# taz.de -- Nach de Maizières Beruhigungsversuch: Angst! Angst? | |
> Die Äußerung des Innenministers hat die einen in Panik versetzt. Andere | |
> reagieren mit trotzigem Rationalismus. | |
Bild: Beruhigende Gesten: De Maizière (M) versucht es mit Streicheleinheiten. | |
Angst? Ja. | |
Heute morgen hat sie mich gekriegt. Die Terrorangst. Es war halb sieben, | |
ich lag warm in meinem Bett und dachte darüber nach, ob es sehr wehtun | |
wird, wenn ich heute vielleicht sterbe. Es war Tag fünf nach Paris und der | |
Morgen nach dem Abend, an dem der Bundesinnenminister die Frage nach der | |
tatsächlichen Bedrohungslage mit folgendem Satz beantwortet hatte: „Ein | |
Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“ | |
Die Bevölkerung, das bin dann wohl ich. Und ja, danke, ich bin | |
verunsichert. Heute noch mehr als gestern. Seit Paris weiß ich wieder | |
einmal ganz sicher, wozu Terroristen fähig sind. Und seit der Antwort des | |
Innenministers kann ich sicher sein, dass da tatsächlich etwas ist, was | |
mich und die Meinen akut bedroht. Es muss sehr groß sein und | |
unaussprechlich grausam. Dass Thomas de Maizière mir dieses Wissen nicht | |
zutraut, mag gut gemeint sein. Es würde alles noch schlimmer machen. Das | |
Problem ist das Andeuten. Es wäre besser gewesen, denke ich, wenn er diesen | |
Satz gar nicht erst ausgesprochen hätte. | |
An diesem Mittwochmorgen habe ich richtig Angst. Angst, zu sterben. Angst, | |
diese trotz allem unheimlich schöne Welt verlassen zu müssen. Angesichts | |
der Ereignisse der letzten Tage – all der Toten und Verletzten, der Tränen | |
und der Trauer, aber auch der Mitleidlosigkeit der Täter – kriecht sie mich | |
wieder an und krallt sich fest. | |
Ich stehe auf und mache mich bereit für einen neuen Arbeitstag. Ich spüre, | |
wie meine Augen brennen und dass meine Schultern schlaff sind. Ich drücke | |
sie durch und wähle die Stiefel mit den Absätzen. | |
Ich gehe aus dem Haus und denke: Verdammt, bleibt das jetzt so? Die Antwort | |
kenne ich schon: Nein, das bleibt nicht so. | |
Ich habe ja Erfahrungen mit der Terrorangst. Ich kenne sie. Sie ist etwas | |
anderes als all die kleinen Beklemmungen, die hin und wieder einen | |
mitteleuropäischen Alltag zerklüften. Denn: sie ist nur destruktiv. Weil | |
sie mich nicht wütend macht oder kämpferisch, wie andere Ängste das | |
vermögen. Ironie ist unmöglich. Ich weiß das, denn wir, die Terrorangst und | |
ich, wir kennen einander seit Langem. | |
Es ist gleichgültig, woher sie kommt – ob aus New York oder Madrid, aus | |
Nairobi, London oder jetzt wieder aus Paris. Sie hat mich aus Gaza erreicht | |
und aus Jerusalem. Und einmal, das ist schon elf Jahre her, hat die Angst | |
mich fast kleingekriegt. Das war, als in der Grundschule von Beslan im | |
fernen Kaukasus 331 Menschen starben. Fast vergessen scheinen die Bilder | |
der ausgezehrten Kinder, die nach drei Tagen Geiselhaft über die Leichen | |
ihrer Mitschüler hinweg ins Freie torkelten. Nach Beslan bat ich in der | |
Redaktion um andere Themen. Ich bekam sie. | |
Seither schaue ich die Terrorangst direkt an, wenn sie kommt. Ich tue nicht | |
mehr so, als wäre sie nicht da. Aus Erfahrung weiß ich: Sie geht vielleicht | |
nicht weg. Aber sie verändert sich. Man kann sich sogar in ihr einrichten. | |
Das ist meine Strategie: Zeit geben. Die naheliegende Frage nach der | |
weitaus berechtigteren Angst anderer auf dieser Welt stellen. Einen Text | |
schreiben. Das kann funktionieren. In Bezug auf den Satz des Innenministers | |
tut es das – noch – nicht. | |
Dabei hat Thomas de Maizière auch eine ganze Menge richtig gemacht. Der | |
Minister für die inneren Angelegenheiten dieses Landes hat seinen Apparat | |
offenbar so weit im Griff, dass Tausende Besucher eines Fußballspiels | |
geordnet eine Gefahrensituation verlassen können, ohne dass Menschen sich | |
in Panik gegenseitig tottrampeln. Aber der Glaube an eine Art allmächtigen | |
Innenminister – an Politik als steuerfinanzierten Schutzapparat zu Diensten | |
jedes einzelnen Bürgers –, dieser Glaube wäre naiv. Und naiv bin ich nicht. | |
Ich habe einfach schon ein bisschen zu viel gesehen, um mir zu wünschen, | |
Thomas de Maizière möge mir tatsächlich im Detail seine grausigen | |
Erkenntnisse offenbaren. Aber wirklich Angst macht es doch, sich in | |
Andeutungen zu ergehen. So was macht Terrorangst. Die hatte ich auch schon | |
zuvor. (Anja Maier) | |
## Angst? Nein. | |
Ich sitze in meinem Sessel, als eine jähe Detonation die Wände meiner | |
Wohnung vibrieren lässt. Paris. Schwarz gekleidete junge Männer. Rucksäcke | |
voller Tötungsutensilien. Einsatzkräfte, Soldaten, Sirenen. Stroboskopartig | |
sind da diese Bilder in meinem Kopf. Dann ist mir klar, dass unten wieder | |
ein junger Mensch – vermutlich mit Migrationshintergrund – einen | |
osteuropäischen Böller hochgehen ließ. Illegal. Aber egal, denn ich wohne | |
in Berlin-Gesundbrunnen. Auf dem Bürgersteig sehe ich häufig Patronenhülsen | |
von den Schreckschusspistolen. | |
Einen Tag später sage ich im Scherz, dass hier garantiert kein Anschlag | |
stattfinden wird. Im Migrantengetto. Junge Menschen, die Grüne wählen, | |
ziehen weg aus meinem Problembezirk, wenn die Kinder schulpflichtig werden. | |
Dabei ließe sich Integration hier so schön üben. Dass ich bei einem Knall, | |
den ich häufiger höre, über Terror nachdenke, ist eine Folge der | |
Ereignisse, die mit einem Notstandsdauersound versehen werden. Es sind mir | |
fremde Gedanken und Bilder, die ich nur aus dem Fernsehen kenne. Terror | |
musste ich nie erleben, aber gegen diese Bilder kann sich niemand wehren. | |
Der Umgang damit muss geübt werden. Das lehren die Anschläge von Paris. | |
Wir dürfen uns nicht an Militärs in Innenstädten als vermeintlich | |
notwendiges Übel gewöhnen. Die Fahrt in der überfüllten U-Bahn: löst sie | |
ein mulmiges Gefühl aus? Nein. Aber ein Innenminister, der sagt, er wolle | |
niemanden verunsichern, aber dieses Gefühl rhetorisch erzeugt, indem er vor | |
etwas so Monströsem warnt, dass er es nicht einmal aussprechen kann? – Das | |
sollte Menschen, die Demokratie mögen, hellhörig machen. Wenn der Moderator | |
im ZDF-“heute journal“ an uns BürgerInnen appelliert, wir sollten das | |
Geschwurbel des tapferen Herrn Ministers so hinnehmen, nationales Pathos in | |
der Stimme, die Einheit von Regierung und Bevölkerung beschwörend: so etwas | |
verursacht mir Schmerzen, kein Terrorist. „Wir gegen die“ bedeutet dieser | |
Reflex, der Ursachen vernebelt und der hier das journalistische Immunsystem | |
außer Kraft setzt. Dagegen müssen wir uns wehren! | |
Menschen im Ausnahmezustand lassen sich leichter regieren. Das ist derzeit | |
die reale Gefährdung. | |
Die Süddeutsche Zeitung schrieb: „30.000 IS-Kämpfer lassen sich nicht | |
totstreicheln“. Der Autor kritisiert unsere „Wohlfühlgesellschaft“, die | |
noch aus ihrem Schlaf erwachen werde. Droh, droh! Er fordert einen weitaus | |
„stärkeren polizeilich-geheimdienstlichen“ Einsatz und fabuliert, „dass | |
militärische Gewalt manchmal das einzige Mittel ist“. Frei von Empirie | |
behauptet dieser Weltverklärer gar: „Nach dem 11. September 2001 war der | |
Angriff auf Osama bin Laden und seine Al-Qaida-Truppe zwingend.“ | |
Lüge ist Wahrheit, und Paris hat nichts verändert. Die Russen bomben | |
weiter. Die US-Amerikaner scheren sich immer noch nicht um die Flüchtlinge, | |
sie töten weiterhin ferngesteuert Menschen mit Drohnen und erzeugen jenen | |
Hass, den sie erneut mit Militär bekämpfen. Der Irakkrieg verursachte erst | |
die Professionalisierung der IS-Kämpfer, als sich zu den radikalen | |
Islamisten auch frühere Militärs der Baath-Partei hinzugesellten. Die | |
Amerikaner machten nach dem 11. September mit Guantánamo das Modell der | |
Demokratie lächerlich und erzeugten eine globale und unkontrollierte | |
Überwachungsmaschine, die sie in sämtliche Demokratien exportierten. | |
Doch die Überwachungsdemokratie konnte diese Anschläge nicht verhindern. | |
Und globale Überwachung lässt sich schwer steigern. Wir lassen uns | |
einreden, der Rechtsstaat sei ein Ding für bessere Zeiten, eine Art | |
Luxusgut. Diese Logik bedeutet: Wichtiger als Freiheit und Rechtsstaat ist | |
die Sicherheit. | |
Mit dem Zerfall des Ostblocks, dachten wir, hätte die Demokratie gesiegt | |
und das Ende der Geschichte sei erreicht, doch das war eine Verwechslung. | |
Unsere Demokratie liegt so geschwächt darnieder, wie ich es nie zuvor | |
erlebt habe. Um sie müssen wir tatsächlich Angst haben. (Kai Schlieter) | |
19 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Anja Maier | |
Kai Schlieter | |
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