| # taz.de -- Mit Kindern über Terror sprechen: Erklären, ohne Angst zu schüren | |
| > Gedenkminuten, Polizeischutz, Gespräche im Ethikunterricht – auf die | |
| > Pariser Anschläge reagieren Schulen und Lehrkräfte unterschiedlich. | |
| Bild: Schüler nach einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der Paris-Anschlä… | |
| Berlin taz | Selten liegen Trauer und Freude so dicht beieinander wie in | |
| der Aula der Märkischen Grundschule in Berlin. In einer Ecke erinnert die | |
| Tricolore an die Anschläge in Paris, die Frankreich am 13. November so | |
| schockiert haben. Das Blau-Weiß-Rot seiner Nationalfahne dominiert den | |
| Raum. Nur wenige Zentimeter darunter das Grün des Tannenbaums, von feinen | |
| Maschen geknebelt, als gezieme sich seine volle Pracht noch nicht. | |
| Die Vorfreude auf Weihnachten, die Besinnung auf die bevorstehende | |
| Adventszeit mögen nicht so recht zur Aufgewühltheit passen, die auch | |
| Deutschland derzeit heimsucht. Es würde nicht wundern, sollte sie auch | |
| hier, in der deutsch-französischen Staatlichen Europaschule im Norden | |
| Berlins anzutreffen sein. | |
| „Die Schüler vergessen schnell, Gott sei Dank“, sagt Joachim Sauer. Der | |
| Schulleiter – dunkles Sakko, ergraute Schläfen, hohe Stirn – sitzt in | |
| seinem Büro und rekapituliert die Ereignisse dieser Schulwoche. Und ist | |
| dabei erstaunt, wie schnell der Alltag zurückgekehrt ist. Die Polizisten | |
| blieben zwei Tage. Die Elternvertretung beruhigte sich wieder, nachdem sie | |
| unmittelbar nach den Anschlägen in einer E-Mail an elementare | |
| Sicherheitsregeln erinnerte: Personen, die man nicht kenne, sollte man | |
| nicht die Tür am Haupteingang öffnen. Wer hinein möchte, müsse klingeln | |
| oder den richtigen Zahlencode eintippen. Und auch die Gedenkveranstaltung, | |
| wundert sich Sauer, liegt erst zwei Tage zurück. | |
| Am Montag kurz vor zwölf, wenige Minuten vor der europaweit begangenen | |
| Schweigeminute, sprach Schulleiter Sauer zu SchülerInnen, KollegInnen und | |
| ein paar Eltern, die sich spontan zur Gedenkfeier in der Turnhalle | |
| eingefunden hatten. Worte, die der Fassungslosigkeit des willkürlichen | |
| Mordens Ausdruck verleihen, seinen Zuhörern Mut und Zuversicht einflößen | |
| sollten. „Wir müssen nach vorne blicken. Es geht nicht anders“ – so etwa, | |
| erinnert sich Sauer. Die Hälfte der rund 350 Schüler an der zweisprachigen | |
| Europaschule stammen aus Frankreich oder einem anderen | |
| französischsprachigem Land. Bei einigen Anwesenden bemerkte der Rektor | |
| Tränen, als er aufblickte. | |
| Seitdem deutsche Sicherheitsbehörden vor Folgeanschlägen in Deutschland | |
| warnen, ist Angst auch in den Alltag vieler Deutscher eingekehrt. Und damit | |
| in die Klassenzimmer der Republik. Wie sollen die Schulen damit umgehen? | |
| Wie erklären PädagogInnen Terror, ohne selbst Angst zu schüren? | |
| ## Weinende Kinder | |
| Wer mit Lehrern und Eltern spricht, merkt schnell: Die Sorge um die eigenen | |
| Töchter und Söhne endet nicht an der Bushaltestelle vor der Schule. Und | |
| Kinder streifen ihre Gedanken nicht an der Klassentür ab wie eine | |
| Regenjacke. | |
| Manchmal bricht es aus ihnen förmlich hervor, wie bei einem 13-jährigen | |
| Jungen mit iranischen Wurzeln, der auf ein Berliner Gymnasium geht. „Mein | |
| Onkel ist vom IS getötet worden“, erzählte er seiner Klassenlehrerin. Die | |
| Terroristen hätten einen irakischen Grenzort gestürmt. Die Lehrerin wusste | |
| nicht, was sie darauf erwidern sollte. Ähnlich erging es einer Lehrerin an | |
| der Franz-Marc-Grundschule in Berlin-Tegel. Als sie mit ihrer 6. Klasse im | |
| Fach Gesellschaftswissenschaften auf die islamistischen Attentäter von | |
| Paris zu sprechen kam, musste ein muslimisches Kind weinen: „So sind wir | |
| nicht, daran glauben wir nicht, das ist falsch!“ Nach dieser Erfahrung | |
| wollte die Lehrerin das Thema nicht weiter ausweiten. | |
| Wie viele Gespräche über den Terror kann man, wie viel muss man den | |
| SchülerInnen nach dem 13. 11. zumuten? Die Berliner Bildungssenatorin | |
| Sandra Scheeres (SPD) nimmt die PädagogInnen in die Pflicht. In der | |
| aktuellen Ausgabe des monatlichen Rundschreibens Praxisinformationen wendet | |
| sie sich mit einer eindringlichen Bitte an die ihr unterstellten | |
| SchulleiterInnen: Sie sollten in den nächsten Tagen und Wochen „ausreichend | |
| Raum“ für die Thematisierung der Anschläge in ihren Schulen zur Verfügung | |
| stellen. „Warum tun Menschen anderen Menschen so was an? Kann das auch in | |
| Berlin passieren? Kommt der Terror mit den Flüchtlingen?“ Populistischen | |
| Forderungen nach Schließung der Grenzen erteilt sie in dem Vorwort eine | |
| Absage. Viele andere Antworten aber, so Scheeres, fehlten noch. Es müsse | |
| primär darum gehen, dass SchülerInnen über ihre Verunsicherung sprechen | |
| können. | |
| „Wichtig ist, dass man den Kindern ein Gefühl der Sicherheit gibt“, | |
| bestätigt Klaus Seifried. Seifried ist Leiter des Schulpsychologischen | |
| Beratungszentrums Tempelhof-Schöneberg in Berlin. Die Schulen rufen bei ihm | |
| an, wenn etwas sehr Schlimmes passiert, etwa bei Gewaltvorfällen oder | |
| Schülerkrisen bis hin zum Suizid. Bei der Einschätzung von Amokdrohungen | |
| oder der Sicherung vor Terroranschlägen wie an Sauers Europaschule wird die | |
| Polizei eingeschaltet. Bei Seifried hat sich eine Woche nach den Anschlägen | |
| von Paris jedoch nur eine Grundschulrektorin gemeldet. Sie wollte wissen, | |
| ob auch für Grundschüler eine Schweigeminute sinnvoll ist. Seifried | |
| bejahte. Viele Schulleitungen haben dies ohnehin in Eigenregie entschieden. | |
| ## Die Angst nehmen | |
| Auch Grundschulkinder bekämen mit, dass etwas Schlimmes passiert ist, | |
| begründet Seifried seinen Rat. Allein schon deshalb, weil ihre Eltern | |
| aufgeregt seien. Und weil die Medien pausenlos die entsprechenden | |
| Schreckensbilder verbreiteten. Wichtig sei, dass die Erwachsenen – Eltern | |
| und Lehrer – ihnen die Angst nähmen: „Bei uns bist du sicher!“ Mit einer | |
| diffusen Gefahr wie einem terroristischen Anschlag würde Seifried Jüngere | |
| deshalb nicht belasten. Über die Hintergründe solcher Anschläge zu reden | |
| sei bei einem Erstklässler nicht altersgerecht. | |
| Zu diesem Ergebnis kamen auch Rektor Joachim Sauer und seine Kollegen an | |
| der Europaschule. Die Klassen 1 und 2 wurden aus der Gedenkveranstaltung | |
| ausgenommen, „um sie nicht zu belasten“, sagt Sauer. Schüler in diesem | |
| Alter seien leicht „beeindruckbar“. Im Ethik-, Politik- oder | |
| Geschichtsunterricht höherer Jahrgangsstufen könne man die Attentate und | |
| ihre Folgen aber thematisieren. | |
| Über die Hintergründe des Attentats hat auch Cäcilia Völker-Klatte mit | |
| ihren SchülerInnen gesprochen. Die 54-Jährige unterrichtet Französisch und | |
| Ethik am Berliner Romain-Rolland-Gymnasium. Völker-Klatte war erstaunt, | |
| dass selbst die Jüngeren kritisch nachfragten: Warum über die Attentate in | |
| Ankara oder Beirut nicht genauso getrauert würde wie jetzt? „Paris ist | |
| jetzt nah dran“, sagt Völker-Klatte. Für sie selbst gilt das auch | |
| persönlich: Ihre Schwester lebt in Paris. Während der Anschläge war sie in | |
| einem anderen Teil der Stadt unterwegs. | |
| Völker-Klatte ist nicht die einzige Lehrkraft, der der Anschlag persönlich | |
| nahe geht. Axel Braun unterrichtet Französisch an der Friedrich-List-Schule | |
| in Karlsruhe. Braun ist mit einer Französin verheiratet und organisiert | |
| seit 24 Jahren einen Schüleraustausch mit einer Partnerschule in Nancy, | |
| gute 200 Kilometer von Karlsruhe entfernt. Noch am Wochenende erstellte | |
| Braun Arbeitsblätter für seine 12. Klasse und stellte sie der Plattform | |
| Lehrer-Online zur Verfügung (siehe Kasten): Textübungen anhand François | |
| Hollandes Rede vom Samstag, in der der französische Präsident sein Land und | |
| Europa auf den Krieg gegen den IS einschwor. „Der Aktualitätsbezug ist im | |
| Bildungsplan erwünscht und gefordert“, sagt Braun, der in Karlsruhe auch | |
| Referendare ausbildet. | |
| ## Empathie entwickeln | |
| Die Vorgaben aus dem Kultusministerium sind nur ein Grund, die Attentate zu | |
| behandeln. Der andere ist seine persönliche Verbindung zu Frankreich. Hängt | |
| der Unterricht an deutschen Schulen nach dem 13. 11. letztlich davon ab, | |
| wie nahe die Attentate der jeweiligen Lehrkraft gehen? | |
| Diesen Eindruck hat Maria Alexopoulou von der Uni Mannheim. Die | |
| Historikerin begrüßt, dass LehrerInnen globale Zusammenhänge im Unterricht | |
| ansprechen. Sie sieht darin eine Chance, mehr Empathie für Konflikte in | |
| anderen Ländern zu entwickeln. Bei der fachlichen Eignung mancher | |
| PädagogInnen ist sie skeptisch: „Wer versteht denn wirklich etwas von | |
| französischer Einwanderungsgeschichte?“ | |
| Vielleicht noch am ehesten die deutsch-französischen Schulen. An der | |
| Märkischen Grundschule sind viele Kinder aus Kamerun, Guinea und Kongo. | |
| Länder, die mit Frankreichs oder Belgiens Kolonialgeschichte verbunden | |
| sind. Gemeinsam mit ihren deutschen und französischen KlassenkameradInnen | |
| haben sie bunte Bilder gemalt, die in der Aula ausgestellt sind. | |
| Blau-weiß-rot, mit Blumen und Schmetterlingen. Als Vorlage diente der als | |
| Peace-Symbol stilisierte Eiffelturm. Auf einem Bild stehen in gekrakelten | |
| Lettern die Wörter „paix“ und Frieden – in beiden Sprachen. | |
| 29 Nov 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Ralf Pauli | |
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