| # taz.de -- Missbrauch in Haasenburg-Heimen: Leider verjährt | |
| > Mehrere Verantwortliche der Haasenburg-Heime stehen vor Gericht. Aber | |
| > viele Vorwürfe sind verjährt – weil oberflächlich ermittelt wurde. | |
| Bild: Hier wird über Unrecht geurteilt (wenn man es nicht verjähren lässt): … | |
| Hamburg taz | Zwei Jahre nachdem die Brandenburger Jugendministerin Martina | |
| Münch (SPD) drei Erziehungsheime der Haasenburg GmbH in ihrem Bundesland | |
| dicht machte, wird am Dienstag der dritte – und womöglich letzte – Prozess | |
| gegen einen Mitarbeiter vor dem Amtsgericht Lübben verhandelt. Der Erzieher | |
| soll im Frühjahr 2013 mit einer Minderjährigen Sex gehabt haben. | |
| Insgesamt hat es in bis zu 50 Fällen Ermittlungen gegen Erzieher in den | |
| drei Heimen gegeben. Protokolle, die der taz vorliegen, zeigten etwa, dass | |
| zwei Mädchen von Betreuern der Arm gebrochen wurde. Jugendliche wurden auf | |
| Liegen festgeschnallt. Das Mädchen Lena*, das 2008 aus dem Fenster stürzte | |
| und starb, war zuvor gezwungen worden, Helm, Knie- und Armschützer zu | |
| tragen. | |
| Wie steht es nun mit der juristischen Aufarbeitung dieser Vorfälle? Werden | |
| die Verantwortlichen vor Gericht gestellt? | |
| Bislang scheint es so, als ob die Cottbusser Staatsanwaltschaft nicht | |
| vorhabe, weitere Strafverfahren zu eröffnen: „Wir haben die Masse der | |
| Verfahren jetzt abgearbeitet“, sagt Petra Hertwig, Oberstaatsanwältin und | |
| Sprecherin der Cottbusser Staatsanwaltschaft. „Weitere Anklagen haben wir | |
| nicht.“ Begründung: In manchen Fällen habe es zwar durchaus den Tatvorwurf | |
| der Körperverletzung gegeben, diese Fälle seien aber verjährt, da solche | |
| Delikte binnen fünf Jahren nach der Tat vor Gericht kommen müssten. | |
| Eine längere Verjährungsfrist – zehn Jahre – besteht beim Vorwurf der | |
| „Misshandlung von Schutzbefohlenen“. Dafür müsse man „die Überschreitu… | |
| der Grenze zum richtigen Quälen nachweisen“. Dies habe man nicht belegen | |
| können. Um Anklage zu erheben, brauche man eine Verurteilungschance von 51 | |
| Prozent. Hertwig: „Die haben wir nicht.“ | |
| Das sehen allerdings nicht alle Juristen so: Der Hamburger Anwalt Carsten | |
| Gericke etwa ist überzeugt, dass die Staatsanwaltschaft Cottbus nicht alles | |
| getan hat, um den Fall seines 19-jährigen Mandanten Philipp Sandmann* | |
| aufzuklären. | |
| Gericke reichte im August dieses Jahres Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die | |
| zuständige Staatsanwältin ein. Seine Kritik: Bei den Ermittlungen der | |
| Cottbusser Behörde seien nicht einmal Zeugen vernommen wurden. Die Akten | |
| lagen vor „und es passierte nichts“, sagt er. | |
| ## Im Sinne dieser Norm | |
| Philipp Sandmann kommt zwölfjährig in eines der Haasenburg-Heime, weil die | |
| Mutter mit dem Kind überfordert ist. Er erinnert sich an die Zeit mit | |
| Schaudern. Wie Lena* wird er gezwungen, Helm, Knie- und Armschützer zu | |
| tragen – auch in der Nacht. | |
| Als Philipp 13 Jahre alt ist, wird er regelmäßig von mehreren Erwachsenen | |
| wie ein Terrorist auf den Boden gedrückt. Sie drehen ihm die Arme auf den | |
| Rücken, bis er vor Schmerzen schreit. Seine Mutter Esther Sandmann* sagt: | |
| „Ich habe das aufgeschürfte Gesicht bei einem Besuch gesehen.“ | |
| Im August 2013 stellt sie Strafanzeige. Anfang April 2015 erhält sie von | |
| der Staatsanwaltschaft den Bescheid, dass das Verfahren eingestellt wird, | |
| die Vorwürfe seien verjährt. Anwalt Gericke legt Dienstaufsichtsbeschwerde | |
| gegen die Staatsanwaltschaft in Cottbus ein: „Aus den Akten ergeben sich | |
| für mich keine sachlichen Gründe, die erklären, warum das Verfahren nicht | |
| gefördert wurde und warum die Ermittlungen nicht vor Beginn der Verjährung | |
| abgeschlossen werden konnten“, sagt er. Die Ermittlungen seien „höchst | |
| oberflächlich“ betrieben worden und wiesen „erhebliche Lücken“ auf, sagt | |
| er. | |
| Nicht nur im Fall Philipp, sondern auch bei anderen Einstellungsbescheiden | |
| geht die Staatsanwaltschaft nach taz-Recherchen offenbar nach einem Muster | |
| vor: Sie prüft zuvorderst auf das schwer belegbare Delikt der „Misshandlung | |
| von Schutzbefohlenen“ nach Paragraf 225 Strafgesetzbuch. Die Hürden dafür | |
| sind nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hoch. In einem | |
| Einstellungsbescheid vom März 2015 heißt es etwa: „Ein Quälen im Sinne | |
| dieser Norm ist nämlich die Verursachung länger andauernder oder sich | |
| wiederholender Schmerzen oder Leiden.“ Schmerzen, Hautabschürfungen und | |
| Hämatome reichten nicht aus, „um die Voraussetzung des Quälens zu bejahen�… | |
| ## Aussage gegen Aussage abgeglichen | |
| Die frühere Ministerin Martina Münch sieht das wohl anders. Sie hat sich | |
| bei den Kindern entschuldigt, nachdem ein Untersuchungsbericht die Zustände | |
| in den Heimen der Firma dokumentiert hatte. Diese Einrichtungen seien | |
| „überwiegend von überzogenen, schematischen und drangsalierenden | |
| Erziehungsmaßnahmen auf Kosten der dort untergebrachten Jugendlichen | |
| geprägt“ gewesen. Die Jugendlichen hätten „nicht nur die Erfahrung gemach… | |
| dass sie jederzeit Opfer von Übergriffen werden konnten – sie haben auch | |
| die Erfahrung machen müssen, dass man ihnen hinterher nicht glaubt.“ | |
| Auch Philipp musste immer wieder erleben, dass man ihm nicht glaubt. Die | |
| Polizei vernimmt ihn im November 2013, Nachvernehmungen gibt es nicht. Der | |
| Junge berichtet von vielen Körperverletzungen und Nötigungen. 14 | |
| Mitarbeiter benennt er mit Namen, zahlreiche ehemalige Heimbewohner führt | |
| er als Zeugen auf. Die Ermittler der Staatsanwaltschaft vernehmen keine von | |
| ihnen. | |
| Innerhalb von 14 Monaten, in der die Behörden die Akten auf dem Tisch | |
| haben, beschränken sich die Ermittlungen offenbar darauf, Philipps Aussagen | |
| mit den von der Haasenburg GmbH herausgegebenen Dokumenten abzugleichen. | |
| Zudem informiert die Cottbusser Behörde keinen einzigen der Beschuldigten | |
| darüber, dass gegen sie ermittelt wird. Wäre dies geschehen, wäre die | |
| Verjährung „unterbrochen“ gewesen. | |
| Ein Einzelfall? Anwalt Gericke regt in seiner Dienstaufsichtsbeschwerde | |
| gegen die zuständige Staatsanwältin an, die Generalstaatsanwaltschaft möge | |
| prüfen, wie viele weitere Verfahren aus dem Gesamtkomplex Haasenburg GmbH | |
| von der Juristin wegen einer zwischenzeitlichen Verjährung und mangels | |
| hinreichender Förderung des Verfahrens eingestellt wurden. Die | |
| Dienstaufsichtsbeschwerde prüft daraufhin der leitende Oberstaatsanwalt in | |
| Cottbus, der schon bisher die Arbeit der Kollegin verantwortet. Gefragt, | |
| warum in manchen Fällen keine Zeugen vernommen wurden, sagt dessen | |
| Sprecherin Hertwig: „Wenn keine Straftat vorliegt, brauche ich nicht zu | |
| vernehmen.“ Gefragt, wie viele Verfahren wegen Verjährung eingestellt | |
| wurden, heißt es aus Cottbus, man habe noch keine Übersicht. Die soll bis | |
| Jahresende kommen. | |
| ## Ohne Vorsatz gehandelt? | |
| Allerdings hat die Staatsanwaltschaft nach Ansicht von Philipps Anwalt | |
| einen Paragrafen übersehen: Fünf Vorfälle, bei denen Philipp von mehreren | |
| Betreuern mit Polizeigriff auf dem Boden festgehalten wurde, erfüllen laut | |
| Gericke den Tatverdacht der „gemeinschaftlichen Körperverletzung“. Die | |
| verjährt erst nach zehn Jahren. | |
| Im Oktober weist die Generalstaatsanwaltschaft die Beschwerde zurück. In | |
| ihrer Begründung übernimmt sie kommentarlos die Stellungnahme der | |
| Cottbusser Staatsanwaltschaft: Die Erzieher hätten ohne Vorsatz gehandelt. | |
| Philipp habe „Fehlverhalten“ gezeigt, er sei „beleidigend und aufbrausend… | |
| gewesen. Auch die geschilderten Verletzungen bei Philipp erschienen der | |
| Staatsanwaltschaft „bei der Anwendung des sogenannten Polizeigriffs | |
| durchaus nachvollziehbar“. Und weiter: „Dies alleine reicht jedoch nicht | |
| aus, um einen hinreichenden Tatverdacht wegen gefährlicher Körperverletzung | |
| zu begründen, da ein vorsätzliches Verhalten nicht ersichtlich ist. Es ist | |
| daher insoweit auch von der Vernehmung der Beschuldigten oder weiterer | |
| Zeugen abgesehen worden.“ | |
| Haben die Erzieher also „ohne Vorsatz“ gehandelt? Tobias Singelnstein, | |
| Juniorprofessor für Strafrecht und Strafverfahrensrecht an der FU Berlin, | |
| hält diese Argumentation für abwegig. Er sagt: „Wer eine andere Person | |
| bewusst körperlich misshandelt, beispielsweise indem er ihr schmerzhaft den | |
| Arm umdreht, erfüllt den Tatbestand der Körperverletzung. Der Vorsatz ist | |
| in so einem Fall klar gegeben.“ | |
| Ist diese Körperverletzung ausnahmsweise gerechtfertigt? Polizisten dürfen | |
| unter bestimmten Voraussetzungen solche Griffe anwenden, Mitarbeiter der | |
| Psychiatrie auch. Aber: Mitarbeiter der Jugendhilfe dürfen es nach dem | |
| Gesetz nicht. | |
| Nach Ansicht von Hannelore Häbel, Rechtswissenschaftlerin der Evangelischen | |
| Hochschule Ludwigsburg, zeugt auch die Auffassung, dass ein etwaiges | |
| „Fehlverhalten“ körperliche Übergriffe rechtfertigen würde, von | |
| mangelhaftem Rechtsverständnis. „Gewaltsames Niederringen zu | |
| Erziehungszwecken ist vom Gesetz nicht gedeckt“, sagt sie. „Ein Kind hat | |
| das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung.“ | |
| Für die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Cottbus, Petra Hertwig, ist das | |
| Strafrecht „zur Aufarbeitung dieser Angelegenheit nicht geeignet“. Man | |
| müsste andere Wege finden, „um den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu | |
| lassen oder Genugtuung“. Immerhin spricht sie von Opfern. | |
| * Name geändert | |
| 8 Dec 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Kaija Kutter | |
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