müssten - auch für Flüchtlinge und ihre Familien -, sind dann Hochhäuser
potentiell gefährliche Orte?
## „Das Gebäude ist nie schuld“
Für Stadtsoziologin Talja Blockland, die als Professorin an der
Humboldt-Universität zu Berlin lehrt, sind Plätze wichtig, an denen
Menschen unterschiedlicher Milieus aufeinandertreffen können. Solche Orte
seien ausschlaggebend dafür, wie schnell auch fremde Menschen in eine Stadt
integriert werden können. Und dabei sei es egal, ob es eine Hochhaus- oder
Einfamiliensiedlung ist. „Es ist nicht wichtig nebeneinander zu wohnen“,
sagt die Wissenschaftlerin, „sondern, ob man in den gleichen Läden
einkauft, auf den gleichen Plätzen die Freizeit verbringt“.
Auf die Mischung kommt es an, sagt Blokland; auch der Wohlstand dürfe sich
nicht isolieren, um ein funktionierendes Miteinander zu erzeugen: „Wenn man
mit dem SUV in die Oper fährt, den Muckiverein oder Golfclub und sich
danach in seine Insel der Glückseligkeit, in sein Wohlstands-Viertel
zurückzieht, dann wird das die Stadtintegration nicht fördern.“
Die Zukunft Deutschlands entscheidet sich auch darin, wie Migranten in eine
Stadt integriert werden, ob sie willkommen geheißen oder isoliert werden,
gerade jetzt angesichts der hunderttausend geflohenen Menschen, die als
anerkannte Flüchtlinge bald auch ihre Familienmitglieder nachholen werden.
Aber wie kann Stadtplanung dazu beitragen, dass Integration gelingt?
## Stadtsoziologin: „Platz ist da.“
Ist es so einfach: Wo Wohnungen oder Büroflächen leerstehen, können
Menschen angesiedelt und integriert werden? Nein, sagt die Stadtsoziologin
Ingrid Breckner von der Hafencity-Universität in Hamburg im Interview mit
der taz.am wochenende.
In der Hafencity, also gleich neben ihrem Büro, wäre etwa jede Menge Platz.
Wohnungen stehen leer, Büroräume auch. Aber, sagt Breckner, „die Bewohner
der Hafencity in Hamburg sind meist beschäftigte Leute, die keine Zeit
haben, die an unterschiedlichen Standorten dieser Welt arbeiten oder auch
wohnen. Das ist kein gutes Setting“.
Besser seien gewachsene Stadtteile mit einer relativ stabilen Bevölkerung,
die Zeit und Geld haben, um sich um die Menschen zu kümmern. Gute
Erfahrungen habe man in Hamburg-Duvenstedt gemacht, in Blankenese und
Rissen. Alles wohlsituierte Stadtteile, in denen sich aber die Reichen
nicht abschotten, sondern durch ehrenamtliche Hilfe dafür sorgen, dass sich
Migranten bei ihnen angenommen fühlen. Breckner würde auch neue Hochhäuser
nicht sofort ablehnen. Sie sagt: „Das Gebäude ist nie Schuld.“ Sondern
Perspektiven, die fehlen.
Was also muss geschehen, damit Menschen auf der Flucht in unsere Städte
integriert werden? Damit nicht das entsteht, wovor diffuse Ängste
existieren: anonyme Siedlungen, ghettoartig, in denen es an Miteinander
mangelt. Wie muss die Stadt der Zukunft ausschauen, damit miteinander leben
möglich ist?Diskutieren Sie mit! Die Titelgeschichte „Mein Block“ von
Jasmin Kalarickal und das Interview mit Stadtsoziologin Ingrid Breckner
lesen Sie in der taz.am wochenende vom 5./6. Dezember 2015.
5 Dec 2015
## AUTOREN
Baran Datli
## TAGS
Stadtplanung
Islamismus
Radikalisierung
Hamburg
Glück
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt Frankreich
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